Erstes Kapitel.

1. Der König Menandros näherte sich nun dem ehrwürdigen22 Nāgasena, begrüsste ihn freundlich und höflich und setzte sich in der (durch die Sitte) gebotenen Entfernung. Und der ehrwürdige Nāgasena erwiderte den Gruss in einer Weise, die dem König Menandros das Herz beruhigte.

Es richtete nun23 der König Menandros an den ehrwürdigen Nāgasena diese Worte: »Wie heisst du, Hochwürden; was ist dein Name, Meister?«24

»Nāgasena heisse ich, o Grosskönig; Nāgasena reden mich meine Glaubensgenossen an, o Grosskönig. Aber wenn auch Mutter und Vater einem Namen geben wie Nāgasena, Sūrasena, Vīrasena, Sīhasena, so ist doch, o Grosskönig, dieses, ›Nāgasena‹ nur ein Name, eine Benennung, eine Bezeichnung, ein Ausdruck, ein blosses Wort. An eine Person (ein bleibendes Ich) ist hierbei nicht zu denken.25«

Da sprach der König Menandros: »Hört es von mir, ihr werten fünfhundert Griechen und unzähligen Mönche! Dieser Nāgasena sagt: ›An eine[11] Person ist hierbei nicht zu denken.‹ Ist es wohl recht, dem beizustimmen?« Und der König Menandros sprach weiter zum ehrwürdigen Nāgasena: »Meister Nāgasena, wenn an eine Person nicht zu denken ist, so sage mir doch, wer euch denn euer Mönchsgewand gibt und die Nahrung und Wohnung und Arzenei für die Kranken und was ihr sonst nötig habt? wer den Genuss von diesen Dingen hat? wer sich der Tugend befleissigt? wer die Meditation übt? wer den Pfad mit seinen Früchten und das Nirvāna erlebt? wer der Totschläger ist? wer Nichtgegebenes nimmt? wer, in Lüsten wandelnd, seine Zeit vergeudet? wer die Unwahrheit sagt? wer sich betrinkt? wer die (genannten) raschwirkenden Sünden begeht? Also gibt es kein Gutes, gibt es kein Böses, gibt es niemand, der gute, niemand, der böse Taten tut oder tun lässt, gibt es nicht Lohn noch Strafe für die guten und die bösen Taten? Dann, Meister Nāgasena, begeht auch der keinen Mord, der dich tötet, und ebenso, Meister Nāgasena, gibt es dann keine Lehrer bei euch und keine Meister und keine Ordination. Was ist dann aber das für ein Nāgasena, von dem du sagtest: ›Nāgasena, o Grosskönig, reden mich meine Glaubensgenossen an‹? Ist etwa, Meister, dein Haupthaar Nāgasena?«

»Gewiss nicht, Grosskönig.«

»Oder sind die Haare des Körpers Nāgasena?«

»Auch nicht, Grosskönig.«

»Oder sind die Nägel, die Zähne, die Haut, das Fleisch, die Sehnen, die Knochen, das Mark, die Nieren, das Herz, die Leber, der Unterleib, die Milz, die Lungen, die grösseren Gedärme, die kleineren Gedärme,[12] der Magen, der Auswurf, die Galle, das Phlegma, der Eiter, das Blut, der Schweiss, das Fett, die Tränen, das Serum, der Speichel, der Mucus, das Gelenköl, der Urin oder oben das Gehirn Nāgasena26

»Nein, Grosskönig.«

»So ist wohl, Meister, die Körperlichkeit27 Nāgasena?«

»Nein, Grosskönig.«

»Oder sind die Gefühle28 Nāgasena?«

»Nein, Grosskönig.«

»Sind die Vorstellungen29 Nāgasena?«

»Nein, Grosskönig.«

»Sind die Dispositionen30 Nāgasena?«

»Nein, Grosskönig.«

»Ist das Erkennen31 Nāgasena?«

»Nein, Grosskönig.«

»Oder, Meister, sind Körperlichkeit, Gefühle, Vorstellungen, Dispositionen und Erkennen Nāgasena?«

»Nein, Grosskönig.«32

»Oder, Meister, ist etwas ausserhalb von Körperlichkeit, Gefühlen, Vorstellungen, Dispositionen und Erkennen33 Nāgasena?«

»Nein, Grosskönig.«34

»Ich mag also fragen, wie ich will, Meister, ohne einen Nāgasena zu finden. Wer ist dann aber hier Nāgasena? Eine Unwahrheit sprichst du, Meister, eine Lüge; es gibt keinen Nāgasena.«

Hierauf sprach der ehrwürdige Nāgasena zum König Menandros so: »Du bist, o Grosskönig, an fürstlichen Luxus, an ausserordentliche Bequemlichkeit gewöhnt, so dass, o Grosskönig, wenn du zur Mittagszeit auf dem erhitzten Boden, dem heissen Sande[13] einen Gang machst und auf die spitzen Steine, den scharfen Kies und Sand trittst, die Füsse dir weh tun, dein Leib ermattet, dein Geist umnebelt wird und so ein Bewusstsein von körperlichem Leiden35 entsteht. Wie nun: bist du zu Fuss hierher gekommen oder in einem Wagen?«

