Die Vorgeschichte[99] 162.

Vor langer Zeit, als noch der Buddha Kassapa die Lehre verkündigte163, lebten Nāgasena und Milinda (Menandros), der erste als älterer Mönch, der letzte als Novize, schon einmal zusammen in einem Kloster am Ganges. Damals wurde der Novize eines Tages von dem älteren Mönch aufgefordert, den Klosterhof zu fegen, und, als er sich weigerte, durch einen Schlag mit dem Besenstiel dazu angetrieben. Er bezwang seinen Unmut, fegte den Hof und wünschte sich dabei, dass er »infolge dieser verdienstvollen Handlung« in jedem Leben, das ihm bis Nirvāna noch bevorstände, durch Macht, Ruhm und Klugheit glänzen möchte. Der ältere Mönch hörte dieses und wünschte sich nun seinerseits, dass er in allen folgenden Leben die Fähigkeit besitzen möchte, die schwierigsten Fragen mit Leichtigkeit zu lösen.

Während nun die beiden von Dasein zu Dasein unter Menschen und Göttern164 wanderten, sah sie auch der jetzige Buddha (Gotama) und prophezeite,[99] dass sie fünfhundert Jahre nach seinem Eingang in Parinirvāna sich über seine Lehre unterhalten würden165.

Und so kam es.

Der Novize wurde schliesslich als der grosse König Milinda von Sāgala wiedergeboren. Weit und breit bezwang er die Völker durch seine Heeresmacht und die Gelehrten durch seine Disputierkunst, so dass, aus Furcht vor der Schande, widerlegt zu werden, bald alle Religionslehrer und Philosophen das Land verlassen hatten. Die Brüder des buddhistischen Ordens zogen sich zumeist in den Himālaya zurück, und zahllose Arhats wohnten dort in einer Gegend, die die »Geschützte Fläche« heisst.

Zwölf Jahre schon dauerte dieser Zustand, da hörte eines Tages mit dem »göttlichen Ohre« einer der Arhats namens Assagutta, wie der König Milinda wieder einmal seinem Übermute Luft machte und mit Verachtung von den Gelehrten Indiens sprach, und berief alsbald eine Versammlung auf der »Geschützten Fläche« und fragte, ob denn noch immer keiner imstande sei, den König für die Lehre des Buddha zu gewinnen. Aber die Heiligen schwiegen alle. Endlich entschloss man sich, den Gott Mahāsena im Himmel der Dreiunddreissig166 aufzusuchen, da dieser allein die Aufgabe lösen könne. Im Nu versetzt sich die ganze Gesellschaft der Heiligen nach dem Himmel der Dreiunddreissig, wird dort von dem Götterkönig Sakka (Indra) ehrerbietig empfangen und, nach der Mitteilung, dass der König Milinda gerade vor seiner letzten Menschwerdung auch schon hier gelebt hätte, vor Mahāsena geführt. Aber das Bitten der Heiligen, in das auch Sakka einstimmt, wird abschlägig beschieden.[100] »Nach der Menschenwelt,« sagt Mahāsena, »habe ich kein Verlangen. Von vielem Karman (s. Anm. 84) beschwert ist die Menschenwelt. Hier in der Götterwelt will ich zu höherem und höherem Dasein gelangen und endlich erlöschen.« Schliesslich aber, als er hört, dass ausser ihm niemand den bedrängten Glauben retten könne, gibt er doch nach und verspricht, in der Menschenwelt wiedergeboren zu werden.

Erfreut kehrte die Gesellschaft zur »Geschützten Fläche« zurück, und Assagutta beauftragte den ehrwürdigen Rohana, als Sühne dafür, dass er, in Meditation versunken, die Versammlung versäumt hätte, bei dem Elternpaar des Nāgasena, als welcher der Gott Mahāsena auf der Erde erscheinen werde, sieben Jahre und zehn Monate lang zu betteln und dann den Eintritt des Knaben in den buddhistischen Orden zu veranlassen.

Zu seiner Wiedergeburt hatte sich der Gott Mahāsena das Dorf Kajangala am Fusse des Himālaya und in ihm den Brāhmanen Sonuttara und dessen Frau ausgesucht. Unter allerlei Wundern fand die Empfängnis statt, und gleich von demselben Tage an erschien regelmässig der Mönch Rohana mit seinem Speisenapf. Aber niemals während der ganzen zehn Monate (bis zur Geburt) und sieben Jahre erhielt er auch nur das geringste Almosen, und selbst nicht ein einziges Mal wurde er mit der üblichen höflichen Redensart an das nächste Haus verwiesen. Erst als der junge Nāgasena sieben Jahre alt geworden war und einen brahmanischen Hauslehrer erhalten hatte, fand sein Vater mehr und mehr Gefallen an dem beharrlichen[101] Mönch und lud ihn endlich sogar ein, täglich bei ihm zu Mittag zu speisen. So kam es, dass der junge Nāgasena, nachdem er das Wissen des Brāhmanen sich angeeignet und als wertlos erkannt hatte, Lust verspürte, in den buddhistischen Orden einzutreten. Und die Eltern, im Glauben, er werde es dort nicht lange aushalten, gaben die Erlaubnis.

