Zweytes Gespräch

[78] Unser Lehrer hatte ausgeredet, und gieng, wie in Gedanken vertieft, im Zimmer auf und nieder; wir saßen alle und schwiegen, und dachten der Sache nach. Nur Cebes und Simmias sprachen leise mit einander. Sokrates sahe sich um, und fragte: Warum so leise? meine Freunde! Sollen wir nicht erfahren, was an den vorgebrachten Vernunftgründen zu verbessern sey? Ich weiß wohl, daß ihnen zur völligen Deutlichkeit noch verschiedenes fehlet. Wenn ihr euch also jetzo von andern Dingen unterhaltet, so mag es gut seyn; redet ihr aber von der Materie, die wir vorhaben, so entdecket uns immer eure Einwürfe und Zweifel, damit wir sie gemeinschaftlich untersuchen, und entweder heben, oder selbst mit zweifeln mögen. Simmias sprach: Ich muß dir gestehen, Sokrates! daß wir beide Einwürfe zu machen haben, und uns schon lange einer den andern antreiben, sie vorzubringen, weil beide gerne deine Wiederlegung hören möchten, ein jeder aber sich scheuet, dir bey jetziger Widerwärtigkeit beschwerlich zu fallen. Als Sokrates dieses hörete, lächelte er, und sprach: Ey! wie schwer, o Simmias! werde ich andere Menschen bereden können, daß ich meine Umstände für so mißlich nicht halte, da ihr mir es noch immer nicht glauben könnet, und besorget, ich möchte jetzt unmuthiger und verdrießlicher seyn, als ich vormals gewesen bin. Man saget von den Schwänen, daß sie, nahe an ihrem Ende, lieblicher singen, als in ihrem ganzen Leben. Wenn diese Vögel, wie es heißt, dem Apoll geheiliget sind, so würde ich sagen, daß ihr Gott sie in der Todesstunde einen Vorschmack von der Seligkeit jenes Lebens empfinden läßt, und daß sie sich an diesem Gefühl ergetzen, und singen. Mit mir verhält es sich eben so. Ich bin ein Priester dieses Gottes: und in Wahrheit! er hat meiner Seele ein ahnendes Gefühl von der Seligkeit nach dem Tode eingeprägt, das allen Unmuth vertreibt, und mich, nahe an meinem Tode, weit heiterer seyn läßt, als in[78] meinem ganzen Leben. Eröffnet mir also ohne Bedenken eure Zweifel und Einwürfe. Fraget, was ihr zu fragen habt, so lange es die eilf Männer noch erlauben. – Gut! erwiederte Simmias, ich werde also den Anfang machen, und Cebes mag folgen. Ich habe nur noch eine einzige Erinnerung voraus zu schicken: Wenn ich Zweifel wider die Unsterblichkeit der Seele errege, so geschieht es nicht wider die Wahrheit dieser göttlichen Lehre, sondern wider ihre vernunftmäßige Erweislichkeit, oder vielmehr wider den Weg, welchen du, o Sokrates! gewählt hast, uns durch die Vernunft davon zu überzeugen. Im übrigen nehme ich diese trostvolle Lehre von ganzem Herzen nicht nur so an, wie du sie uns vorgetragen, sondern so, wie sie uns von den ältesten Weisen ist überliefert worden, einige Verfälschungen ausgenommen, die von den Dichtern und Fabelerfindern hinzugethan worden sind. Wo unsere Seele keinen Grund der Gewißheit findet, da trauet sie sich den beruhigenden Meynungen, wie Fahrzeugen auf dem bodenlosen Meere an, die sie bey heiterm Himmel sicher durch die Wellen dieses Lebens hindurch führen. Ich fühle es, daß ich der Lehre von der Unsterblichkeit, so wie von dem Gerichte Gottes nach diesem Tode, nicht widersprechen kann, ohne unendliche Schwierigkeiten sich erheben zu sehen, ohne alles, was ich je für wahr und gut gehalten, erschüttert zu sehen. Ist unsere Seele sterblich, so ist unsere Vernunft ein Traum, den uns Jupiter geschickt hat, uns Elende zu hintergehen; so fehlet der Tugend aller Glanz, der sie in unsern Augen göttlich macht; so ist das Schöne und Erhabene, das sittliche so wohl als das physische, kein Abdruck göttlicher Vollkommenheiten; (denn nichts vergängliches kann den schwächsten Stral göttlicher Vollkommenheit fassen) so sind wir, wie das Vieh, hieher gesetzt worden, Futter zu suchen und zu sterben; so wird es in wenigen Tagen gleich viel seyn, ob ich eine Zierde, oder Schande der Schöpfung gewesen, ob ich mich bemühet, die Anzahl der Glückseligen, oder der Elenden zu vermehren; so hat der verworfenste Sterbliche so gar die Macht sich der Herrschaft Gottes zu entziehen, und ein Dolch kann das Band auflösen, welches den Menschen mit Gott verbindet. Ist unser Geist vergänglich, so haben die weisesten Gesetzgeber und Stifter der menschlichen Gesellschaften uns, oder sich selbst betrogen; so hat das gesamte menschliche Geschlecht sich gleichsam verabredet, eine Unwahrheit zu hegen, und die Betrieger[79] zu verehren, die solche erdacht haben; so ist ein Staat freyer, denkender Wesen nicht mehr, als eine Heerde vernunftloses Viehes, und der Mensch – ich entsetze mich, ihn in dieser Niedrigkeit zu betrachten! und der Mensch, der Hoffnung zur Unsterblichkeit beraubt, ist das elendeste Thier auf Erden, das zu seinem Unglücke über seinen Zustand nachdenken, den Tod fürchten, und verzweifeln muß. Nicht der allgütige Gott, der sich