1. Die kritische Masse

[152] Où peut-on être mieux

Qu'au sein de sa famille?


Die kritische Kritik in ihrem absoluten Dasein als Herr Bruno hat die Menschheit in Masse, die ganze Menschheit, die nicht kritische Kritik ist, für ihren Gegensatz erklärt, für ihren wesentlichen Gegenstand, wesentlich, weil die Masse ad majorem gloriam dei, der Kritik, des Geistes, vorhanden, Gegenstand, weil sie die bloße Materie der kritischen Kritik ist. Die kritische Kritik hat ihr Verhältnis zur Masse als das welthistorische Verhältnis der Gegenwart proklamiert.

Man bildet indessen noch keinen welthistorischen Gegensatz durch die Erklärung, sich im Gegensatz zu der ganzen Welt zu befinden. Man kann sich einbilden, der Stein des allgemeinen Anstoßes zu sein, weil man aus Ungeschick allgemein anstößt. Zu einem welthistorischen Gegensatz gehört nicht nur, daß ich die Welt für meinen Gegensatz erkläre, sondern daß anderseits die Welt mich für ihren wesentlichen Gegensatz erklärt, als solchen behandelt und anerkennt. Diese Anerkennung verschafft sich die kritische Kritik durch die Korrespondenz, welche den Beruf hat, das kritische Erlöseramt wie das allgemeine Ärgernis der Welt an dem kritischen Evangelium vor der Welt zu bezeugen. Die kritische Kritik ist sich selbst Gegenstand als Gegenstand der Welt. Die Korrespondenz soll sie als solchen zeigen, als gegenwärtiges Weltinteresse.

Die kritische Kritik gilt sich als absolutes Subjekt. Das absolute Subjekt bedarf des Kultus. Zum wirklichen Kultus gehören dritte gläubige Individuen.[152] Die heilige Familie zu Charlottenburg empfängt daher den gebührenden Kultus von ihren Korrespondenten. Die Korrespondenten sagen ihr, was sie ist und was ihr Gegner, die Masse, nicht ist.

Indem auf diese Weise die Meinung der Kritik von sich selbst als Meinung der Welt dargestellt, indem ihr Begriff verwirklicht wird, verfällt sie allerdings der Inkonsequenz. Innerhalb ihrer selbst zeigt sich eine Art von Massenbildung, nämlich die Bildung einer kritischen Masse, welche den einsilbigen Beruf hat, das unermüdliche Echo der kritischen Stichwörter zu sein. Der Konsequenz wegen ist diese Inkonsequenz verzeihlich. Die kritische Kritik, die nicht in der sündigen Welt zu Hause ist, muß in ihrem eignen Hause eine sündige Welt etablieren.

Der Korrespondent der kritischen Kritik, das Glied der kritischen Masse, wandelt nicht auf Rosen. Sein Weg ist ein schwieriger, dornenvoller, ein kritischer Weg. Die kritische Kritik ist ein spiritualistischer Herr, reine Spontaneität, actus purus, intolerant gegen jede Einwirkung von außen. Der Korrespondent darf also nur ein Scheinsubjekt sein, nur zum Schein sich selbständig zur kritischen Kritik verhalten, nur scheinbar ihr etwas Neues und Eignes mitteilen wollen. In Wahrheit ist er ihr eignes Machwerk, das nur für einen Augenblick vergegenständlichte und verselbständigte Vernehmen ihrer selbst.

Die Korrespondenten verfehlen daher nicht, unaufhörlich zu versichern, daß die kritische Kritik selbst weiß, einsieht, kennt, begreift, erfährt, was ihr in demselben Augenblick zum Schein mitgeteilt wird. So braucht z.B. Zerrleder die Wendungen: »Begreifen Sie es? Sie wissen. Sie wissen zum zweiten und dritten Mal. Sie werden nun genug gehört haben, um selbst einsehen zu können.«

So der Breslauer Korrespondent Fleischhammer: »Daß aber« etc., »wird Ihnen so wenig wie mir ein Rätsel sein.« Oder der Züricher Korrespondent Hirzel: »Sie werden wohl selbst erfahren.« Der kritische Korrespondent respektiert so sorgsam das absolute Begreifen der kritischen Kritik, daß er ihr selbst da ein Begreifen zumutet, wo absolut nichts zu begreifen ist; z.B. Fleischhammer:

»Sie werden mich vollständig (!) begreifen (!), wenn ich Ihnen sage, daß man kaum ausgehen kann, ohne jungen katholischen Geistlichen in ihren langen schwarzen Kutten und Mänteln zu begegnen.«

Ja, in ihrer Angst hören die Korrespondenten die kritische Kritik sagen, antworten, ausrufen, auslachen![153]

So z.B. Zerrleder: »Aber – sagen Sie; nun gut, so hören Sie.« So Fleischhammer: »Doch, ich höre schon, was Sie sagen – ich meinte damit auch nur.« So Hirzel: »Edelmann, werden Sie ausrufen!« So ein Tübinger Korrespondent: »Lachen Sie mich nicht aus!«

Die Korrespondenten gebrauchen daher auch die Wendung, daß sie der kritischen Kritik Tatsachen mitteilen und ihr die geistige Interpretation zumuten, ihr Prämissen liefern und ihr die Konklusion überlassen oder sich gar entschuldigen, ihr längst Bekanntes wiederzukäuen.

