Sechste Bemerkung

[135] Schlagen wir mit Herrn Proudhon den Querpfad ein.

Wir wollen annehmen, daß die ökonomischen Beziehungen, als unwandelbare Gesetze, als ewige Prinzipien, als ideale Kategorien betrachtet, früher da waren als die tätigen und handelnden Menschen; wir wollen sogar annehmen, daß diese Gesetze, diese Prinzipien, diese Kategorien von Anbeginn der Zeit an »in der unpersönlichen Vernunft der Menschheit« geschlummert haben. Wir haben bereits gesehen, daß es bei diesen unwandelbaren, unveränderlichen Ewigkeiten keine Geschichte mehr gibt; es gibt höchstens eine Geschichte in der Idee, d.h. die Geschichte, die sich in der dialektischen Bewegung der reinen Vernunft abspiegelt. Damit aber, daß Herr Proudhon sagt, in der dialektischen Bewegung »differenzierten« sich die Ideen nicht mehr, hat er sowohl den Schatten der Bewegung wie die Bewegung der Schatten ausgestrichen, mittelst deren man noch allenfalls etwas hätte zuwege bringen können, was nach Geschichte aussieht. Statt dessen schiebt er der Geschichte seine eigene Ohnmacht in die Schuhe, er schiebt die Schuld auf alles, sogar auf die französische Sprache.

»Es stimmt also nicht genau«, sagt Herr Proudhon, der Philosoph, »wenn man sagt, daß irgend etwas sich ereignet, daß irgend etwas produziert wird: In der Zivilisation wie im Weltall existiert alles, wirkt alles von jeher... Es verhält sich ebenso mit der ganzen Sozialökonomie.« (Bd. II, S. 102.)

So gewaltig ist die schöpferische Kraft der Widersprüche, die auf Herrn Proudhon wirken und ihn wirken machen, daß er da, wo er die Geschichte[135] erklären will, sich gezwungen sieht, sie zu leugnen, daß, wo er die Aufeinanderfolge der sozialen Verhältnisse erklären will, er leugnet, daß etwas sich ereignen kann, daß, wo er die Produktion in allen ihren Phasen erklären will, er bestreitet, daß etwas produziert werden kann.

So gibt es für Herrn Proudhon weder Geschichte noch Aufeinanderfolge der Ideen, und doch ist sein Buch noch da; und just dieses Buch ist, nach seinen eigenen Worten, »die Geschichte nach der Aufeinanderfolge der Ideen«. Wie eine Formel finden – denn Herr Proudhon ist der Mann der Formeln –, die ihm erlaubt, mit einem Sprung über all seine Widersprüche hinwegzusetzen?

Zu diesem Zweck hat er eine neue Vernunft erfunden, die weder die reine und jungfräuliche absolute Vernunft noch die gemeine Vernunft der in den verschiedenen Jahrhunderten auftretenden und handelnden Menschen ist, sondern eine ganz absonderliche Vernunft, die Vernunft der Gesellschaft als Person, der Menschheit als Subjekt, die unter der Feder des Herrn Proudhon auch zuweilen als »Genius der Gesellschaft«, als »allgemeine Vernunft«, und in letzter Linie »Vernunft der Menschheit« sich vorführt. Diese, mit soviel Namen ausstaffierte Vernunft verrät sich jedoch bei jeder Gelegenheit als die individuelle Vernunft des Herrn Proudhon mit ihrer guten und ihrer schlechten Seite, ihren Gegengiften und ihren Problemen.

»Die menschliche Vernunft schafft nicht die Wahrheit«, die in den Tiefen der absoluten, ewigen Vernunft sich verbirgt. Sie kann sie nur enthüllen. Aber die Wahrheiten, die sie bis jetzt enthüllt hat, sind unvollständig, unzulänglich und folglich widersprechend. Somit sind auch die ökonomischen Kategorien selbst nur von der Vernunft der Menschheit, von dem Genius der Gesellschaft entdeckte und enthüllte Wahrheiten, weshalb sie ebenfalls unvollständig sind und den Keim des Widerspruchs in sich tragen. Vor Herrn Proudhon sah der Genius der Gesellschaft nur die gegensätzlichen Elemente, nicht aber die einheitliche synthetische Formel, die beide gleichzeitig in der absoluten Vernunft stecken. Die ökonomischen Verhältnisse sind aber nichts anderes als die Verwirklichung auf Erden dieser unzulänglichen Wahrheiten, dieser unvollständigen Kategorien, dieser sich widersprechenden Begriffe, und deshalb sind auch sie in sich widerspruchsvoll und bieten die beiden Seiten dar, von denen die eine gut, die andere schlecht ist.