an der Glückseligkeit seiner Geschöpfe ergötzt, ein schadenfrohes Wesen müßte ihn mit Vorzügen begabt haben, die ihn nur bejammernswerther machen. Ich weiß nicht, welche beklemmende Angst sich meiner Seele bemeistert, wenn ich mich an die Stelle der Elenden setze, die eine Vernichtung fürchten. Die bittere Erinnerung des Todes muß alle ihre Freuden vergällen. Wenn sie der Freundschaft genießen, wenn sie die Wahrheit erkennen, wenn sie die Tugend ausüben, wenn sie den Schöpfer verehren, wenn sie über Schönheit und Vollkommenheit in Entzückung gerathen wollen: so steiget der schreckliche Gedanke der Zernichtung, wie ein Gespenst, in ihrer Seele empor, und stürzt sie in Verzweiflung. Ein Hauch der ausbleibt, ein Pulsschlag, der still stehet, beraubt sie aller dieser Herrlichkeiten: das Gott verehrende Wesen wird Staub. Ich danke den Göttern, daß sie mich von dieser Furcht befreyet, die alle Wollüste meines Lebens mit Skorpionenstichen unterbrechen würde. Meine Begriffe von der Gottheit, von der Tugend, von der Würde des Menschen, und von dem Verhältnisse, in welchem er mit Gott stehet, lassen mir keinen Zweifel mehr über seine Bestimmung. Die Hoffnung eines zukünftigen Lebens löset alle diese Schwierigkeiten auf, und bringet die Wahrheiten, von welchen wir auf so mancherley Weise überzeuget sind, wieder in Harmonie. Sie rechtfertiget die Gottheit, setzet die Tugend in ihren Adel ein, giebt der Schönheit ihren Glanz, der Wollust ihre Reizung, versüßet das Elend, und macht selbst die Plagen dieses Lebens in unsern Augen verehrenswerth: indem wir alle Begebenheiten hienieden mit den unendlichen Reihen von Folgen vergleichen, die durch dieselben veranlasset werden. Eine Lehre, die mit so vielen bekannten und ausgemachten Wahrheiten in Harmonie stehet, und durch welche wir so ungezwungen eine Menge von Schwierigkeiten gehoben sehen, findet uns sehr geneigt, sie anzunehmen; bedarf beynahe keines fernern Beweises. Denn wenn gleich von diesen Gründen, einzeln genommen, vielleicht keiner den höchsten Grad der[80] Gewißheit mit sich führet: so überzeugen sie uns doch, zusammengenommen, mit einer so siegenden Gewalt, daß sie uns völlig beruhigen, und alle unsere Zweifel aus dem Felde schlagen. Allein, mein lieber Sokrates! die Schwierigkeit ist, alle diese Gründe, so oft wir es wünschen, mit der gehörigen Lebhaftigkeit gegenwärtig zu haben, um ihre Harmonie mit Einleuchtung zu überschauen. Wir sind zu allen Zeiten, und in allen Umständen dieses Lebens ihres Beystandes benöthiget; aber nicht alle Zeiten, nicht alle Umstände dieses Lebens vergönnen uns die Ruhe und Besonnenheit der Seele, uns aller dieser Gründe lebhaft zu erinnern, und die Kraft der Wahrheit zu fühlen, die ihrem Zusammenhange eingeflochten ist. So oft wir uns einen Theil derselben entweder gar nicht, oder nicht mit der erforderlichen Lebhaftigkeit vorstellen, so verlieret die Wahrheit von ihrer Stärke, und unsere Seelenruhe ist in Gefahr. Wenn aber jener Weg, den du, o Sokrates! einschlägst, uns durch eine einfache Reihe von unumstößlichen Gründen zur Wahrheit führet: so können wir hoffen, uns des Beweisthums zu versichern und zu allen Zeiten zu erinnern. Eine Kette deutlicher Schlüsse läßt sich leichter in die Gedanken zurück bringen, als jene Uebereinstimmung der Wahrheiten, die gewissermaßen ihre eigene Gemüthsbeschaffenheit erfodert. Aus dieser Ursache trage ich kein Bedenken, dir alle die Zweifel entgegen zu setzen, die der entschlossenste Leugner der Unsterblichkeit vorbringen könnte. Wo ich dich recht verstanden habe, so war dein Beweis etwa folgender: Seele und Körper stehen in der genauesten Verbindung; dieser wird allmählig in seine Theile aufgelöset, jene muß entweder vernichtet werden, oder Vorstellungen haben. Durch natürliche Kräfte kann nichts zernichtet werden: daher kann unsere Seele, natürlicher Weise, niemals aufhören Begriffe zu haben. Wie aber, mein lieber Sokrates! wenn ich durch ähnliche Gründe bewiese, daß die Harmonie fortdauren müsse, wenn man auch die Leyer zerbräche, oder daß die Symmetrie eines Gebäudes noch vorhanden seyn müsse, wenn auch alle Steine von einander gerissen, und zu Staub zermalmet werden sollten? Die Harmonie so wohl, als die Symmetrie, würde ich sagen, ist etwas: nicht? Man würde mir dieses nicht leugnen; jene stehet mit der Leyer und diese mit dem Gebäude in genauer Verbindung: auch dieses müßte man zugeben. Vergleichet die Leyer oder das Gebäude mit dem Körper, und die Harmonie oder Symmetrie mit der Seele: so haben wir erwiesen,[81] daß das Saitenspiel länger dauren müsse, als die Saiten, das Ebenmaß länger, als das Gebäude. Nun ist dieses in Absicht auf die Harmonie und Symmetrie höchst ungereimt; denn da sie die Art und Weise der Zusammensetzung andeuten: so können sie nicht länger dauren, als die Zusammensetzung selbst.

