Vorbericht

[3] Folgende Diskurse über das Daseyn Gottes enthalten das Resultat alles dessen, was ich über diesen wichtigen Gegenstand unsres Forschens vormals nachgelesen und selbst gedacht habe. Seit zwölf bis fünfzehn Jahren befinde ich mich nehmlich in dem äußersten Unvermögen, meine Kenntnisse zu erweitern. Eine sogenannte Nervenschwäche, der ich seitdem unterliege, verbietet mir jede Anstrengung des Geistes, und, welches den Aerzten selbst sonderbar vorkömmt, sie erschweret mir das Lesen fremder Gedanken fast noch mehr, als eigenes Nachdenken. Ich kenne daher die Schriften der großen Männer, die sich unterdessen in der Methaphysik hervorgethan, die Werke Lamberts, Tetens, Plattners und selbst des alles zermalmenden Kants, nur aus unzulänglichen Berichten meiner Freunde oder aus gelehrten Anzeigen, die selten viel belehrender sind. Für mich stehet also diese Wissenschaft noch itzt auf dem Punkte, auf welchem sie etwa um das fünf und siebenzigste Jahr dieses Jahrhunderts gestanden hat; denn so lange ist es her, daß ich genöthiget bin, mich von ihr zu entfernen; wiewohl ich es doch nie über mich habe erhalten können, der Philosophie völlig Abschied zu geben; so sehr ich auch mit mir selbst gekämpft habe. Ach! sie war in bessern Jahren meine treueste Gefährtinn, mein einziger Trost in allen Widerwärtigkeiten dieses Lebens; und itzt mußte ich ihr auf allen Wegen ausweichen, wie einer Todfeindinn: oder, welches noch härter ist, sie scheuen, wie eine verpestete Freundinn, die selbst mich warnet, allen Umgang mit ihr zu meiden. Ich hatte nicht Selbstverleugnung genug, ihr zu gehorchen. Es erfolgten von Zeit zu Zeit verstohlne Uebertretungen; wiewohl nie ohne reuevolle Büßung.

Mittlerweile wuchs mein Sohn J. heran, und die gute Anlage, die er zeigte, machte es mir zur Pflicht, ihn frühzeitig zur vernünftigen Erkenntniß Gottes anzuführen. Zuvörderst ließ ich ihn nach eigenem Gefallen selbst lesen und Ideen sammeln. Ich bin der Meynung,[3] daß man beym Studium der Philosophie, so wie bey Erlernung der Sprachen, mit dem Gebrauch den Anfang machen, und mit der Regel endigen müsse. Das Studium der Form ist weder nützlich noch angenehm, wenn nicht die Anwendung beständig zur Seite gehen kann; und wie ist dieses möglich, wenn noch keine brauchbare Materialien angeschafft sind? Ich ließ ihn also zuerst Materie zusammentragen, und nun war es Zeit Form und Regel hinein zu bringen, und ihm zum ordentlichen und methodischen Nachdenken über diese wichtige Materie die erforderliche Anleitung zu geben.

Ich entschloß mich, die wenigen Stunden des Tages, in welchen ich noch heiter zu seyn pflege, die Morgenstunden, ihm zu diesem Behuf zu widmen, und hatte das Vergnügen, daß mein Schwiegersohn S. und auch W., der Sohn einer Familie, mit der ich seit vielen Jahren in freundschaftlicher Verbindung stehe, an unsren Bemühungen Theil nehmen wollten. Diese drey Jünglinge von schätzbaren Geistesgaben und noch beßrem Herzen, besuchten mich in den Morgenstunden; wir unterredeten uns von den Wahrheiten der natürlichen Religion; und wenn ich dazu aufgelegt war, hielt ich ihnen zusammenhangende Vorlesungen über einen und den andern Punkt aus derselben; aber wie leicht zu erachten, ohne allen Schulzwang. Sie hatten die Freyheit, mich zu unterbrechen, Einwürfe vorzubringen, sie unter sich zu beantworten, und ich brach zuweilen meinen Diskurs ab, um sie unter sich streiten zu lassen. Auf solche Weise sind die Aufsätze entstanden, davon ich den ersten Theil hiemit dem Publikum vorlege.

Ich weiß, daß meine Philosophie nicht mehr die Philosophie der Zeiten ist. Die Meinige hat noch allzusehr den Geruch jener Schule, in welcher ich mich gebildet habe, und die in der ersten Hälfte des Jahrhunderts vielleicht allzueigenmächtig herrschen wollte. Despotismus von jeder Art reitzt zur Widersetzlichkeit. Das Ansehen dieser Schule ist seitdem gar sehr gesunken, und hat das Ansehen der spekulativen Philosophie überhaupt mit in seinen Verfall gezogen. Die besten Köpfe Deutschlands sprechen seit kurzem von aller Spekulation mit schnöder Wegwerfung. Man dringet durchgehends auf Thatsachen, hält sich blos an Evidenz der Sinne, sammelt Beobachtungen, häuft Erfahrungen und Versuche, vielleicht mit allzugroßer Vernachläßigung der allgemeinen Grundsätze. Am Ende gewöhnet sich der Geist so sehr ans Betasten und Begucken, daß er nichts für[4] wirklich hält, als was sich auf diese Weise behandlen läßt. Daher der Hang zum Materialismus, der in unsren Tagen so allgemein zu werden drohet, und von der andern Seite, die Begierde zu sehen und zu betasten, was seiner Natur nach nicht unter die Sinne fallen kann, der Hang zur Schwärmerey.

Jedermann gestehet sich, daß das Uebel zu sehr einreißt, daß es Zeit sey, dem Rade einen Schwung zu geben, um dasjenige wieder empor zu bringen, was durch den Zirkellauf der Dinge zu lange ist unter die Füße gebracht worden. Allein ich bin mir meiner Schwäche allzusehr bewußt, auch nur die Absicht zu haben, eine solche allgemeine Umwälzung zu bewirken. Das Geschäft sey beßren Kräften aufbehalten, dem Tiefsinn eines Kants, der hoffentlich mit demselben Geiste wieder aufbauen wird, mit dem er niedergerissen hat. Ich begnüge mich mit der eingeschränktem Absicht, meinen Freunden und Nachkommen Rechenschaft zu hinterlassen, von dem, was ich in der Sache für wahr gehalten habe. Auch hatte ich eine besondre Veranlassung zur jetzigen Bekanntmachung dieser Schrift, die ich in dem folgenden Theile näher anzuzeigen Gelegenheit haben werde. Wie bald dieser erscheinen wird, kann ich für jetzt noch nicht bestimmen. Es wird hauptsächlich von dem Beyfall abhängen, mit welchem das Publikum diesen ersten Theil aufnehmen wird.[5]

Quelle:
Moses Mendelssohn. Gesammelte Schriften. Band 3.2, Berlin 1929 ff. [ab 1974: Stuttgart u. Bad Cannstatt], S. 3-6,9.
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