Die ganze Wahrheit, den Begriff in seiner ganzen Fülle, die synthetische Formel, die den Widerspruch aufhebt, zu finden, das ist die Aufgabe des Genius der Gesellschaft. Deshalb ist auch in der Einbildung des Herrn Proudhon dieser selbe Genius der Gesellschaft von einer Kategorie zur anderen herumgejagt worden, ohne daß er es bisher mit der ganzen Batterie[136] seiner Kategorien fertiggebracht hätte, Gott, der absoluten Vernunft, eine synthetische Formel abzuringen.

»Zuerst stellt die Gesellschaft (der Genius der Gesellschaft) ein erstes Faktum, eine erste Hypothese auf ..., eine wahrhafte Antinomie, deren gegensätzliche Resultate sich in der sozialen Ökonomie in derselben Art entwickeln, wie ihre Konsequenzen im Geiste hätten abgeleitet werden können; so daß die industrielle Entwicklung, durchaus der Ableitung der Ideen folgend, sich in zwei Richtungen teilt, die der nützlichen und die der zerstörenden Wirkungen ... Um dieses Prinzip mit doppeltem Antlitz harmonisch zu konstituieren und diesen Widerspruch aufzuheben, läßt die Gesellschaft aus demselben einen zweiten hervorgehen, dem bald ein dritter folgt, und dies wird der Weg des Genius der Gesellschaft sein, bis er nach Erschöpfung aller seiner Widersprüche – ich setze voraus, was jedoch nicht bewiesen ist, daß der Widerspruch in der Menschheit einmal ein Ende haben werde – mit einem Sprung auf alle seine früheren Positionen zurückkommt und alle seine Aufgaben in einer einzigen Formel löst.« (Bd. I, S. 133.)

Wie früher sich der Gegensatz in ein Gegengift verwandelte, so wird jetzt die These zur Hypothese. Dies Vertauschen der Worte kann uns bei Herrn Proudhon nicht wundernehmen. Die Vernunft der Menschheit, die nichts weniger als rein, da ihr Gesichtskreis beschränkt ist, stößt mit jedem Schritt auf neue zu lösende Aufgaben. Jede neue These, die sie in der absoluten Vernunft entdeckt und die die Negation der vorhergehenden These ist, wird für sie zur Synthese, die sie ziemlich naiv für die Lösung der in Frage stehenden Aufgabe nimmt. So quält sich diese Vernunft in stets neuen Widersprüchen ab, bis sie am Ende dieser Widersprüche anlangt und merkt, daß alle ihre Thesen und Synthesen nichts anderes sind als sich widersprechende Hypothesen. In ihrer Verblüfftheit »kommt die menschliche Vernunft, der Genius der Gesellschaft, mit einem Sprung auf alle seine früheren Positionen zurück und löst alle seine Aufgaben in einer einzigen Formel«. Diese einzige Formel bildet beiläufig die veritable Entdeckung des Herrn Proudhon. Sie ist der konstituierte Wert.

Man macht Hypothesen nur im Hinblick auf ein bestimmtes Ziel. Das Ziel, welches sich der Genius der Gesellschaft, der durch den Mund des Herrn Proudhon spricht, in erster Linie setzte, war die Ausmerzung des Schlechten aus jeder ökonomischen Kategorie, um nur Gutes übrigzubehalten. Für ihn ist dies Gute das höchste Gut, das wahre praktische Ziel – die Gleichheit. Und warum zog der Genius der Gesellschaft die Gleichheit der Ungleichheit, der Brüderlichkeit, dem Katholizismus, kurz jedem andern Prinzip vor? Weil »die Menschheit eine solche Anzahl besonderer Hypothesen[137] nacheinander verwirklicht hat, nur mit Rücksicht auf eine höhere Hypothese«, die eben die Gleichheit ist. Mit anderen Worten: weil die Gleichheit das Ideal des Herrn Proudhon ist. Er bildet sich ein, daß die Teilung der Arbeit, der Kredit, die Kooperation in der Werkstatt, kurz alle ökonomischen Verhältnisse nur erfunden worden sind zum Besten der Gleichheit, und doch sind sie schließlich stets zu ihrem Schaden ausgefallen. Wenn die Geschichte und die Fiktion des Herrn Proudhon einander auf Schritt und Tritt widersprechen, so schließt dieser, daß ein Widerspruch besteht. Wenn aber ein Widerspruch besteht, so besteht er nur zwischen seiner fixen Idee und den wirklichen Vorgängen.

