Kritische Randglosse Nr. I

[32] Wie die erste Kritik jeder Wissenschaft notwendig in Voraussetzungen der Wissenschaft, die sie bekämpft, befangen ist, so ist Proudhons Werk »Qu'est-ce que la propriété?« die Kritik der Nationalökonomie vom Standpunkt der Nationalökonomie aus. – Auf die juristische Partie des Buches, welche das Recht vom Standpunkt des Rechts aus kritisiert, brauchen wir hier nicht näher einzugehen, da die Kritik der Nationalökonomie das Hauptinteresse bildet. – Das Proudhonsche Werk wird also wissenschaftlich überschritten durch die Kritik der Nationalökonomie, auch der Nationalökonomie, wie sie in der Proudhonschen Fassung erscheint. Diese Arbeit ist erst durch Proudhon selbst möglich geworden, wie Proudhons Kritik die Kritik des Merkantilsystems durch die Physiokraten, die der Physiokraten durch Adam Smith, die des Adam Smith durch Ricardo sowie die Arbeiten Fouriers und Saint-Simons zu Voraussetzungen hat.

Alle Entwicklungen der Nationalökonomie haben das Privateigentum zur Voraussetzung. Diese Grundvoraussetzung gilt ihr als unumstößliche Tatsache, die sie keiner weiteren Prüfung unterwirft, ja auf welche sie, wie Say naiv gesteht, nur »accidentellement« zu sprechen kömmt. Proudhon nun[32] unterwirft die Basis der Nationalökonomie, das Privateigentum, einer kritischen Prüfung, und zwar der ersten entschiednen, rücksichtslosen und zugleich wissenschaftlichen Prüfung. Dies ist der große wissenschaftliche Fortschritt, den er gemacht hat, ein Fortschritt, der die Nationalökonomie revolutioniert und eine wirkliche Wissenschaft der Nationalökonomie erst möglich macht. Proudhons Schrift »Qu'est-ce que la propriété?« hat dieselbe Bedeutung für die moderne Nationalökonomie, welche Sieyès' Schrift »Qu'est-ce que le triers état?« für die moderne Politik hat.

Wenn Proudhon die weiteren Gestaltungen des Privateigentums, z.B. Arbeitslohn, Handel, Wert, Preis, Geld etc. nicht, wie es z.B. in den »Deutsch-Französischen Jahrbüchern« geschehen ist (siehe die »Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie« von F. Engels), selbst als Gestaltungen des Privateigentums faßt, sondern mit diesen nationalökonomischen Voraussetzungen die Nationalökonomen bestreitet, so entspricht dies ganz seinem oben bezeichneten, historisch gerechtfertigten Standpunkt.

Die Nationalökonomie, welche die Verhältnisse des Privateigentums für menschliche und vernünftige Verhältnisse hinnimmt, bewegt sich in einem fortwährenden Widerspruch gegen ihre Grundvoraussetzung, das Privateigentum, in einem analogen Widerspruche wie der Theologe, der die religiösen Vorstellungen beständig menschlich interpretiert und eben dadurch gegen seine Grundvoraussetzung, die Übermenschlichkeit der Religion, beständig verstößt. So tritt in der Nationalökonomie der Arbeitslohn im Anfang als der proportionierte Anteil auf, der der Arbeit am Produkt gebührt. Arbeitslohn und Gewinn des Kapitals stehn im freundschaftlichsten, wechselweise sich fördernden, scheinbar menschlichsten Verhältnisse zueinander. Hinterher zeigt es sich, daß sie in dem feindschaftlichsten, in umgekehrtem Verhältnis zueinander stehn. Der Wert ist im Anfang scheinbar vernünftig bestimmt, durch die Produktionskosten einer Sache und durch ihre gesellschaftliche Nützlichkeit. Hinterher zeigt es sich, daß der Wert eine rein zufällige Bestimmung ist, die in gar keinem Verhältnis weder zu den Produktionskosten noch zu der gesellschaftlichen Nützlichkeit zu stehen braucht. Die Größe des Arbeitslohns wird im Anfang durch die freie Übereinkunft zwischen dem freien Arbeiter und dem freien Kapitalisten bestimmt. Hinterher zeigt es sich, daß der Arbeiter gezwungen ist, ihn bestimmen zu lassen, wie der Kapitalist gezwungen ist, ihn so niedrig als möglich zu setzen. An die Stelle der Freiheit der kontrahierenden Partei ist der Zwang getreten. Ebenso verhält es sich mit dem Handel und mit allen übrigen nationalökonomischen[33] Verhältnissen. Die Nationalökonomen fühlen selbst gelegentlich diese Widersprüche, und die Entwicklung derselben bildet den Hauptgehalt ihrer wechselseitigen Kämpfe. Wo sie ihnen aber zum Bewußtsein kommen, greifen sie selbst das Privateigentum in irgendeiner partiellen Gestalt als Verfälscher des an sich, nämlich in ihrer Vorstellung, vernünftigen Arbeitslohns, des an sich vernünftigen Werts, des an sich vernünftigen Handels an. So polemisiert Adam Smith gelegentlich gegen die Kapitalisten, Destutt de Tracy gegen die Wechsler, so Simonde de Sismondi gegen das Fabriksystem, so Ricardo gegen das Grundeigentum, so fast alle modernen Nationalökonomen gegen die nichtindustriellen Kapitalisten, in welchen das Eigentum als bloßer Konsument erscheint.