Ein Gleiches läßt sich von der Gesundheit behaupten: Sie ist eine Eigenschaft des gegliederten Körpers, und nirgends anders anzutreffen, als wo die Verrichtungen dieser Glieder zur Erhaltung des Ganzen abzielen; sie ist eine Eigenschaft des Zusammengesetzten, und verschwindet, wenn das Zusammengesetzte in seine Theile aufgelöset wird. Mit dem Leben hat es wahrscheinlicher Weise eine ähnliche Bewandniß. Das Leben einer Pflanze höret auf, so bald die Bewegungen in den Theilen derselben zur Auflösung des Ganzen abzielen. Das Thier hat vor der Pflanze die Gliedmaßen der Sinne und die Empfindung, und endlich der Mensch die Vernunft voraus. Vielleicht ist diese Empfindung in den Thieren, und selbst die Vernunft des Menschen, nichts als Eigenschaften des Zusammengesetzten, so wie Leben, Gesundheit, Harmonie, u.s.w. die ihrer Natur und Beschaffenheit nach nicht länger dauren können, als die Zusammensetzungen, von denen sie unzertrennlich sind. Reichet die Kunst des Baues hin Pflanzen und Thieren Leben und Gesundheit zu geben, so kann eine höhere Kunst vielleicht dem Thiere Empfindung, und dem Menschen Vernunft verleihen. Wir blödsinnigen begreifen jenes so wenig, als dieses. Des geringsten Blättchens kunstreiche Bildung übersteigt alle menschliche Vernunft, enthält Geheimnisse, die des Fleißes und der Scharfsinnigkeit unserer spätesten Nachkommen noch spotten werden: und wir wollen vorschreiben, was durch die Organisation erhalten werden kann, und was nicht? Wollen wir der Allmacht oder der Weisheit des Schöpfers Grenzen setzen? Eines von beiden, dächte ich, müssen wir nothwendig, wenn unsere Nichtigkeit entscheiden soll, daß die Kunst des Allmächtigen selbst kein Vermögen zu empfinden und zu denken durch die Bildung der feinsten Materie hervor bringen könne.

Du siehst, mein lieber Sokrates! was deinen Schülern zur völligen unwankenden Ueberzeugung noch fehlet. Ist die Seele beym Leben etwas, das der Allmächtige außer dem Körper und seiner Bildung geschaffen und mit ihm verbunden hat: so hat es seine Richtigkeit, daß die Seele auch nach dem Tode fortdauren und Vorstellungen[82] haben müsse; allein wer leistet für jenes die Gewehr? die Erfahrung scheinet vielmehr das Gegentheil auszusagen. Das Vermögen zu denken wird gebildet mit dem Körper, wächst mit demselben, und leidet mit demselben ähnliche Veränderungen. Jede Krankheit in dem Körper wird von Schwäche, Zerrüttung oder Unvermögen in der Seele begleitet. Vornehmlich stehen die Verrichtungen des Gehirns und der Eingeweide in so genauer Verbindung mit der Wirksamkeit des Denkungsvermögens, daß man sehr geneigt ist, beide aus Einer Quelle herzuleiten, und also das Unsichtbare durch das Sichtbare zu erklären; so wie man Licht und Wärme einer einzigen Ursache zuschreibt, weil sie in ihren Veränderungen so sehr übereinstimmen.

Simmias schwieg, und Cebes ergriff das Wort. Unser Freund Simmias, sprach er, scheinet nur das sicher besitzen zu wollen, was ihm versprochen worden, ich aber, mein lieber Sokrates! möchte gern mehr haben, als du uns zugesagt. Wenn deine Beweise auch wider alle Einwürfe geschützet werden, so folget doch nichts mehr aus denselben, als daß unsere Seele nach dem Hintritt unsers Körpers fortdauret und Vorstellungen hat; aber wie fortdauret? vielleicht so, wie sie im Schwindel, in einer Ohnmacht, oder im Schlafe fortdauret. Die Seele des Schlafenden muß nicht ganz ohne Begriffe seyn; die Gegenstände umher müssen durch schwächere Eindrücke auf seine Sinne wirken, und in seiner Seele wenigstens schwache Empfindungen erregen, sonst werden stärkere und stärkere Eindrücke ihn nicht aufwecken können. Aber was sind dieses für Begriffe? Ein dunkles Gefühl ohne Bewußtseyn, ohne Erinnerung, ein vernunftloser Zustand, in welchem wir uns des Vergangenen nicht erinnern, und dessen wir uns auch in Zukunft nie wieder besinnen. Sollte nun unsere Seele mit der Trennung von dem Leibe in eine Art von Schlaf oder Hinbrüten versinken, und nie wieder aufwachen, was hätten wir durch ihre Fortdauer gewonnen? Ein vernunftloses Daseyn ist von der Unsterblichkeit, die du hoffest, noch weiter entfernt, als die Glückseligkeit der Thiere von der Glückseligkeit eines Gott erkennenden Geistes. Wenn das, was ihm nach dem Tode wiederfähret, uns angehen, und schon hienieden Furcht oder Hoffnung in uns erregen soll: so müssen wir selbst, die wir uns allhier unser bewußt sind, noch in jenem Leben dieses Selbstgefühl behalten, und uns des Gegenwärtigen erinnern[83] können. Wir müssen das, was wir seyn werden, mit dem, was wir jetzt sind, vergleichen, und darüber urtheilen können. Ja, wo ich dich recht verstanden, mein lieber Sokrates! so erwartest du nach dem Tode ein besseres Leben, eine größere Erleuchtung des Verstandes, edlere und erhabnere Bewegungen des Herzens, als dem beglücktesten Sterblichen auf Erden zu Theile worden: worauf gründet sich diese schmeichelnde Hoffnung? Der Mangel alles Bewustseyns ist für unsere Seele ein nicht unmöglicher Zustand: hievon überzeugt uns die tägliche Erfahrung. Wie, wenn ein solcher nach dem Tode in Ewigkeit fortdauren sollte?