Von jetzt ab ist die gute Seite eines ökonomischen Verhältnisses stets diejenige, welche die Gleichheit bekräftigt, die schlechte diejenige, welche sie verneint und die Ungleichheit stärkt. Jede neue Kategorie ist eine Hypothese des Genius der Gesellschaft behufs Ausmerzung der von der vorhergehenden Hypothese geschaffenen Ungleichheit. Mit einem Wort: Die Gleichheit ist die ursprüngliche Absicht, die mystische Tendenz, das providentielle Ziel, welches der Genius der Gesellschaft beständig vor Augen hat, indem er sich im Zirkel der ökonomischen Widersprüche herumdreht. Daher ist auch die Vorsehung die Lokomotive, die das ökonomische Rüstzeug des Herrn Proudhon besser in Gang bringt als seine luftige, reine Vernunft. Er hat der Vorsehung ein ganzes Kapitel gewidmet, welches auf das über die Steuern folgt.

Vorsehung, providentielles Ziel, das ist das große Wort, dessen man sich heute bedient, um den Gang der Geschichte zu erklären. Tatsächlich erklärt dieses Wort nichts. Es ist höchstens eine rhetorische Form, eine der vielen Arten, die Tatsachen zu umschreiben.

Es ist Tatsache, daß der Grundbesitz in Schottland durch die Entwicklung der Industrie neuen Wert erhielt, diese Industrie eröffnete der Wolle neue Märkte. Um die Wolle im großen Maßstabe zu produzieren, mußte man das Ackerland in Weideland verwandeln. Um diese Umwandlung zu bewirken, mußte man die Güter konzentrieren. Um die Güter zu konzentrieren, mußte man die kleinen Pachtungen abschaffen. Tausende von Pächtern aus ihrer Heimat verjagen und an ihre Stelle einige Hirten setzen, die Millionen von Schafen bewachen. So hatte der Grundbesitz in Schottland infolge sukzessiver Umwandlungen das Resultat, daß Menschen durch Hammel verdrängt wurden. Man sage jetzt, daß es das providentielle Ziel der Institution des Grundbesitzes in Schottland war, Menschen durch Hammel verdrängen zu lassen, und man hat providentielle Geschichte getrieben.[138]

Gewiß, die Tendenz zur Gleichheit ist unserem Jahrhundert eigen. Wer nun sagt, daß die vorhergegangenen Jahrhunderte mit vollständig verschiedenen Bedürfnissen, Produktionsmitteln etc. providentiell für die Verwirklichung der Gleichheit wirkten, der substituiert zunächst die Mittel und die Menschen unseres Jahrhunderts den Menschen und Mitteln der früheren Jahrhunderte und verkennt die historische Bewegung, mittelst derer die aufeinanderfolgenden Generationen die von den ihnen vorhergehenden Generationen erreichten Resultate umformten. Die Ökonomen wissen sehr gut, daß dasselbe Ding, das für den einen verarbeitetes Produkt, für den anderen nur Rohmaterial zu neuer Produktion ist.

Man nehme an, wie Herr Proudhon es tut, daß der Genius der Gesellschaft die Feudalherren in der providentiellen Absicht geschaffen oder vielmehr improvisiert habe, die Zinsbauern in verantwortliche und gleichheitliche Arbeiter zu verwandeln, und man wird eine Unterschiebung von Zielen und Personen vollzogen haben, würdig der Vorsehung, welche in Schottland das Grundeigentum einführte, um sich das böswillige Vergnügen zu machen, Menschen durch Hammel zu ersetzen.

Da aber Herr Proudhon ein so zärtliches Interesse für die Vorsehung empfindet, so verweisen wir ihn auf die, »Geschichte der politischen Ökonomie« des Herrn de Villeneuve-Bargemont, der gleichfalls einem providentiellen Ziel nachläuft. Dieses Ziel ist nicht mehr die Gleichheit, sondern der Katholizismus.

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1959, Band 4, S. 135-139.
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