VI. Ohne Sprache und ohne Religion.

[49] Tschechisch verstanden sie alle, darin hätten wir vielleicht Fortschritte machen können. Darüber hinaus wurde uns nichts geboten. Mit gutem Bedacht schreibe ich es hin, und man wird es schon der Beobachtungsgabe eines lernbegierigen siebzehnjährigen Knaben (so alt war ich fast, als ich das Piaristengymnasium verließ) glauben müssen: die uns fünf Jahre lang im Lateinischen unterrichten sollten, verstanden kein Latein, die uns drei Jahre griechischen Unterricht gaben, verstanden kein Griechisch; ebenso stand es um Geschichte und Mathematik; und die uns in der deutschen Sprache unterrichteten, konnten deutsch nicht einmal richtig sprechen, geschweige denn, daß sie sich jemals wissenschaftlich mit der deutschen Sprache beschäftigt hätten. Der Dicke mit dem gemeinen Knechtsgesicht war, wenn ich nicht irre, durch volle vier Jahre unser Ordinarius. Nachdem er uns die lateinischen Paradigmen eingepaukt und eingeschopfbeutelt hatte, war er mit seinem Latein eigentlich zu Ende; denn als wir dann lateinische Stücke zu lesen anfingen, präparierte er sich auf die meisten Stunden genau so mit Eselsbrücken vor, wie wir; wir sahen den »Freund« (ich glaube, diese vortrefflichen Einpaukhefte sind immer noch im Gebrauch) unter dem Schulbuche auf seinem Kathederpult liegen; entdeckte er so einen »Freund« in einer[49] der Schulbänke, so gab es natürlich erst recht kräftige Püffe. Er muß ungewöhnlich unbegabt gewesen sein, da er das Pensum im Laufe der Jahre nicht auswendig gelernt hatte. Gott mag dem bösen Dicken verzeihen, was er beim lateinischen Unterricht an uns gesündigt hat; aber auch Gott, wenn es anders immer noch einen alten deutschen Gott gibt, kann ihm seinen deutschen Unterricht nicht verzeihen. Es ist mir unvergeßlich, wie wir einmal Goethes »Fischer« aufzusagen hatten, und wie unser Botokude das Gedicht erst erklärte und dann in seinem entsetzlichen Deutsch so vordeklamierte, wie er es von uns hören wollte. Es wäre ein zu grober Posseneffekt, wollte ich das ganze Gedicht in seiner Aussprache hersetzen. Nur eine Stelle kann ich ihm nicht schenken. Einer von uns, ein prächtiger Egerländer, hatte richtig gesprochen: »Halb zog sie ihn, halb sank er hin.« Der böse Knecht schlug mit der geballten Faust auf den Tisch und wetterte: »Hob ich dir g'sagt, das is Geggensatz. Halb zock sie ihn, halb sonk'r hien.« Und der arme Egerländer, wenn er nicht durchfallen wollte, mußte den »Geggensatz« so betonen. Auf diese Weise erhielten wir eine Vorstellung von dem Wohlklang Goethescher Verse.

Ich habe vorhin darauf hingewiesen, daß ich als Jude im zweisprachigen Böhmen wie »prädestiniert« war (ich weiß besser als mancher Leser, wie dumm dieses Wort ist), der Sprache meine Aufmerksamkeit zuzuwenden; selbst der Hochmut, sich dem eigenen Lehrer im Gebrauche der Muttersprache überlegen zu fühlen, mochte früh zu mancher Beobachtung führen. Ich darf aber vielleicht ebensogut hier, wie an einer andern Stelle ein Leid klagen, ein Entbehren, das mich in meiner Jugend gequält hat und mich in meinem Alter zu quälen[50] nicht ganz aufgehört hat. Jawohl, mein Sprachgewissen, meine Sprachkritik wurde geschärft dadurch, daß ich nicht nur Deutsch, sondern auch Tschechisch und Hebräisch als die Sprachen meiner »Vorfahren« zu betrachten, daß ich also die Leichen dreier Sprachen in meinen eigenen Worten mit mir herumzutragen hatte. Jawohl, ein Sprachphilosoph konnte unter solchen psychologischen Einflüssen heranwachsen. Aber ich dachte ja in jener Zeit gar nicht an eine solche Aufgabe. Der junge Mensch war erfüllt von dichterischen Plänen. Und für die Wortkunst fehlte mir das lebendige Wort einer eigenen Mundart. Ich weiß, daß ich mit dieser Klage jedem Gegner meiner Schriften eine Waffe in die Hand gebe. Ich muß es dennoch sagen: ich besitze in meinem innern Sprachleben nicht die Kraft und die Schönheit einer Mundart. Und wenn jemand mir zuriefe: ohne Mundart sei man nicht im Besitze einer eigentlichen Muttersprache – so könnte ich vielleicht heute noch aufheulen, wie in meiner Jugend, aber ich könnte ihn nicht Lügen strafen. Die dicht beieinander wohnenden Deutschen der böhmischen Grenzgebiete, die Deutschen des nordöstlichen, des nordwestlichen und des westlichen Böhmens haben ihre lieben und echten Dialekte. Der Deutsche im Innern von Böhmen, umgeben von einer tschechischen Landbevölkerung, spricht keine deutsche Mundart, spricht ein papierenes Deutsch, wenn nicht gar Ohr und Mund sich auf die slawische Aussprache eingerichtet haben. Es mangelt an Fülle des erdgewachsenen Ausdrucks, es mangelt an Fülle der mundartlichen Formen. Die Sprache ist arm. Und mit der Fülle der Mundart ist auch die Melodie der Mundart verloren gegangen. Es ist bezeichnend dafür, daß der Mensch auch zu seiner[51] eigenen Sprache keine Distanz hat: die Deutschböhmen bilden sich ein und sagen es bei jeder Gelegenheit, daß sie das reinste Deutsch reden. Die Ärmsten! Als ob die Mundarten unrein wären!