»Ich gehe nicht zu Fuss, Meister; in einem Wagen bin ich gekommen.«

»Wenn du, o Grosskönig, in einem Wagen gekommen bist, so erkläre mir den Wagen. Ist, Grosskönig, die Deichsel der Wagen?«

»Nein, Meister.«

»Ist die Achse der Wagen?«

»Nein, Meister.«

»Sind die Räder der Wagen?«

»Nein, Meister.«

»Ist der Wagenkasten der Wagen?«

»Nein, Meister.«

»Ist der Fahnenstock der Wagen?«

»Nein, Meister.«

»Ist das Joch der Wagen?«

»Nein, Meister.«

»Sind die Zügel36 der Wagen?«

»Nein, Meister.«

»Ist der Stachelstock der Wagen?«

»Nein, Meister.«

»Wie denn, Grosskönig: sind Deichsel, Achse, Räder, Wagenkasten, Fahnenstock, Joch, Zügel und Stachelstock der Wagen?«

»Nein, Meister.«

»Oder, Grosskönig, ist etwas ausserhalb von[14] Deichsel, Achse, Rädern, Wagenkasten, Fahnenstock, Joch, Zügeln und Stachelstock der Wagen?«

»Nein, Meister.«

»Also, Grosskönig, ich kann fragen wie ich will, einen Wagen entdecke ich nicht. Ein blosses Wort, o Grosskönig, ist der Wagen. Was ist denn hier der Wagen? Unwahres sprichst du, Grosskönig, eine Lüge; es gibt keinen Wagen. Du bist, o Grosskönig, der höchste Herrscher in ganz Indien: vor wem fürchtest du dich denn, dass du eine Lüge sagst? Hört es von mir, ihr werten fünfhundert Griechen und zahllosen Mönche: Dieser König Menandros sagte, er sei zu Wagen hierher gekommen. Darauf gefragt: ›Wenn du, o Grosskönig, im Wagen hierher gekommen bist, so erkläre mir den Wagen,‹ ist er unfähig, dieses zu tun. Kann man dem wohl beistimmen?«

Auf diese Worte klatschten die fünfhundert Griechen dem ehrwürdigen Nāgasena Beifall und sprachen zum König: »Jetzt rede, Grosskönig, wenn du kannst.«

Darauf sprach der König Menandros zum ehrwürdigen Nāgasena: »Ich spreche keine Lüge, Meister Nāgasena. Die Deichsel, die Achse, die Räder, der Wagenkasten, die Fahnenstange geben den Anlass37 zu dem Namen, der Benennung, der Bezeichnung, dem Ausdruck, dem Wort ›Wagen‹.«

»Richtig, o Grosskönig, verstehst du den Wagen. Gerade so, o Grosskönig, geben auch mein Haupthaar, meine Körperhaare, meine Nägel etc. (S. 12), mein Gehirn, geben meine Körperlichkeit, meine Gefühle, meine Vorstellungen, meine Dispositionen und mein Erkennen den Anlass zu dem Namen, der Benennung, der Bezeichnung, dem Ausdruck, dem blossen Wort, ›Nāgasena.‹[15] Für den höchsten Gesichtspunkt aber ist hierin eine Person nicht zu erfassen. Ebendieses, o Grosskönig, hat auch die Nonne Vajirā in Gegenwart des Erhabenen (Buddhas) ausgesprochen mit den Worten38: ›Wie nämlich infolge der Zusammenfügung der Bestandteile (des Wagens) das Wort, ›Wagen‹ sich ergibt, ebenso nimmt, wo die (fünf) Skandhas (zusammen) sind, die gemeine Meinung eine Person an.‹«

»Wundervoll, Meister Nāgasena! erstaunlich, Meister Nāgasena! Vielerlei Fragen, die ich auf dem Herzen hatte, sind jetzt gelöst.«

2. »Wie alt bist du (als Mönch), Meister Nāgasena?«

»Sieben Jahre, Grosskönig.«

»Was sind diese deine sieben? Bist du sieben, oder ist die Zahl sieben?«

In diesem Augenblick warf gerade die, mit allen Insignien versehene, prächtig geschmückte Gestalt des Königs Menandros ihren Schatten in ein auf dem Boden stehendes Wassergefäss, so dass in diesem ihr Spiegelbild zu sehen war. Und der ehrwürdige Nāgasena sprach zum König Menandros: »Dieser dein Schatten, o Grosskönig, fällt auf den Boden und spiegelt sich im Wassergefäss. Wie nun, Grosskönig; bist du der König, oder ist das Spiegelbild der König?«

»Ich, Meister Nāgasena, bin der König, nicht ist dieses Spiegelbild der König. Von mir abhängig39 ist das Dasein des Spiegelbildes.«

»Genau so, o Grosskönig, ist die Zahl der Jahre sieben, nicht aber bin ich sieben. Vielmehr ist in Abhängigkeit von mir die Zahl sieben da, so wie[16] das Spiegelbild (in Abhängigkeit von dir), o Grosskönig.«

»Wundervoll, Meister Nāgasena! erstaunlich, Meister Nāgasena! Vielerlei Fragen, die ich auf dem Herzen hatte, sind jetzt gelöst.«