Zwar hast du uns vorhin gezeigt, daß alles Veränderliche unaufhörlich verändert werden müsse, und aus dieser Lehre leuchtet ein Stral der Hoffnung, daß meine Besorgniß ungegründet sey. Denn, wenn die Reihe der Veränderungen, die unserer Seele bevorstehen, ins Unendliche fortgehen, so ist höchst wahrscheinlich, daß sie nicht bestimmt sey, in Ewigkeit fort zu sinken, und von ihrer göttlichen Schönheit immer mehr und mehr zu verlieren; sondern daß sie sich, wenigstens mit der Zeit, auch erheben und die Stoffe wieder einnehmen werde, auf welcher sie vormals in der Schöpfung gestanden, nehmlich eine Betrachterinn der Werke Gottes zu seyn. Und mehr als einen hohen Grad der Wahrscheinlichkeit braucht es nicht, uns in der Vermuthung zu bestärken, daß dem Tugendhaften ein besseres Leben bevorstehet. Indessen, mein lieber Sokrates! wünsche ich auch diesen Punkt von dir berühret zu sehen, weil ich weiß, daß alle Worte, die du heute sprichst, sich tief in meine Seele eingraben, und von unauslöschlichem Andenken seyn werden.

Wir hörten alle aufmerksam zu, und wie wir uns nachher gestanden, nicht ohne Unwillen, daß man uns eine Lehre zweifelhaft und ungewiß machte, von welcher wir so sehr überzeugt zu seyn glaubten. Nicht nur diese Lehre, sondern alles, was wir wußten und glaubten, schien uns damals ungewiß und schwankend zu werden, da wir sahen, daß entweder wir die Gabe nicht besitzen, Wahrheit vom Irrthum zu unterscheiden, oder daß sie an und für sich selbst nicht zu unterscheiden seyn müßten.

ECHEKRATES: Mich wundert dieses auf keinerley Weise, mein lieber Phädon! daß ihr so dachtet: mir selbst ward, indem ich dir zuhörte, nicht[84] anders zu Muthe. Die Gründe des Sokrates hatten mich völlig überführt, und ich schien versichert, daß ich sie niemahls würde in Zweifel ziehen können; allein des Simmias Einwurf macht mich wieder zweifelhaft, und ich erinnere mich, daß ich vormals eben der Meynung gewesen, daß die Kraft zu denken eine Eigenschaft des Zusammengesetzten seyn, und ihren Grund in einer feinen Organisation oder Harmonie der Theile haben könne. Aber sage mir, lieber Phädon, wie hat Sokrates diese Einwürfe aufgenommen? ward er so verdrießlich darüber, als ihr, oder begegnete er ihnen mit seiner gewöhnlichen Sanftmuth? und hat seine Antwort euch Gnüge gethan, oder nicht? Ich möchte dieses alles gern so umständlich als möglich von dir vernehmen.

PHÄDON: Habe ich den Sokrates jemals bewundert, mein lieber Echekrates! so war es gewiß bey dieser Gelegenheit. Daß er eine Wiederlegung in Bereitschaft hatte, ist eben nichts unerwartetes von ihm. Was mir bewundernswürdig schien, war erstlich, die Gütigkeit, Freundlichkeit und Sanftmuth, womit er das Vernünfteln dieser jungen Leute aufgenommen, so dann wie schnell er gemerkt, was für Eindrücke die Einwürfe auf uns gemacht, wie er uns zu Hülfe eilete, wie er uns gleichsam von der Flucht zurück rief, zur Gegenwehr aufmunterte, und selbst zum Streite anführte.

ECHEKRATES: Wie war dieses?

PHÄDON: Das will ich dir erzählen.