Wenn einem Deutschböhmen aus tschechischer oder tschechisch gewordener Gegend irgendwie die Sehnsucht nach Zugehörigkeit zu einem Volksdialekte kommt, so pflegt er gewöhnlich den behaglichen Wiener Dialekt nachzuahmen. Es gelingt ihm nur schlecht. Er hört ihn (in den alten und neuen Wiener Possen), aber er kann ihn nicht nachahmen. Ich habe wie nur einer die Sehnsucht nach der Zugehörigkeit zu einem Dialekte empfunden; aber es fiel mir niemals ein, Wienerisch zu reden. Es gehört dazu wie zu jeder vollkommenen Beherrschung einer fremden Sprache etwas Komödienspielerei, etwas Snobismus, wofür ich keine Neigung, wahrscheinlich keine Begabung habe. Mir blieb die Sehnsucht, die sich mit Verstehen und Nicht-Sprechen-Können süddeutscher Mundarten begnügen mußte. Die oberbayerische Mundart und einige allemannische Mundarten haben mich beim ersten Anhören bis zu Tränen ergriffen. Sprachkünstlerisch, aus dem Unbewußten heraus, ist meine Sprache niemals lebendig genug gewesen, und darum nicht dichterisch genug. Mögen Feinde mir es boshaft nachsprechen, was ich unter tausend Schmerzen spät genug herausgefunden habe.

Und weil ich einmal so Kritik übe an der Grundlage meines poetischen Schaffens, so sei gleich an dieser Stelle und in diesem Zusammenhange der andere Mangel beklagt, der meine dichterischen Pläne nicht zu meiner eigenen Zufriedenheit reifen ließ. Wie ich keine rechte Muttersprache besaß als Jude in einem[52] zweisprachigen Lande, so hatte ich auch keine Mutterreligion, als Sohn einer völlig konfessionslosen Judenfamilie. Wie mir mit meinem Volke, dem deutschen, nicht die Werksteine ganz gemeinsam waren, die Worte, so war mir und ihm auch das Haus nicht gemeinsam, die Kirche. Mir waren nicht nur die Griechengötter tote Symbole, auch den christlichen Himmel lernte ich als totes Symbol kennen, so viele Mühe ich mir auch – etwa vom 12.–15. Jahre – gab, mir den christlichen Himmel zu erobern. Es ist ein Unterschied zwischen einem christlichen Knaben, der später seinen Glauben verloren hat (etwa D.F. Strauß) und einem von Anfang an Glaubenslosen. Goethes Blasphemien sind titanisch, Heines Witze sind dagegen kalt. Gerade weil die Kirche so ganz und gar menschlich, irdisch ist, darum ist es ein dichterischer Mangel, von Anfang an nicht auf diesem gemeinsamen Boden zu stehen. Weil mein Ringen um den Glauben vielleicht nur ein unbewußtes Spiel gewesen war, darum fehlte meinem Bekenntnisse zum Atheismus am Ende das Symbol des Kampfes: der Haß. Und meiner dichterischen Sprache das Höchste und Tiefste: die Erde.

Nun aber darf ich auch sagen, daß diese Mängel mich in Erkenntnisfragen der Sprache gegenüber um so freier machten. Doch ich habe die Schule der Piaristen noch nicht verlassen; zurück.[53]

Quelle:
Mauthner, Fritz: Erinnerungen, Band 1: Prager Jugendjahre, München 1918, S. 49-54.
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