So Zerrleder:

»Es ist Ihrem Korrespondenten nur möglich, ein Bild, eine Schilderung der Tatsachen zu geben. Der Geist, der diese Dinge belebt, wird ja Ihnen gerade nicht unbekannt sein.« Oder auch: »Nun werden Sie sich schon selber den Schluß ziehen.«

So Hirzel:

»Daß jede Schöpfung aus dem Extrem ihres Gegensatzes hervorgegangen, mit diesem spekulativen Satze werde ich Sie nicht erst noch unterhalten dürfen

Oder auch die Erfahrungen des Korrespondenten sind bloß die Erfüllung und Bestätigung kritischer Prophezeiungen.

So Fleischhammer:

»Ihre Vorhersagung ist eingetroffen.«

So Zerrleder:

»Die Tendenzen, welche ich ihnen als in der Schweiz immer weiter um sich greifend geschildert habe, weit entfernt, unheilvoll zu sein, sind nur glückliche – nur eine Bestätigung Ihres schon oft ausgesprochenen Gedankens« etc.

Die kritische Kritik fühlt sich zuweilen gedrungen, die Herablassung auszusprechen, die in ihrem Korrespondieren liege, und sie motiviert diese Herablassung dadurch, daß der Korrespondent irgendein Pensum glücklich absolviert habe. So schreibt Herr Bruno dem Tübinger Korrespondenten:

»Es ist wirklich eine Inkonsequenz von mir, daß ich auf deinen Brief antworte. – Auf der andern Seite hast du wieder... so Treffendes bemerkt, daß ich dir... die erbetene Aufklärung nicht versagen kann

Die kritische Kritik läßt sich aus der Provinz schreiben, worunter nicht die Provinz im politischen Sinne, die bekanntlich in Deutschland nirgendwo existiert, zu verstehen ist, sondern die kritische Provinz, deren Hauptstadt Berlin ist, Berlin, der Sitz der kritischen Patriarchen und der heiligen kritischen Familie, während in den Provinzen die kritische Masse haust. Die [154] kritischen Provinziellen wagen nur unter Bücklingen und Entschuldigungen die Aufmerksamkeit der höchsten kritischen Stelle in Anspruch zu nehmen.

So schreibt ein Anonymus an Herrn Edgar, der als Mitglied der heiligen Familie ebenfalls ein vornehmer Herr ist:

»Geehrter Herr! Darin, daß die Jugend sich gern bei gemeinschaftlichen Bestrebungen zusammenschließt (unsere beiderseitige Altersverschiedenheit beruht nur auf zwei Jahren), wollen Sie die Entschuldigung für diese Zellen finden.«

Dieser Altersgenosse des Herrn Edgar bezeichnet sich nebenbei als das Wesen der neuesten Philosophie. Ist es nicht in der Ordnung, daß die Kritik mit dem Wesen der Philosophie in Korrespondenz steht? Wenn der Altersgenosse des Herrn Edgar versichert, daß er seine Zähne schon verloren habe, so ist das nur eine Anspielung auf sein allegorisches Wesen. Dies »Wesen der neuesten Philosophie« hat »von Feuerbach das Moment der Bildung in die objektive Anschauung setzen gelernt.« Es gibt sogleich eine Probe von seiner Bildung und Anschauung, indem es Herrn Edgar zugleich versichert, es habe eine »Totalitätsanschauung von seiner Novelle« – »Es leben feste Grundsätze!« – gewonnen, und zugleich offen gesteht, Herrn Edgars Absicht sei ihm durchaus nicht recht klar geworden, ja schließlich die Versicherung der gewonnenen Totalitätsanschauung durch die Frage paralysiert: »Oder habe ich Sie total mißverstanden?« Nach dieser Probe wird man es in der Ordnung finden, wenn das Wesen der neuesten Philosophie in bezug auf die Masse sich dahin äußert:

»Wir müssen uns wenigstens einmal herablassen, den Zauberknoten untersuchen und lösen, der dem gemeinen Menschenverstand den Eingang in die unbeschränkte Denkflut nicht gestattet.«