3. Der König sprach: »Meister Nāgasena, willst du (noch weiter) mit mir diskutieren?«

»Wenn du, o Grosskönig, als Gelehrter diskutieren willst, ja, wenn als König, nein.«

»Wie diskutieren denn Gelehrte, Meister Nāgasena?«

»Wo Gelehrte diskutieren, o Grosskönig, da findet ein Aufwinden statt und ein Abwinden, ein Besiegen und ein Zurücknehmen (der falschen Behauptung), da wird ein Vorzug festgestellt und ein Gegenvorzug, – und bei alledem geraten Gelehrte nicht in Zorn. So diskutieren Gelehrte, Grosskönig.«

»Wie aber, Meister, diskutieren Könige?«

»Könige, o Grosskönig, stellen im Disput eine Behauptung auf, und widerlegt jemand diese Behauptung, so verfügen sie eine Strafe gegen ihn. ›Gebt dem Kerl seine Strafe!‹ heisst es da. So, Grosskönig, diskutieren Könige.«

»Wie ein Gelehrter will ich diskutieren, Meister, nicht wie ein König. Ganz zwanglos, Hochwürden, sollst du reden, so zwanglos, wie du mit einem Mönch oder einem Novizen oder einem Laienbruder oder einem Tempeldiener dich unterredest. Sei ohne Furcht!«

»Sehr gut, Grosskönig,« sagte dankbar der Senior.

Der König sprach: »Meister Nāgasena, ich möchte etwas fragen.«

»Frage, o Grosskönig.«[17]

»Ich habe dich gefragt, Meister.«40

»Ich habe geantwortet, Grosskönig.«

»Was hast du denn geantwortet, Meister?«

»Was hast du denn gefragt, Grosskönig?«

Da dachte der König Menandros: »Gelehrt ist dieser Mönch, wohl fähig, mit mir zu diskutieren, und viele Dinge werde ich haben, über die ich ihn fragen möchte, so dass ich mit meinen Fragen noch nicht zu Ende sein werde, wenn bereits die Sonne untergeht. Wie wäre es, wenn ich mich morgen im Palast mit ihm unterredete?« Und der König sprach zu Devamantiya: »Teile jetzt du, Devamantiya, Hochwürden mit, dass eine (weitere) Unterredung mit dem König morgen im Palast stattfinden soll.« Nach diesen Worten erhob sich der König Menandros von seinem Sitz, verabschiedete sich vom Senior Nāgasena, bestieg sein Ross und entfernte sich, ein über das andere Mal »Nāgasena, Nāgasena« murmelnd.

Und Devamantiya sprach zum ehrwürdigen Nāgasena: »Der König Menandros lässt dir sagen, Meister, dass morgen im Palaste die Unterredung (weiter) stattfinden soll.«

»Sehr wohl,« erwiderte erfreut der Senior.

Und früh am nächsten Morgen erschienen Devamantiya, Anantakāya, Mankura und Sabbadinna41 vor dem König Menandros und sprachen zu ihm: »Soll, o Grosskönig, seine Hochwürden, Nāgasena, kommen?«

»Ja, er soll kommen.«

»Mit wie vielen Mönchen soll er kommen?«

»Er mag so viele mitbringen, wie er will.«

Da sprach Sabbadinna: »Soll er etwa, o Grosskönig, mit zehn Mönchen kommen?«[18]

Und zum zweiten Male sagte der König: »Er mag so viele Mönche mitbringen, wie er will.«

Und zum zweiten Mal sprach Sabbadinna: »Soll er nicht, o Grosskönig, mit zehn Mönchen kommen?«

Und zum dritten Male sagte der König: »Er mag so viele Mönche mitbringen, wie er will.«

Und zum dritten Male sprach Sabbadinna: »Lass ihn, o Grosskönig, mit zehn Mönchen kommen.«

»Es ist aber die Bewirtung aller vorgesehen, und ich wiederhole: Er soll so viele Mönche mitbringen, wie er mag. Warum spricht der gute Sabbadinna anders? Sind wir etwa nicht vermögend genug, um den Mönchen Speise zu geben?«

Auf diese Worte gab Sabbadinna seinen Widerspruch auf.

4. Nunmehr begaben sich Devamantiya, Anantakāya und Mankura an den Ort, wo der ehrwürdige Nāgasena weilte, und sprachen, als sie angekommen waren, zum ehrwürdigen Nāgasena: »Der König, Meister Nāgasena, lässt dir ausrichten, du mögest kommen und so viele Mönche mitbringen, wie du willst.« Darauf nahm der ehrwürdige Nāgasena, nach dem er sich am Vormittag angekleidet hatte, seinen Speisenapf und sein Mönchsgewand und machte sich mit den zahllosen Mönchen nach Sāgala auf den Weg.