Von Rohana wurde nun Nāgasena der grossen Heiligengemeinde auf dem Himālaya zugeführt, und hier, auf der »Geschützten Fläche«, nahm man ihn feierlich in den Orden auf. Nicht lange dauerte sein Noviziat. Er lernte mit solcher Geschwindigkeit und zeigte ein so ausserordentliches Wissen, dass man ihm, als er erst zwanzig Jahre alt war, schon die höhere Weihe erteilen konnte. Er hatte bis dahin aber nur das Abhidhamma-Pitaka gelernt, und als er nun erfuhr, dass dieser Teil des Kanons nicht sowohl der Anfang als vielmehr der Abschluss der Lehre sei167, konnte er sich des Gedankens nicht erwehren, dass sein Lehrer Rohana (der in Wahrheit wegen der hohen Begabung des Knaben diesen Weg gewählt hatte) eine Torheit begangen habe. Rohana aber erkannte seinen Gedanken und trug ihm auf, zur Strafe für diesen Mangel an Vertrauen den König Milinda in Sāgala zu bekehren. Diesen Vorschlag nahm Nāgasena mit Freuden an. Doch konnte er ihn einstweilen wegen der Regenzeit168 nicht ausführen, und er wurde daher für diese zu Assagutta geschickt, der sich damals in der Vattaniya-Einsiedelei aufhielt. Er bediente nun die drei Monate hindurch den letzteren in derselben Weise, wie eine alte Frau, die in der Nähe wohnte, ihn schon mehr als dreissig Jahre bedient hatte, und[102] als am Ende der Saison die Frau die beiden eingeladen und bewirtet hatte und Assagutta, dem Schüler das Danksagen169 überlassend, fortgegangen war, hielt Nāgasena auf den Wunsch der Frau eine Predigt aus dem Abhidhamma.

»Da nun ging, während sie auf ihrem Platze dasass, jener grossen Spenderin das staub- und fleckenreine Auge für die Lehre170 auf, indem sie erkannte, dass es von allem, das ein Entstehen hat, auch ein Vergehen gibt171. Und auch der ehrwürdige Nāgasena fühlte die Wahrheit der von ihm verkündigten Lehre172: er erlangte das Schauen173 und wurde auf der Stelle des Glückes der Strombeschreitung174 teilhaftig.«

Assagutta, der mit grosser Genugtuung die doppelte Wirkung der Rede erkannt hatte, schickte jetzt den jungen Nāgasena nach dem, hundert Meilen (Yojanas) entfernten Pātaliputra, damit er dort im Asoka-Haine von Dhammarakkhita das Wort Buddhas175 lerne.

Auf dem Wege dorthin begegnete ihm ein Grosskaufmann, der mit seiner Karawane von fünfhundert Wagen das gleiche Reiseziel verfolgte und ihn bat, sich ihm anzuschliessen. Nāgasena folgte der Bitte und gab auch dem Wunsche des Kaufmannes, ihm den Abhidhamma zu erklären, gern nach. Hierbei ging ihm, Nāgasena, wie vorher der alten Frau, das Auge der Wahrheit auf. Kurz vor Pātaliputra schenkte ihm der Kaufmann einen kostbaren Wollenstoff, wies ihm den Weg zum Asoka-Park und verabschiedete sich aufs herzlichste.

Darauf lernte Nāgasena von Dhammarakkhita alle drei »Körbe«176 (Teile des Kanons) auswendig177. Aber Dhammarakkhita war nicht zufrieden mit ihm. Er[103] sprach: »Gleichwie, o Nāgasena, ein Kuhhirt seine Kühe hütet, andere aber den Nutzen davon haben, ebenso auch, Nāgasena, trägst du die drei Körbe des Buddha-Wortes, ohne teil zu haben an der Çramanaschaft (dem Nutzen der Lehre).« Nāgasena bat ihn zu warten, und noch in derselben Nacht wurde er ein Arhat. Die Erde donnerte, als dies geschah, die Götter klatschten Beifall, und vom Himmel fielen zahllose Blumen.

Jetzt war der Zeitpunkt da für die Bekehrung des Milinda. Die Arhats auf dem Himālaya sandten zu Nāgasena mit der Bitte, auf die »Geschützte Fläche« zu kommen. Gedankenschnell – denn er war jetzt als Arhat gleichfalls im Besitz der höheren Kräfte – erschien Nāgasena dort und versprach, nicht nur den Milinda, sondern, wenn sie wollten, alle Könige Indiens dem rechten Glauben zu gewinnen. Sie möchten sich nur getrost nach Sāgala begeben.

Sämtliche Arhats versetzten sich darauf nach Sāgala, und »wie Lampen« sah man in den Strassen der Stadt ihre gelben Kleider leuchten.

Zu der Zeit hatte gerade der König Milinda den ehrwürdigen Āyupāla, einen Bruder des Ordens, in der Sankheyya-Einsiedelei aufgesucht und durch seine Fragen so sehr in Verlegenheit gebracht, dass er endlich vollkommen schwieg. Und obwohl die Begleiter des Königs den Mönch in Schutz nahmen und erklärten, er sei nur verwirrt, brach Milinda wieder in seine gewohnten übermütigen Redensarten aus: Ganz Indien sei leer und blosse Spreu, und es gebe keinen Çramanen oder Brāhmanen, der es mit ihm aufnehmen und seine Zweifel lösen könne. Aber als[104] er seine Leute ansah, las der König in ihren Mienen, dass einer doch noch da sei. Und auf seine Frage nannte man ihm den Nāgasena, der gerade eben mit zahllosen Mönchen in der Sankheyya-Einsiedelei eingetroffen sei.

Quelle:
Die Fragen des Königs Menandros. Berlin [1905], S. 99-105.
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