Will man sich eine vollständige Anschauung von der kritischen Masse erwerben, so lese man Herrn Hirzels aus Zürich Korrespondenz. (Heft V.) Dieser Unglückliche memoriert mit wahrhaft rührender Gelehrigkeit und lobenswertem Gedächtnis die kritischen Stichworte. Herrn Brunos Lieblingsphrasen von den Schlachten, die er geliefert, von den Feldzügen, die er entworfen und geleitet habe, fehlen nicht. Namentlich aber erfüllt Herr Hirzel seinen Beruf als Glied der kritischen Masse, wenn er über die profane Masse und ihr Verhältnis zur kritischen Kritik eifert.

Er spricht von der Masse, die an der Geschichte teilzuhaben meine, »von der reinen Masse«, von der »reinen Kritik«, von der »Reinheit dieses Gegensatzes« – »ein Gegensatz, so rein – wie ihn die Geschichte nie so rein gegeben habe« –, von dem »malkontenten Wesen«, von der »vollendeten Leerheit, Verstimmung, Mutlosigkeit, Herzlosigkeit, Zaghaftigkeit, Wut, Erbitterung[155] der Masse gegen die Kritik«, von »der Masse, die nur dazu da sei, um die Kritik durch ihren Widerstand schärfer und wachsamer zu machen.« Er spricht von der »Schöpfung aus dem Extrem des Gegensatzes«, von der Erhabenheit der Kritik über Haß und dergleichen profane Affekte. Auf diesen Reichtum an kritischen Stichworten beschränkt sich die ganze Lieferung des Herrn Hirzel an die »Literatur-Zeitung.« Wie er der Masse ihre Zufriedenheit mit der bloßen »Gesinnung«, dem »guten Willen«, »der Phrase«, dem »Glauben« etc. vorwirft, so begnügt er sich selbst als ein Glied der kritischen Masse mit Phrasen, mit Äußerungen seiner »kritischen Gesinnung«, seines »kritischen Glaubens«, seines »kritischen guten Wollens«, und überläßt Herrn Bruno & Comp. das »Handeln, Arbeiten, Kämpfen« und die »Werke.«

Trotz der fürchterlichen Schilderung, welche die Mitglieder der »kritischen Masse« von der welthistorischen Spannung der profanen Welt gegen die »kritische Kritik« entwerfen, ist wenigstens für den Ungläubigen noch nicht einmal der Tatbestand konstatiert, der Tatbestand dieser welthistorischen Spannung. Die dienstfertige und unkritische Wiederholung der kritischen »Einbildungen« und »Prätensionen« im Munde der Korrespondenten beweist nur, daß die fixen Ideen des Herrn auch die fixen Ideen des Dieners sind. Einer der kritischen Korrespondenten versucht zwar, aus Tatsachen zu beweisen.

»Ihr seht«, schreibt er der heiligen Familie, »daß die ›Literatur-Zeitung‹ ihren Zweck erfüllt, d.h. daß sie keinen Anklang findet. Anklang könnte sie nur finden, wenn sie mit der Gedankenlosigkeit mitklingelte, wenn ihr mit dem Schellenspiel von Redensarten einer ganzen Janitscharenmusik gangbarer Kategorien stolz voranschrittet.«

Ein Schellenspiel von Redensarten einer ganzen Janitscharenmusik gangbarer Kategorien! Man sieht, der kritische Korrespondent bestrebt sich. In nicht »gangbaren« Redensarten einherzutraben. Seine Auslegung der Tatsache, daß die »Literatur-Zeitung« keinen Anklang findet, muß indes als rein apologetisch zurückgewiesen werden. Man könnte diese Tatsache vielmehr umgekehrt dahin auslegen, daß die kritische Kritik sich im Einklang mit der großen Masse, nämlich der großen Masse der Skribenten befindet, die keinen Anklang findet.

Es genügt also nicht, daß die kritischen Korrespondenten die kritischen Redensarten zugleich als »Gebet« an die heilige Familie und zugleich als »Verfluchungsformel« gegen die Masse richten. Es bedarf unkritischer, massenhafter Korrespondenten, es bedarf wirklicher Abgeordneter der Masse an die kritische Kritik, um die wirkliche Spannung der Masse mit der Kritik zu beweisen.[156]

Die kritische Kritik räumt daher auch der unkritischen Masse eine Stelle ein. Sie läßt unbefangene Repräsentanten derselben mit sich korrespondieren, den Gegensatz zu sich als wichtig, als absolut anerkennen und den Angstschrei nach Erlösung aus dem Gegensatz erschallen.

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1957, Band 2, S. 152-157.
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