Und Anantakāya, der an der Seite des ehrwürdigen Nāgasena ging, richtete an diesen die Worte: »Meister Nāgasena, wenn ich jetzt ›Nāgasena‹ sage, wer ist da Nāgasena?«

Der Senior sprach: »Was meinst du wohl, wer da Nāgasena ist?«[19]

»Jene Seele, die da als Innenluft (Atem) ein- und ausgeht, die, denke ich, ist Nāgasena.«

»Wenn nun dieser Wind auszöge und nicht wiederkäme oder einzöge und nicht austräte, würde dann der Mensch leben?«

»Gewiss nicht, Meister.«

»Wenn aber jene Muschelbläser ihre Muschel blasen, kommt da ihr Atem zu ihnen zurück?«

»Nein, Meister.«

»Wenn ferner jene Pfeifenbläser ihre Pfeife blasen, kehrt da ihr Atem zu ihnen zurück?«

»Nein, Meister.«

»Wenn ferner jene Hornbläser ihr Horn blasen, kehrt da ihr Atem zu ihnen zurück?«

»Nein, Meister.«

»Aber warum sterben jene nicht?«

»Ich bin nicht fähig, mit dir, dem Kenner, zu disputieren. Guter Meister, erkläre mir, wie es sich verhält.«

»Das ist keine Seele. Einatmen und Ausatmen sind Dispositionen des Körpers42.« So erklärte der Senior nach dem Abhidharma43. Da bekannte sich Anantakāya als Upāsaka44.

5. So kam denn der ehrwürdige Nāgasena zum Palast des Königs Menandros und setzte sich auf den ihm zurechtgemachten Sitz. Und der König Menandros bot in eigener Person dem ehrwürdigen Nāgasena und seinem Gefolge schmackhafte Speisen, feste und weiche, so lange an, bis sie dankten, schenkte jedem Mönch zwei Röcke und dem ehrwürdigen Nāgasena eine vollständige Mönchstracht und sprach alsdann zum ehrwürdigen Nāgasena: »Meister Nāgasena, nimm[20] mit zehn Mönchen hier Platz und lass die übrigen fortgehen.« Und als der König Menandros sah, dass der ehrwürdige Nāgasena nicht mehr ass und seine Hand vom Mahl genommen hatte, nahm er einen niedrigen45 Stuhl und setzte sich zu ihm. Und der König sprach: »Meister Nāgasena, worüber wollen wir uns unterhalten?«

»Wir streben einem Ziele zu, o Grosskönig. Lass dieses Ziel den Gegenstand unserer Unterhaltung sein.«

Und der König sprach: »Welchen Zweck, Meister Nāgasena, hat euer Mönchtum, und was ist euer höchstes Ziel?«

Der Senior sprach: »Du weisst, Grosskönig, dass unser Mönchtum den Zweck hat, das gegenwärtige Leiden schwinden zu machen und neuem Leiden vorzubeugen, und dass unser höchstes Ziel ist, durch Aufgeben des Haftens (an der Welt) gänzlich zu erlöschen.46«

»Wie denn, Meister Nāgasena: haben alle Mönche dieses (hohe) Ziel?«

»Freilich nicht, Grosskönig. Einige werden Mönche um dieses Zieles willen, andere, um sicher zu sein vor der Tyrannei der Könige, andere, um nicht beraubt zu werden, wieder andere, weil Schulden sie bedrängen, und manche, um ihren Lebensunterhalt zu haben. Die aber das rechte Mönchtum befolgen, die befolgen es um dieses Zieles willen.«

»Schwebte auch dir, Meister, dieses Ziel vor, als du in den Orden eintratest?«

»Ich, o Grosskönig, wurde schon als Knabe Mitglied des Ordens. Ich dachte damals nicht an ein[21] bestimmtes Ziel. Ich sagte mir: ›Weise sind diese Çramanen, die dem Çākya-Sohne (Buddha) folgen. Sie werden mich belehren.‹ Und ich habe von Ihnen gelernt, und ich verstehe und sehe jetzt, dass diesem Ziel das Mönchtum dient.«

»Du hast recht, Meister Nāgasena.«

6. Der König sprach: »Meister Nāgasena, gibt es irgend jemand, der nach dem Tode nicht wieder geboren wird?«

Der Senior sprach: »Der eine wird wiedergeboren, der andere nicht.«

»Wer wird wiedergeboren und wer nicht?«

»Der Fehlerhafte47 wird wiedergeboren, der Fehlerlose nicht.«

»Du aber, Meister, wirst du wiedergeboren werden?«

»Wenn ich, o Grosskönig, (in der Sterbestunde) noch Verlangen nach Dasein haben werde, so werde ich wiedergeboren werden; andernfalls nicht.«

»Gut, Meister Nāgasena.«

7. Der König sprach: »Meister Nāgasena, wenn jemand nicht wiedergeboren wird, wird er da wegen seines scharfen Denkens nicht wiedergeboren?«

»Wegen seines scharfen Denkens, o Grosskönig, und wegen seiner Einsicht und wegen seiner sonstigen guten Eigenschaften.«

»Ist aber nicht scharfes Denken48 dasselbe wie Einsicht49

»Nein, Grosskönig, Denken und Einsicht sind zweierlei. Denken tun auch die Ziegen, Schafe, Ochsen, Büffel, Kamele und Esel. Aber Einsicht haben sie nicht.«

»Gut, Meister Nāgasena.«[22]