Die Nationalökonomen machen also bald ausnahmsweise – namentlich wenn sie irgendeinen speziellen Mißbrauch angreifen – den Schein des Menschlichen an den ökonomischen Verhältnissen geltend, bald aber und im Durchschnitt fassen sie diese Verhältnisse gerade in ihrem offen ausgesprochenen Unterschied vom Menschlichen, in ihrem strikt ökonomischen Sinn. In diesem Widerspruch taumeln sie bewußtlos umher.

Proudhon nun hat dieser Bewußtlosigkeit ein für allemal ein Ende gemacht. Er hat den menschlichen Schein der nationalökonomischen Verhältnisse ernst genommen und ihrer unmenschlichen Wirklichkeit schroff gegenübergestellt. Er hat sie gezwungen, das in der Wirklichkeit zu sein, was sie in ihrer Vorstellung von sich sind, oder vielmehr ihre Vorstellung von sich aufzugeben und ihre wirkliche Unmenschlichkeit einzugestehen. Er hat daher konsequent nicht diese oder jene Art des Privateigentums, wie die übrigen Nationalökonomen, auf partielle Weise, sondern das Privateigentum schlechthin auf universelle Weise als den Verfälscher der nationalökonomischen Verhältnisse dargestellt. Er hat alles geleistet, was die Kritik der Nationalökonomie von nationalökonomischem Standpunkte aus leisten kann.

Herr Edgar, der den Standpunkt der Schrift »Qu'est-ce que la propriété?« charakterisieren will, redet natürlich kein Wort weder von der Nationalökonomie noch von dem unterscheidenden Charakter jener Schrift, der eben darin besteht, die Frage nach dem Wesen des Privateigentums zur Lebensfrage der Nationalökonomie und Jurisprudenz gemacht zu haben. Der kritischen Kritik versteht sich das alles von selbst. Proudhon hat nichts Neues mit seiner Negation des Privateigentums getan. Er hat nur ein von der kritischen Kritik verschwiegenes Geheimnis ausgeplaudert.

»Proudhon«, fährt Herr Edgar unmittelbar nach seiner charakterisierenden Übersetzung fort, »findet also etwas Absolutes, eine ewige Grundlage in der Geschichte, einen Gott, der die Menschheit lenkt, die Gerechtigkeit.«[34]

Proudhons französische Schrift vom Jahre 1840 steht nicht auf dem Standpunkt der deutschen Entwicklung vom Jahre 1844. Das ist Proudhons Standpunkt, ein Standpunkt, den eine Unzahl ihm diametral entgegenstehender französischer Schriftsteller teilt, der also der kritischen Kritik den Vorteil gewährt, die entgegengesetztesten Standpunkte mit einem und demselben Federstrich charakterisiert zu haben. Man braucht übrigens nur das von Proudhon selbst aufgestellte Gesetz, die Verwirklichung der Gerechtigkeit durch ihre Negation, konsequent durchzuführen, um auch dieses Absoluten in der Geschichte überhoben zu sein. Wenn Proudhon nicht bis zu dieser Konsequenz fortgeht, so verdankt er dies dem Unglück, als Franzose und nicht als Deutscher geboren zu sein.

Für Herrn Edgar ist Proudhon durch das Absolute in der Geschichte, den Glauben an die Gerechtigkeit, zu einem theologischen Gegenstand geworden, und die kritische Kritik, welche ex professo Kritik der Theologie ist, kann sich seiner nun bemächtigen, um sich über die »religiösen Vorstellungen« auszulassen.

»Es ist das Charakteristische jeder religiösen Vorstellung, daß sie das Dogma eines Zustandes aufstellt, in welchem am Ende der eine Gegensatz als der siegreiche und allein wahre dasteht.«

Wir werden sehn, wie die religiöse kritische Kritik das Dogma eines Zustandes aufstellt, in welchem am Ende der eine Gegensatz, »die Kritik«, über den andern, »die Masse«, als alleinige Wahrheit den Sieg davonträgt. Proudhon beging aber ein um so größeres Unrecht, in der massenhaften Gerechtigkeit ein Absolutes, einen Gott der Geschichte zu erblicken, als die gerechte Kritik sich selbst die Rolle dieses Absoluten, dieses Gottes in der Geschichte ausdrücklich vorbehalten hat.

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1957, Band 2, S. 32-35.
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