Ich saß ihm zur Rechten, neben dem Bette, auf einem niedrigen Sessel, er aber etwas höher, als ich. Er ergriff mein Haupt, und streichelte mir die Haare, die in den Nacken herunter hangen; wie er denn gewohnt war zuweilen mit meinen Locken zu spielen: Morgen, sprach er, Phädon! dürftest du wohl diese Locken auf das Grab eines Freundes streuen. Allem Ansehen nach, erwiederte ich. O! thue es nicht, versetzte er. Warum denn das? fragte ich. Noch heute, fuhr er fort, müssen wir beide unser Haar abschneiden, wenn unser schönes Lehrgebäude so dahin stirbt, und wir nicht im Stande sind, es wieder aufzuwecken. Und wenn[85] ich an deiner Stelle wäre, und man hätte mir eine solche Lehre zu Grunde gerichtet: so würde ich, wie jener Argiver, ein Gelübde thun, nicht eher mein Haupthaar wieder wachsen zu lassen, bis ich des Simmias und Cebes Gegengründe besiegt hätte. Man pflegt zu sagen, sprach ich: Herkules selbst richtet wider Zween nichts aus. So rufe denn, weil es noch helle ist, mich, deinen Jolaus, zu Hülfe, versetzte er. Gut! sprach ich, ich will dich zu Hülfe rufen; aber nicht wie Herkules seinen Jolaus, sondern wie Jolaus den Herkules. Das thut nichts zur Sache, erwiederte er. Vor allen Dingen müssen wir uns vor einem gewissen Fehltritt in acht nehmen. Vor welchem? fragte ich. Daß wir nicht Vernunfthasser werden, sprach er, so wie gewisse Leute Menschenhasser werden. Kein größeres Unglück könnte uns wiederfahren, als dieser Vernunfthaß. Indessen entstehet der Vernunfthaß und der Menschenhaß auf eine ähnliche Weise. Dieser entstehet insgemein, wenn man Anfangs ein blindes Vertrauen in Jemanden setzet, und ihn in allen Stücken für einen getreuen, aufrichtigen, und rechtschaffenen Menschen hält, so dann aber erfähret, daß er weder aufrichtig noch rechtschaffen sey; besonders wenn uns dieses zu wiederholten malen, und so gar in Ansehung derer begegnet, die wir für unsere besten und vertrautesten Freunde gehalten. Alsdann wird man mißvergnügt, wirft seinen Haß auf alle Menschen ohne Unterschied, und trauet Niemanden mehr die mindeste Rechtschaffenheit zu. Hast du nicht bemerkt, daß es also zu gehen pflegt? Sehr oft, antwortete ich. Ist dieses aber nicht schändlich? und heißt es nicht, ohne die geringste Einsicht in die menschliche Natur, von der menschlichen Gesellschaft Nutzen haben wollen? Wer nicht ganz ohne Nachdenken ist, findet hierinn gar leicht die Mittelstraße, die in der That auch die Wahrheit für sich hat. Der vollkommen guten oder bösen Menschen sind nur sehr wenige. Die mehresten halten ungefähr das Mittel zwischen beiden Grenzen: – Wie sagst du? fragte ich. – So wie etwa, sprach er, in Ansehung des Größten und Kleinsten, oder der übrigen Eigenschaften. Was ist seltner, als ein Mensch, Hund oder anderes Geschöpf, das sehr groß oder sehr klein, sehr schnell oder sehr langsam, außerordentlich schön, häßlich, schwarz, weiß, u.s.w. sey? Und hast du nicht auch bemerkt, daß in allen diesen Dingen, das Aeußerste an beiden Seiten wenig und selten, das Mittelmäßige hingegen am allerhäufigsten angetroffen[86] wird? Mich dünkt es, sprach ich. Meynest du nicht, versetzte er, wenn auf die äußerste Nichtswürdigkeit ein Preis gesetzt würde, daß sehr wenige Menschen denselben verdienen würden? Wahrscheinlicher Weise, antwortete ich. Höchst wahrscheinlicher Weise, fuhr er fort. Jedoch in diesem Punkte findet sich zwischen der Vernunft und zwischen dem menschlichen Geschlechte vielmehr eine Unähnlichkeit, als eine Aehnlichkeit: und ich bin durch deine Fragen auf diesen Abweg verleitet worden. Die Aehnlichkeit ist aber alsdann zu sehen, wann Jemand, ohne gehörige Untersuchung, und ohne Einsicht in die Natur der menschlichen Vernunft, irgend einen Schluß für wahr und bindig hält, und kurz darauf ihn wiederum unwahr zu finden glaubt, er möchte es nun an und für sich selbst seyn, oder nicht: – vornehmlich wenn dieses, so wie vorhin in Ansehung der Freundschaft, sich öfters zugetragen. Alsdann ergehet es ihm, wie jenen berüchtigten Tausendkünstlern, die so lange was man nur will verfechten und wiederlegen, bis sie sich einbilden, die Weisesten unter den Sterblichen, ja die einzigen zu seyn, die da wahrgenommen, daß die Vernunft, so wie alle übrigen Dinge auf Erden, nichts Sicheres und Zuverläßiges habe; sondern daß alles, wie auf dem Euripus, im Meerstrudel auf und nieder schwanke, und keinen Augenblick an seiner vorigen Stelle bleibe. Es ist wahr, sagte ich. Wie aber, mein lieber Phädon, fuhr er fort: gesetzt, die Wahrheit sey an und für sich nicht nur zuverläßig und unveränderlich, sondern auch dem Menschen nicht ganz unbegreiflich: und es ließe sich jemand von dergleichen Vorspiegelungen von Gründen und Gegengründen, die sich