8. Der König sprach: »Was ist die Eigentümlichkeit des Denkens, Meister, und was ist die Eigentümlichkeit der Einsicht?«

»Zusammenfassen (Synthese) hat das Denken als Merkmal, Abschneiden die Einsicht.«

»Inwiefern ist Zusammenfassen das Wesen des Denkens und Abschneiden das der Einsicht? Gib mir ein Bild dafür.«

»Kennst du die Gerstenschnitter, Grosskönig?«

»Freilich, Meister, die kenne ich.«

»Und wie, Grosskönig, schneiden sie die Gerste?«

»Mit der linken Hand, Meister, ergreifen sie den Gerstenbüschel, und in die rechte Hand nehmen sie die Sichel und schneiden ihn damit ab.«

»Ebenso, Grosskönig, ergreift der Religionsbeflissene mit seinem Denken seinen Verstand50 und schneidet darauf mit seiner Einsicht seine Fehler ab. So also, Grosskönig, ist Zusammenfassen das Merkmal des Denkens und Abschneiden das der Einsicht.«

»Gut, Meister Nāgasena.«

9. Der König sprach: »Meister Nāgasena, du sprachst noch von anderen guten Eigenschaften. Was sind das für gute Eigenschaften?«

»Rechte Lebensführung, Grosskönig, und Glaube, Ausdauer, ernstes Denken und Konzentration51. Das sind jene guten Eigenschaften.«

»Was ist das Merkmal der rechten Lebensführung (Tugend, Sittlichkeit)?«

»Die rechte Lebensführung hat als Merkmal, o Grosskönig, dass sie die Grundlage aller guten Eigenschaften ist. Die moralischen Kräfte, die Kennzeichen der Heiligkeit, der Pfad, das ernste Denken, die rechte[23] Anstrengung, die Bedingungen des magischen Wirkens, die ekstatischen Zustände, die Befreiungen, die Konzentration, die Erlangungen52: sie alle haben die rechte Lebensführung zur Voraussetzung. Wer an der rechten Lebensführung festhält, Grosskönig, dem gedeihen alle guten Eigenschaften.«

»Gib mir ein Bild.«

»Gleichwie, o Grosskönig, die vielen Arten kleiner und grosser Lebewesen, die da werden, wachsen und sich entwickeln, auf die Erde sich stützen, auf der Erde ruhen in ihrem ganzen Wachstum: ebenso, o Grosskönig, entfaltet, auf die rechte Lebensführung sich stützend, in ihr fussend, der Religionsbeflissene die fünf moralischen Kräfte: Glaube, Ausdauer, ernstes Denken, Konzentration und Einsicht.«

»Gib noch ein Bild.«

»Gleichwie, o Grosskönig, alle Tätigkeiten, die körperliche Anstrengung verlangen, in Abhängigkeit von der Erde, auf der Erde als Stützpunkt vollzogen werden: ebenso, o Grosskönig, entfaltet, auf die rechte Lebensführung sich stützend, in ihr fussend, der Religionsbeflissene die moralischen Kräfte: Glaube, Ausdauer, ernstes Denken, Konzentration und Einsicht.«

»Gib noch ein Bild.«

»Gleichwie, o Grosskönig, ein Städtebauer, wenn er eine Stadt erbauen will, zuerst das Terrain säubert, indem er es von Stämmen und Gebüschen befreien und eben machen lässt, und dann erst die Strassen, Kreuzungen und Plätze anlegt und so die Stadt erbaut: ebenso, o Grosskönig, entfaltet, auf die rechte Lebensführung sich stützend, in ihr fussend, der Religionsbeflissene die fünf moralischen Kräfte:[24] Glaube, Ausdauer, ernstes Denken, Konzentration und Einsicht.«

»Gib noch ein Beispiel.«

»Gleichwie, o Grosskönig, ein Akrobat, der seine Kunst zeigen will, zuerst durch Umgraben des Bodens und Entfernung der Steine und Scherben eine ebene Fläche sich schafft und erst dann, auf dem weichen Boden, seine Kunst zeigt: ebenso, o Grosskönig, entfaltet, auf die rechte Lebensführung sich stützend, in ihr fussend, der Religionsbeflissene die fünf moralischen Kräfte: Glaube, Ausdauer, ernstes Denken, Konzentration und Einsicht. Auch vom Erhabenen, o Grosskönig, ist dies ausgesprochen worden mit den Worten:


›Auf ernste Lebensart gestützt

Pflegt Herz und Geist der weise Mann,

Entwirrt mit innigem Bemüh'n

Der kluge Mönch das Daseinsnetz.‹53


›Sie ist der Grund, der erdengleich die Menschen trägt,

Sie ist die Wurzel, daraus alles Gute wächst,

Sie ist der Eingang aller Buddha-Religion;

Dem Tugendlosen wird Erlösung nicht zuteil.‹54«


»Gut, Meister Nāgasena.«

10. Der König sprach: »Meister Nāgasena, was ist das Kennzeichen des Glaubens55

»Der Glaube, o Grosskönig, hat zwei Kennzeichen: die Beruhigung und das Vorwärtsstreben.«

