3. Seniors »Letzte Stunde«

[237] An einem schönen Morgen des Jahres 1836 wurde der wegen seiner ökonomischen Wissenschaft und seines schönen Stils berufene Nassau W. Senior, gewissermaßen der Clauren unter den englischen Ökonomen, von Oxford nach Manchester zitiert, um hier politische Ökonomie zu[237] lernen, statt sie in Oxford zu lehren. Die Fabrikanten erkoren ihn zum Preisfechter gegen den neulich erlaßnen Factory Act und die darüber noch hinausstrebende Zehnstundenagitation. Mit gewohntem praktischen Scharfsinn hatten sie erkannt, daß der Herr Professor »wanted a good deal of finishing«. Sie verschrieben ihn daher nach Manchester. Der Herr Professor seinerseits hat die zu Manchester von den Fabrikanten erhaltne Lektion stilisiert in dem Pamphlet: »Letters on the Factory Act, as it affects the cotton manufacture«, London 1837. Hier kann man u. a. folgendes Erbauliche lesen:

»Unter dem gegenwärtigen Gesetz kann keine Fabrik, die Personen unter 18 Jahren beschäftigt, länger als 11 1/2 Stunden täglich arbeiten, d.h. 12 Stunden während der ersten 5 Tage und 9 Stunden am Sonnabend. Die folgende Analyse (!) zeigt nun, daß in einer solchen Fabrik der ganze Reingewinn von der letzten Stunde abgeleitet ist. Ein Fabrikant legt 100000 Pfd. St. aus – 80000 Pfd. St. in Fabrikgebäude und Maschinen, 20000 in Rohmaterial und Arbeitslohn. Der jährliche Umsatz der Fabrik, vorausgesetzt, das Kapital schlage jährlich einmal um und der Bruttogewinn betrage 15%, muß sich auf Waren zum Wert von 115000 Pfd. St. belaufen... Von diesen 115000 Pfd. St. produziert jede der 23 halben Arbeitsstunden täglich 5/115 oder 1/23. Von diesen 23/23, die das Ganze der 115000 Pfd. St. bilden (constituting the whole 115000 Pfd. St.). ersetzen 20/23, d.h. 100000 von den 115000, nur das Kapital; 1/23 oder 5000 Pfd. St. von den 15000 Brutto-Gewinn (!) ersetzen die Abnutzung der Fabrik und Maschinerie. Die übrigbleibenden 2/23, d.h. die beiden letzten halben Stunden jedes Tages produzierenden Reingewinn von 10%. Wenn daher bei gleichbleibenden Preisen die Fabrik 13 Stunden statt 11 1/2 arbeiten dürfte, so würde, mit einer Zulage von ungefähr 2600 Pfd. St. zum zirkulierenden Kapital, der Reingewinn mehr als verdoppelt werden. Andrerseits, wenn die Arbeitsstunden täglich um 1 Stunde reduziert würden, würde der Reingewinn verschwinden, wenn um 1 1/2 Stunden, auch der Bruttogewinn.«213[238]

Und das nennt der Herr Professor eine »Analyse«! Glaubte er den Fabrikantenjammer, daß die Arbeiter die beste Zeit des Tags in der Produktion, daher der Reproduktion oder dem Ersatz des Werts von Baulichkeiten, Maschinen, Baumwolle, Kohle usw. vergeuden, so war jede Analyse überflüssig. Er hatte einfach zu antworten: Meine Herren! Wenn ihr 10 Stunden arbeiten laßt statt 11 1/2, wird, unter sonst gleichbleibenden Umständen, der tägliche Verzehr von Baumwolle, Maschinerie usw. um 1 1/2 Stunden abnehmen. Ihr gewinnt also grade so viel, als ihr verliert. Eure Arbeiter werden in Zukunft 1 1/2 Stunden weniger für Reproduktion oder Ersatz des vorgeschoßnen Kapitalwerts vergeuden. Glaubte er ihnen nicht aufs Wort, sondern hielt als Sachverständiger eine Analyse für nötig, so mußte er vor allem, in einer Frage, die sich ausschließlich um das Verhältnis des Reingewinns zur Größe des Arbeitstags dreht, die Herren Fabrikanten ersuchen, Maschinerie und Fabrikgebäude, Rohmaterial und Arbeit nicht kunterbunt durcheinanderzuwirren, sondern gefälligst das in Fabrikgebäude, Maschinerie, Rohmaterial usw. enthaltne konstante Kapital auf die eine, das in Arbeitslohn vorgeschoßne Kapital auf die andre Seite zu stellen. Ergab sich dann etwa, daß nach der Fabrikantenrechnung der Arbeiter in 2/2 Arbeitsstunden, oder in einer Stunde, den Arbeitslohn reproduziert oder ersetzt, so hatte der Analytiker fortzufahren:

Nach eurer Angabe produziert der Arbeiter in der vorletzten Stunde seinen Arbeitslohn und in der letzten euren Mehrwert oder den Reingewinn. Da er in gleichen Zeiträumen gleiche Werte produziert, hat das Produkt der vorletzten Stunde denselben Wert wie das der letzten. Er produziert ferner nur Wert, soweit er Arbeit verausgabt, und das Quantum[239] seiner Arbeit ist gemessen durch seine Arbeitszeit. Diese beträgt nach eurer Angabe 11 1/2 Stunden per Tag. Einen Teil dieser 11 1/2 Stunden verbraucht er zur Produktion oder zum Ersatz seines Arbeitslohns, den andren zur Produktion eures Reingewinns. Weiter tut er nichts während des Arbeitstags. Da aber, nach Angabe, sein Lohn und der von ihm gelieferte Mehrwert gleich große Werte sind, produziert er offenbar seinen Arbeitslohn in 5 3/4 Stunden und euren Reingewinn in andren 5 3/4 Stunden. Da ferner der Wert des zweistündigen Garnprodukts gleich der Wertsumme seines Arbeitslohns plus eures Reingewinns ist, muß dieser Garnwert durch 11 1/2 Arbeitsstunden gemessen sein, das Produkt der vorletzten Stunde durch 5 3/4 Arbeitsstunden, das der letzten ditto. Wir kommen jetzt zu einem häklichen Punkt. Also aufgepaßt! Die vor letzte Arbeitsstunde ist eine gewöhnliche Arbeitsstunde wie die erste. Ni plus, ni moins. Wie kann der Spinner daher in einer Arbeitsstunde einen Garnwert produzieren, der 5 3/4 Arbeitsstunden darstellt? Er verrichtet in der Tat kein solches Wunder. Was er in einer Arbeitsstunde an Gebrauchswert produziert, ist ein bestimmtes Quantum Garn. Der Wert dieses Garns ist gemessen durch 5 3/4 Arbeitsstunden, wovon 4 3/4 ohne sein Zutun in den stündlich verzehrten Produktionsmitteln stecken, in Baumwolle, Maschinerie usw., 4/4 oder eine Stunde von ihm selbst zugesetzt ist. Da also sein Arbeitslohn in 5 3/4 Stunden produziert wird und das Garnprodukt einer Spinnstunde ebenfalls 5 3/4 Arbeitsstunden enthält, ist es durchaus keine Hexerei, daß das Wertprodukt seiner 5 3/4 Spinnstunden gleich dem Produktenwert einer Spinnstunde. Ihr seid aber durchaus auf dem Holzweg, wenn ihr meint, er verliere ein einziges Zeitatom seines Arbeitstags mit der Reproduktion oder dem »Ersatz« der Werte von Baumwolle, Maschinerie usw. Dadurch, daß seine Arbeit aus Baumwolle und Spindel Garn macht, dadurch, daß er spinnt, geht der Wert von Baumwolle und Spindel von selbst auf das Garn über. Es ist dies der Qualität seiner Arbeit geschuldet, nicht ihrer Quantität. Allerdings wird er in einer Stunde mehr Baumwollwert usw. auf Garn übertragen als in 1/2 Stunde, aber nur weil er in 1 Stunde mehr Baumwolle verspinnt als in 1/2. Ihr begreift also: Euer Ausdruck, der Arbeiter produziert in der vorletzten Stunde den Wert seines Arbeitslohns und in der letzten den Reingewinn, heißt weiter nichts, als daß in dem Garnprodukt von zwei Stunden seines Arbeitstags, ob sie vorn oder hinten stehen, 11 1/2 Arbeitsstunden verkörpert sind, grade so viel Stunden, als sein ganzer Arbeitstag zählt. Und der Ausdruck, daß er in den ersten 5 3/4 Stunden seinen[240] Arbeitslohn und in den letzten 5 3/4 Stunden euren Reingewinn produziert, heißt wieder nichts, als daß ihr die ersten 5 3/4 Stunden zahlt und die letzten 5 3/4 Stunden nicht zahlt. Ich spreche von Zahlung der Arbeit, statt der Arbeitskraft, um euren slang zu reden. Vergleicht ihr Herren nun das Verhältnis der Arbeitszeit, die ihr zahlt, zur Arbeitszeit, die ihr nicht zahlt, so werdet ihr finden, daß es halber Tag zu halbem Tag ist, also 100%, was allerdings ein artiger Prozentsatz. Es unterliegt auch nicht dem geringsten Zweifel, daß, wenn ihr eure »Hände« statt 11 1/2 Stunden 13 abschanzt und, was euch so ähnlich sieht wie ein Ei dem andren, die überschüssigen 1 1/2 Stunden zur bloßen Mehrarbeit schlagt, letztre von 5 3/4 Stunden auf 7 1/4 Stunden wachsen wird, die Rate des Mehrwerts daher von 100% auf 126 2/23%. Dagegen seid ihr gar zu tolle Sanguiniker, wenn ihr hofft, sie werde durch den Zusatz von 1 1/2 Stunden von 100 auf 200% und gar mehr als 200% steigen, d.h. sich »mehr als verdoppeln«. Andrerseits – des Menschen Herz ist ein wunderlich Ding, namentlich wenn der Mensch sein Herz im Beutel trägt – seid ihr gar zu verrückte Pessimisten, wenn ihr fürchtet, mit der Reduktion des Arbeitstags von 11 1/2 auf 10 1/2 Stunden werde euer ganzer Reingewinn in die Brüche gehn. Beileibe nicht. Alle andren Umstände als gleichbleibend vorausgesetzt, wird die Mehrarbeit von 5 3/4 auf 4 3/4 Stunden fallen, was immer noch eine ganz erkleckliche Rate des Mehrwerts gibt, nämlich 82 14/23%. Die verhängnisvolle »letzte Stunde« aber, von der ihr mehr gefabelt habt als die Chiliasten vom Weltuntergang, ist »all bosh«. Ihr Verlust wird weder euch den »Reingewinn« noch den von euch verarbeiteten Kindern beiderlei Geschlechts die »Seelenreinheit« kosten.214[241]

Wenn einmal euer »letztes Stündlein« wirklich schlägt, denkt an den Professor von Oxford. Und nun: In einer beßren Welt wünsch' ich mir[242] mehr von eurem werten Umgang. Addio!215... Das Signal der von Senior 1836 entdeckten »letzten Stunde« ward am 15. April 1848, polemisch gegen das Zehnstundengesetz, von James Wilson, einem der ökonomischen Hauptmandarine, im »London Economist« von neuem geblasen.

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1962, Band 23, S. 237-243.
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