einander aufheben, dahin verleiten, daß er nicht sich und seiner Unfähigkeit die Schuld gäbe, sondern aus Unwillen sie lieber der Vernunft selbst zur Last legte, und die übrige Zeit seines Lebens alle Vernunftgründe hassete und verabscheuete, alle Wahrheit und alle Erkenntniß ferne von sich seyn ließe: wäre das Unglück dieses Menschen nicht bejammernswerth? Beym Jupiter! antwortete ich, sehr bejammernswerth. Wir müssen also fürs erste diesen Irrthum zu vermeiden, und uns zu überzeugen suchen, daß nicht die Wahrheit selbst ungewiß und schwankend, sondern unser Verstand öfters zu schwach sey, dieselbe feste zu halten, und sich ihrer zu bemeistern; daher wir unsere Kräfte und unsern Muth verdoppeln und immer neue Angriffe wagen müssen. Wir alle sind dazu verpflichtet, meine Freunde! Ihr des bevorstehenden Lebens,[87] und ich des Todes halber; ja, ich habe so gar einen Bewegungsgrund dazu, der ziemlich nach gemeiner, unwissenden Leute Denkungsart, mehr rechtsüchtig, als wahrheitliebend scheinen dürfte. Wenn diese etwas Zweifelhaftes zu untersuchen haben, so bekümmern sie sich wenig, wie die Sache an sich selber beschaffen sey, wenn sie nur Recht und ihre Meinungen von den Anwesenden Beyfall erhalten. Ich werde von diesen Leuten nur in Einem Punkte unterschieden seyn. Denn daß ich die Anwesenden von meiner Meynung überführe, ist bey mir nur eine Nebenabsicht; meine vornehmste Sorge gehet dahin, mich selbst zu bereden, daß sie der Wahrheit gemäß sey, weil ich gar zu großen Vortheil dabey finde. Denn siehe, liebster Freund! ich mache folgenden Schluß: Ist die Lehre, die ich vortrage, gegründet, so thue ich wohl, daß ich mich davon überzeuge; ist aber den Verstorbenen keine Hoffnung mehr übrig, so gewinne ich wenigstens dieses, daß ich meinen Freunden noch vor meinem Tode nicht durch Klagen beschwerlich falle. Ich ergetze mich zuweilen an dem Gedanken, daß alles, was dem gesamten menschlichen Geschlechte wahren Trost und Vortheil bringen würde, wenn es wahr wäre, schon deswegen sehr viel Wahrscheinlichkeit für sich habe, daß es wahr sey. Wenn die Zweifelsüchtigen wider die Lehre von Gott und der Tugend vorwenden, sie sey eine bloße politische Erfindung, die zum Besten der menschlichen Gesellschaft erdacht worden: so möchte ich ihnen allezeit zurufen: O! meine Freunde! erdenket einen Lehrbegriff, welcher der menschlichen Gesellschaft so unentbehrlich ist, und ich wette daß er wahr sey. Das menschliche Geschlecht ist zur Geselligkeit, so wie jedes Glied zur Glückseligkeit berufen. Alles, was auf eine allgemeine, sichere und beständige Weise zu diesem Endzwecke führen kann, ist unstreitig von dem weisesten Urheber aller Dinge als ein Mittel gewählt, und hervorgebracht worden. Diese schmeichelhafte Vorstellungen haben ungemein viel Tröstliches, und zeigen uns das Verhältniß zwischen dem Schöpfer und dem Menschen in dem erquickendsten Lichte: daher ich nichts so sehr wünsche, als mich von der Wahrheit derselben zu überzeugen. Jedoch, es wäre nicht gut, wenn meine Unwissenheit hierüber noch lange dauren sollte. Nein! ich werde bald davon befreyet werden. – In dieser Verfassung, Simmias und Cebes! wende ich mich zu euren Einwürfen. Ihr, meine Freunde! wenn ihr meinem Rathe folgen wollet, so sehet mehr auf die Wahrheit,[88] als auf den Sokrates. Findet ihr, daß ich der Wahrheit getreu bleibe, so gebt mir Beyfall; wo nicht, so wiedersetzet euch ohne die geringste Nachsicht: damit ich nicht, aus gar zu guter Meynung, euch und mich selbst hintergehe, und wie eine Biene, die ihren Stachel zurück läßt, von euch scheide. –

Wohlan, meine Freunde! merket auf, und erinnert mich, wo ich etwas von euren Gründen auslassen, oder unrichtig vortragen würde. Simmias räumet ein, daß unser Denkungsvermögen entweder für sich geschaffen seyn, oder durch die Zusammensetzung und Bildung des Körpers hervorgebracht werden muß: Nicht? – Richtig! – In dem ersten Falle, wenn die Seele nehmlich als ein für sich geschaffenes unkörperliches Ding zu betrachten, billiget er ferner die Reihe von Vernunftschlüssen, durch welche wir bewiesen, daß sie nicht mit dem Körper aufhören, durchaus nicht anders vergehen könne, als durch den allmächtigen Wink ihres Urhebers. Wird dieses noch zugegeben, oder stehet unter euch jemand noch an? – Wir stimmten alle willig ein. – Und daß dieser allgütige Urheber kein Werk seiner Hände jemals zernichte: so viel ich mich erinnere, hat auch hieran Niemand gezweifelt. – Niemand. – Aber dieses befürchtet Simmias: Vielleicht ist unser Vermögen zu empfinden und zu denken kein für sich erschaffenes Wesen; sondern, wie die Harmonie, wie die Gesundheit, oder wie das Leben der Pflanzen und der Thiere, die Eigenschaft eines künstlich gebildeten