»Inwiefern, Meister, hat der Glaube die Beruhigung zum Merkmal?«

»Wenn der Glaube aufkommt, o Grosskönig, so müssen die Hindernisse56 vor ihm weichen, und, frei von Hindernissen, wird das Herz rein, heiter, geklärt.[25] Insofern, o Grosskönig, hat der Glaube die Beruhigung zum Merkmal.«

»Gib mir ein Gleichnis.«

»Gleichwie, o Grosskönig, ein mächtiger Herrscher, der mit seinem vierfachen Heere auf dem Marsch sich befindet, über ein kleines Wasser kommt und das Wasser, von den Elefanten, Rossen, Wagen und Fussgängern aufgerührt, trübe, schmutzig und schlammig wird, und der grosse König gäbe nun, auf dem andern Ufer angelangt, seinen Leuten den Befehl: ›Bringt mir zu trinken meine Leute, ich habe Durst,‹ so würden, falls im Besitze des Königs ein wasserklärender Edelstein (Zauberstein) sich befände, auf jenen Befehl hin die Leute den Edelstein in das Wasser werfen, und es würden infolgedessen in jenem Wasser der Sand und die Pflanzen verschwinden und der Schlamm sich setzen, so dass das Wasser so rein, klar und durchsichtig würde, dass man dem grossen König davon zu trinken bringen könnte. Dem Wasser, Grosskönig, ist das Herz zu vergleichen, den Dienern des Königs der Religionsbeflissene, dem Sand, den Wasserpflanzen und dem Schlamm die Sünden (Fehler)57, dem wasserklärenden Edelstein der Glaube. Gleichwie in dem Wasser, in das der wasserklärende Edelstein geworfen ist, Sand und Pflanzen verschwinden und der Schlamm sich setzen und das Wasser rein, klar und durchsichtig werden muss: ebenso müssen, o Grosskönig, wenn der Glaube aufkommt, die Hindernisse vor ihm schwinden, und, frei von Hindernissen, wird das Herz rein, heiter und geklärt. In diesem Sinne, Grosskönig, ist Beruhigung das Merkmal des Glaubens.«[26]

»Und inwiefern hat der Glaube das Vorwärtsstreben als Merkmal, Meister?«

»Insofern, Grosskönig, der Religionsbeflissene, der bei anderen Herzensreinheit sieht, vorwärts strebt, um die erste oder die zweite oder die dritte oder die höchste Stufe auf dem Heilswege zu erreichen58, und so sich Mühe gibt, das zu erlangen, was er noch nicht erlangt hat, das zu erfahren, was er noch nicht erfahren hat, das zu verwirklichen, was er noch nicht verwirklicht hat: insofern, Grosskönig, hat der Glaube das Vorwärtsstreben als Merkmal.«

»Gib mir ein Gleichnis.«

»Denke dir, Grosskönig, dass auf einen Berggipfel ein gewaltiger Regen sich ergiesst. Das abwärts fliessende Wasser füllt zuerst die Rinnen, Spalten und Schluchten des Berges und beginnt dann in einen Strom sich zu ergiessen, so dass derselbe über seine Ufer tritt. Nun kommen viele Leute, einer nach dem andern, und bleiben, da sie die (wahre) Breite und Tiefe des Flusses nicht kennen, furchtsam und zögernd am Ufer stehen. Endlich aber kommt ein Mann, der, im Vertrauen auf seine Kraft und Stärke, sich fest gürtet, in den Strom geht und hinübergelangt. Und jetzt, da sie jenen am andern Ufer sehen, durchqueren auch die vielen anderen den Strom. Geradeso, o Grosskönig, strebt der Religionsbeflissene, wenn er bei anderen Herzensreinheit sieht, vorwärts, um die erste oder die zweite oder die dritte oder die höchste Stufe des Heilweges zu erreichen, und gibt sich so Mühe, das zu erlangen, was er noch nicht erlangt hat, das zu erfahren, was er noch nicht erfahren hat, das zu verwirklichen, was er noch nicht verwirklicht hat. Insofern,[27] o Grosskönig, hat der Glaube das Vorwärtsstreben als Merkmal. Auch der Erhabene, o Grosskönig, hat dieses wie folgt im Samyutta-Nikāya ausgesprochen:


›Der Glaube führt uns durch den Strom,

Der Ernst uns durch die Lebenssee;

Standhaftigkeit besiegt das Leiden,

Und Einsicht macht von Fehlern rein.‹«


»Gut, Meister Nāgasena.«

11. Der König sprach: »Meister Nāgasena, was ist das Kennzeichen der Ausdauer?«

»Das Unterstützen, Grosskönig, ist das Kennzeichen der Ausdauer. Durch die Ausdauer unterstützt bleiben alle guten Eigenschaften bestehen.«

»Gib ein Bild.«

»Gleichwie, Grosskönig, ein Mann, dessen Haus einzufallen droht, es durch einen neuen Pfosten stützt, und nun durch diese Stütze das Haus vor dem Fall bewahrt wird: so auch, Grosskönig, hat die Ausdauer das Unterstützen als Merkmal, und so bleiben, durch die Ausdauer unterstützt, alle guten Eigenschaften bestehen.«

»Gib ein weiteres Gleichnis.«

»Gleichwie, Grosskönig, wenn ein kleines Heer von einem grossen geschlagen worden ist, der König des ersteren alle möglichen Hilfsmittel und Verstärkungen heranzöge59 und nun mit diesem (neuen Heere) das kleine Heer das grosse schlüge: ebenso, Grosskönig, hat die Ausdauer das Unterstützen als Merkmal, und so bleiben, durch die Ausdauer unterstützt, alle guten Eigenschaften bestehen. Denn der Erhabene, Grosskönig, hat gesagt: ›Der ausdauernde[28] Jünger der Wahrheit, ihr Mönche, vertreibt das Böse und bringt das Gute hervor, weist das Tadelnswerte ab und tut das Untadelhafte, bewahrt sich die Reinheit der Seele.‹«

»Gut, Meister Nāgasena.«

12. Der König sprach: »Meister Nāgasena, was ist das Kennzeichen des ernsten Denkens (der Meditation)60

»Wiederholung, Grosskönig, und Annehmen sind die Kennzeichen des ernsten Denkens.«

»Inwiefern, Meister, hat das ernste Denken die Wiederholung als Merkmal?«

»Wo ernstes Denken aufkommt, o Grosskönig, da ruft es einem die Gegensätze des Nützlichen und Schädlichen, des Tadelnswerten und Untadelhaften, des Gemeinen und Edlen, des Schwarzen und Lichten u.s.w. ins Gedächtnis; da wiederholt man sich: ›Dies sind die vier Richtungen des ernsten Denkens, dieses die vier Arten der rechten Anstrengung, dieses die vier Bedingungen des magischen Wirkens, dieses die fünf moralischen Kräfte, dieses die fünf Geisteskräfte, dieses die sieben Bedingungen der Erleuchtung, dieses ist der heilige achtfache Pfad, dieses die Ruhe, dieses die klare Erkenntnis, dieses das Wissen, dieses die Erlösung.‹ So übt der Religionsbeflissene die übenswerten Eigenschaften und nicht die nicht übenswerten; so erlangt er die Eigenschaften, deren er bedarf, und wird nicht teilhaftig derer, die er nicht haben darf. Insofern, Grosskönig, hat das ernste Denken die Wiederholung zum Merkmal.«

»Gib ein Gleichnis.«

»Gleichwie, o Grosskönig, der Schatzmeister eines[29] mächtigen Herrschers seinen königlichen Herrn früh und spät an seinen Ruhm erinnert mit den Worten: ›So viele Kriegselefanten hast du, o König, so viel Reiterei, so viele Streitwagen, so viel Fussvolk, so viele Schätze, so viel Gold, so viel Reichtum. Bedenke das, Majestät!‹ und so ihm seine Machtmittel wiederholt: geradeso, o Grosskönig, ruft ernstes Denken, wo es aufkommt, einem die Gegensätze des Nützlichen und Schädlichen, des Tadelnswerten und Untadelhaften, des Gemeinen und Edlen, des Schwarzen und Lichten u.s.w. ins Gedächtnis, und man wiederholt sich: ›Dies sind die vier Richtungen des ernsten Denkens, dieses die vier Arten der rechten Anstrengung, dieses die vier Bedingungen des magischen Wirkens, dieses die fünf moralischen Kräfte, dieses die fünf Geisteskräfte, dieses die sieben Erfordernisse der Erleuchtung, dieses ist der heilige achtfache Pfad, dieses die Ruhe, dieses die Erkenntnis, dieses das Wissen, dieses die Erlösung.‹ Und so übt der Religionsbeflissene die übenswerten Eigenschaften und nicht die nicht zu übenden; so erlangt er die Eigenschaften, deren er bedarf, und wird nicht teilhaftig derer, die er nicht haben darf. Insofern, Grosskönig, hat das ernste Denken die Wiederholung zum Merkmal.«

»Und inwiefern, Meister, hat das ernste Denken das Annehmen als Kennzeichen?«

»Wo, o Grosskönig, ernstes Denken aufkommt, da erforscht man die Wirkungen der guten und bösen Eigenschaften, da findet man: ›Diese Eigenschaften sind gut, jene böse; diese Eigenschaften sind nützlich, jene schädlich,‹ und so stösst der Religionsbeflissene die bösen Eigenschaften von sich und nimmt die guten[30] an, legt die schädlichen Eigenschaften ab und nimmt die nützlichen an. Insofern, Grosskönig, ist Annehmen ein Merkmal des ernsten Denkens.«

»Gib ein Bild.«

»Gleichwie, o Grosskönig der vertrauliche Berater jenes mächtigen Herrschers, der da weiss, was dem Könige heilsam ist und was nicht, zu ihm sagt: ›Das ist gut für den König, das schlecht, dieses nützlich, jenes schädlich,‹ und infolgedessen der König das Böse abweist, das Gute annimmt, das Schädliche abweist, das Nützliche annimmt: ebenso, o Grosskönig, geht man, wo ernstes Denken aufkommt, den Wirkungen der guten und bösen Eigenschaften nach und findet: ›Diese Eigenschaften sind gut, jene böse; diese Eigenschaften sind nützlich, jene schädlich,‹ und so stösst der Religiosbeflissene die bösen Eigenschaften von sich und nimmt die guten an, legt die schlechten Eigenschaften ab und nimmt die nützlichen an. Insofern, Grosskönig, hat ernstes Denken das Annehmen zum Merkmal. Auch hat, Grosskönig, der Erhabene so gesprochen: ›Das ernste Denken, wahrlich, ihr Mönche, nenne ich den Massstab aller Dinge.61‹«