Körpers: war es nicht dieses, was du besorgtest? – Eben dieses, mein Sokrates! – Wir wollen sehen, sprach er, ob dasjenige, was wir von unserer Seele wissen, und so oft wir wollen erfahren können, nicht deine Besorgniß unmöglich machet. Was geschiehet bey der künstlichsten Bildung oder Zusammensetzung der Dinge? werden da nicht gewisse Dinge näher zusammengebracht, die vorhin von einander entfernet waren? – Allerdings! – Sie sind vorhin mit andern in Verbindung gewesen, und nunmehr werden sie unter sich verbunden, und machen die Bestandtheile des Ganzen aus, das wir ein Zusammengesetztes nennen? – Gut! – Durch diese Verbindung der Theile entstehet erstlich in der Art und Weise, wie diese Bestandtheile neben einander sind, eine gewisse Ordnung, die mehr oder weniger vollkommen ist. – Richtig! – So dann werden auch die Kräfte und Wirksamkeiten der Bestandtheile durch die Zusammensetzung mehr oder weniger verwandelt, nachdem sie durch[89] Wirkung und Gegenwirkung bald gehemmet, bald befördert, und bald in ihrer Richtung verändert werden: Nicht? – Es scheinet. – Der Urheber einer solchen Zusammensetzung siehet bald einzig und allein auf das Nebeneinanderseyn der Theile: Z.B. bey der Wohlgereimtheit und dem Ebenmaß in der Baukunst, wo nichts als diese Ordnung des Nebeneinanderseyenden in Betrachtung kömmt; bald hingegen gehet seine Absicht auf die veränderte Wirksamkeit der Bestandtheile, und die daraus erfolgte Kraft des Zusammengesetzten, wie bey einigen Triebwerken und Maschinen; ja es giebt dergleichen, wo man deutlich siehet, daß der Künstler sein Absehen auf beides, auf die Ordnung der Theile und auf die Abänderung ihrer Wirksamkeit zugleich gerichtet hat. – Der menschliche Künstler, sprach Simmias, vielleicht etwas selten, aber der Urheber der Natur scheinet diese Absichten allezeit auf das allervollkommenste verbunden zu haben. – Vortrefflich, versetzte Sokrates; jedoch ich verfolge diese Nebenbetrachtung nicht weiter. Sage mir nur dieses, mein Simmias! kann durch die Zusammensetzung eine Kraft im Ganzen entstehen, die nicht in der Wirksamkeit der Bestandtheile ihren Grund hat? – Wie meynst du, mein Sokrates! – Wenn alle Theile der Materie, ohne Wirkung und Wiederstand, in einer todten Ruhe nebeneinanderlägen, würde die künstlichste Ordnung und Versetzung derselben, im Ganzen irgend eine Bewegung, einen Widerstand, überhaupt eine Kraft hervor bringen können? – Es scheinet nicht, antwortete Simmias; aus unwirksamen Theilen kann wohl kein wirksames Ganzes zusammengesetzt werden. – Gut! sprach er, wir können diesen Grundsatz also annehmen. Allein wir bemerken gleichwohl, daß in dem Ganzen Uebereinstimmung und Ebenmaß angetroffen werden kann, ob gleich jeder Bestandtheil für sich weder Harmonie, noch Ebenmaß hat; wie gehet dieses zu? Kein einzelner Laut ist harmonisch: und gleichwohl machen viele zusammen eine Harmonie aus. Ein wohlgeordnetes Gebäude kann aus Steinen bestehen, die weder Ebenmaß noch Regelmäßigkeit haben. Warum kann ich hier aus unharmonischen Theilen ein harmonisches Ganzes, aus regellosen Theilen ein höchst regelmäßiges Ganzes zusammensetzen? – O! dieser Unterschied ist handgreiflich, versetzte Simmias, Ebenmaß, Harmonie, Regelmäßigkeit, Ordnung, u.s.w. können, ohne Mannigfaltigkeit, nicht gedacht werden: denn sie bedeuten das Verhältniß verschiedener Eindrücke,[90] wie sie sich uns, zusammengenommen, und in Vergleichung gegeneinander, darstellen. Es gehört also zu diesen Begriffen ein Zusammennehmen, eine Vergleichung mannigfaltiger Eindrücke, die zusammen ein Ganzes ausmachen, und sie können daher den einzelnen Theilen unmöglich zukommen. – Fahre fort, mein lieber Simmias! rief Sokrates mit einem innern Wohlgefallen über die Scharfsinnigkeit seines Freundes; sage uns auch dieses: Wenn jeder einzelne Laut nicht einen Eindruck in das Gehör machen sollte, würde aus vielen wohl eine Harmonie entstehen können? – Unmöglich! – So auch mit dem Ebenmaße: Jeder Theil muß in das Auge wirken, wenn aus vielen das, was wir Ebenmaß nennen, entstehen soll. – Nothwendiger Weise. – Wir sehen also auch hier, daß im Ganzen keine Wirksamkeit entstehen kann, wovon der Grund nicht in den Bestandtheilen anzutreffen, und daß alles übrige, was aus den Eigenschaften der Elemente und Bestandtheile nicht fließt, wie die Ordnung, Symmetrie, u.s.w. einzig und allein in der Art der Zusammensetzung zu suchen sey. Sind wir von diesem Satze überzeugt, meine Freunde? – Vollkommen. – Es kömmt also bey jeder, auch der allerkünstlichsten Zusammensetzung der Dinge, zweyerley zu betrachten vor: erstlich, die Folge und Ordnung der Bestandtheile in der Zeit oder im Raum; sodann, die Verbindung der ursprünglichen Kräfte, und die Art