»Gut, Meister Nāgasena.«

13. Der König sprach: »Was, o Meister, ist das Kennzeichen der Konzentration62

»Dass sie der Leiter (Führer) ist, o Grosskönig, ist das Kennzeichen der Konzentration. Denn sämtliche guten Eigenschaften, so viele es ihrer gibt, haben die Konzentration als Leitung, haben die Konzentration als Niederung, haben die Konzentration als Abhang, haben die Konzentration als Senkung.«63

»Gib ein Gleichnis.«[31]

»Gleichwie, o Grosskönig, an einer Hütte mit einem Spitzdache64 alle Dachsparren, so viele es deren gibt, zur Spitze hinaufgehen, von der Spitze hinabgehen, an der Spitze sich treffen, so dass für alle zusammen an der Spitze der höchste Punkt ist: ebenso, o Grosskönig, haben sämtliche guten Eigenschaften, so viele es deren gibt, die Konzentration als Leitung, die Konzentration als Niederung, die Konzentration als Abhang, die Konzentration als Senkung.«

»Gib noch ein Gleichnis.«

»Stelle dir, Grosskönig, irgend einen König vor, der die vier Abteilungen seines Heeres in eine Schlacht führt. Die ganze Armee – Elefanten, Reiterei, Schlachtwagen, Fussvolk – hat ihn als ihren Leiter, sieht auf ihn zurück, richtet sich nach ihm in allen Dingen, bewegt sich um ihn als ihren Mittelpunkt. So auch Grosskönig, haben sämtliche guten Eigenschaften, so viele es ihrer gibt, die Konzentration als Leitung, die Konzentration als Niederung, die Konzentration als Abhang, die Konzentration als Senkung. So, Grosskönig, hat die Konzentration dies als Kennzeichen, dass sie der Leiter ist. Dieses hat der Erhabene ausgesprochen mit den Worten65: ›Übt die Konzentration, ihr Mönche! Der Gesammelte66 erkennt die Dinge, wie sie wirklich sind.‹«

»Gut, Meister Nāgasena.«

14. Der König sprach: »Meister Nāgasena, was ist das Kennzeichen der Einsicht67

»Ich sagte bereits, Grosskönig, dass die Einsicht das Abschneiden als Kennzeichen hat. Doch hat sie auch das Erhellen als Kennzeichen.«[32]

»Und inwiefern hat die Einsicht das Erhellen zum Kennzeichen?«

»Wenn, o Grosskönig, die Einsicht entsteht, so zerstreut sie die Finsternis der Unwissenheit, so lässt sie die Helligkeit des Wissens erscheinen, so lässt sie das Licht der Erkenntnis erstrahlen, so macht sie die Heiligen Wahrheiten68 klar, so dass der Religionsbeflissene alsbald mittels der vollkommenen Einsicht die Dauerlosigkeit, das Leiden und die Wesenlosigkeit (aller Dinge)69 erkennt.«

»Gib ein Gleichnis.«

»Gleichwie, o Grosskönig, jemand in ein dunkles Zimmer eine Lampe bringt und nun die Lampe die Finsternis zerreisst, Helligkeit erzeugt, Licht erstrahlen lässt und alle Dinge sichtbar macht: ebenso, o Grosskönig, zerstreut die Einsicht, wo sie aufkommt, die Finsternis der Unwissenheit, lässt die Helle des Wissens erscheinen, lässt das Licht der Erkenntnis erstrahlen, macht die Heiligen Wahrheiten klar, und es erkennt jetzt der Religionsbeflissene mit vollkommener Einsicht, dass alles vergänglich, leidvoll und wesenlos ist. So hat, o Grosskönig, die Einsicht das Erhellen zum Merkmal.«

»Gut, Meister Nāgasena.«

15. »Der König sprach: Meister Nāgasena, dienen alle diese Eigenschaften, so verschieden sie sind, dem gleichen Zweck?«

»Ja, Grosskönig. Alle diese Eigenschaften, so verschieden sie sind, haben ein und dasselbe Ergebnis: sie beseitigen die Fehler.«

»Wie ist das möglich? Gib mir ein Gleichnis.«

»Gleichwie, Grosskönig, die verschiedenen Teile[33] eines Heeres – Elefanten, Reiterei, Streitwagen und Fussvolk – ein und dasselbe Ziel zuwegebringen, nämlich die Besiegung des feindlichen Heeres: ebenso, Grosskönig, erreichen jene Eigenschaften, so verschieden sie sind, einen und denselben Zweck: sie beseitigen die Fehler.«

»Gut, Meister Nāgasena.«


Ende des ersten Kapitels.

Quelle:
Die Fragen des Königs Menandros. Berlin [1905], S. 10-34.
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