und Weise, wie sie sich im Zusammengesetzten äußern. Durch die Anordnung und Lage der Theile werden zwar die Wirkungen der einfachen Kräfte eingeschränkt, bestimmt und abgeändert, aber niemals kann durch die Zusammensetzung eine Kraft oder Wirksamkeit erhalten werden, deren Ursprung nicht in den Grundtheilen zu suchen ist. Ich verweile mich hier ein wenig bey diesen subtilen Grundbetrachtungen, meine Freunde! wie ein Wettläufer, der zu verschiedenen malen ansetzt, um alsdann mit vermehrtem Triebe fortzueilen, sich um das Ziel herumzuschwenken, und, wenn ihm die Götter Glück und Ruhm beschieden, den Sieg davon zu tragen. Erwäge es mit mir, mein lieber Simmias! wenn unser Vermögen zu empfinden und zu denken kein für sich erschaffenes Wesen, sondern eine Eigenschaft des Zusammengesetzten seyn soll: muß es nicht entweder, wie Harmonie und Ebenmaß, aus einer gewissen Lage und Ordnung der Theile erfolgen, oder, wie die Kraft des Zusammengesetzten, seinen Ursprung in der Wirksamkeit der Bestandtheile haben? –[91] Allerdings, da, wie wir gesehen, kein Drittes sich gedenken läßt. – In Ansehung der Harmonie haben wir gesehen, daß z.B. jeder einzelne Laut nichts Harmonisches hat, und die Uebereinstimmung bloß in Gegeneinanderhaltung und Vergleichung verschiedener Laute bestehe: Nicht? – Richtig! – Eine gleiche Bewandniß hat es mit der Symmetrie und Regelmäßigkeit eines Gebäudes: sie bestehet in der Zusammenfassung und Vergleichung vieler einzelnen unregelmäßigen Theile. Dieses ist nicht zu leugnen. Aber diese Vergleichung und Gegeneinanderhaltung, ist sie wohl etwas anders, als die Wirkung des Denkungsvermögens? und wird sie, außer dem denkenden Wesen, irgendwo in der Natur anzutreffen seyn? – Simmias wußte nicht, was er hier auf antworten sollte. – In der undenkenden Natur, fuhr Sokrates fort, folgen einzelne Laute, einzelne Steine auf und neben einander. Wo ist hier Harmonie, Symmetrie, oder Regelmäßigkeit? Wenn kein denkendes Wesen hinzukömmt, das die mannigfaltigen Theile zusammennimmt, gegeneinander hält, und in dieser Vergleichung eine Uebereinstimmung wahrnimmt, so weiß ich sie nirgend zu finden; oder weißt du, mein lieber Simmias! in der seelenlosen Natur ihre Spur aufzusuchen? – Ich muß mein Unvermögen bekennen, war seine Antwort, ob ich gleich merke, wohin dieses abzielet. – Eine glückliche Vorbedeutung! rief Sokrates, wenn den Gegner selbst seine Niederlage ahndet. Antworte mir indessen unverdrossen, mein Freund! denn du hast keinen geringen Theil an dem Siege, den wir über dich selbst zu erhalten hoffen: Kann der Ursprung einer Sache aus ihren eignen Wirkungen erkläret werden? – Auf keinerley Weise. – Ordnung, Ebenmaß, Harmonie, Regelmäßigkeit, überhaupt alle Verhältnisse, die ein Zusammennehmen und Gegeneinanderhalten des Mannigfaltigen erfodern, sind Wirkungen des Denkungsvermögens. Ohne Hinzuthun des denkenden Wesens, ohne Vergleichung und Gegeneinanderhaltung der mannigfaltigen Theile ist das regelmäßigste Gebäude ein bloßer Sandhaufen, und die Stimme der Nachtigall nicht harmonischer, als das Aechzen der Nachteule. Ja ohne diese Wirkung giebt es in der Natur kein Ganzes, das aus vielen außer einander seyenden Theilen bestehet; denn diese Theile haben ein jedes sein eignes Daseyn, und sie müssen gegen einander gehalten, verglichen, und in Verbindung betrachtet werden, wenn sie ein Ganzes ausmachen sollen. Das denkende Vermögen, und dieses allein in[92] der ganzen Natur, ist fähig, durch eine innerliche Thätigkeit Vergleichungen, Verbindungen und Gegeneinanderhaltungen wirklich zu machen: daher der Ursprung alles Zusammengesetzten, der Zahlen, Größen, Symmetrie, Harmonie u.s.w. in so weit sie ein Vergleichen und Gegeneinanderhalten erfordern, einzig und allein in dem denkenden Vermögen zu suchen seyn muß. Und da dieses zugegeben wird, so kann ja dieses Denkungsvermögen selbst, diese Ursache aller Vergleichung und Gegeneinanderhaltung, unmöglich aus diesen ihren eigenen Verrichtungen entspringen, unmöglich in einem Verhältniß, Harmonie, Symmetrie, unmöglich in einem Ganzen bestehen, das aus außereinander seyenden Theilen zusammengesetzt ist: denn alle diese Dinge setzen die Wirkungen und Verrichtungen des denkenden Wesens voraus, und können nicht anders, als durch dieselben, wirklich werden. – Dieses ist sehr deutlich, versetzte Simmias. – Da ein jedes Ganzes, das aus Theilen, die außer einander sind, bestehet, ein Zusammennehmen und Vergleichen dieser Theile zum voraus setzet, dieses Zusammennehmen und Vergleichen aber die Verrichtung eines Vorstellungsvermögens seyn muß: so kann ich den Ursprung dieses Vorstellungsvermögens selbst nicht in ein Ganzes setzen, das aus solchen auseinanderseyenden Theilen bestehet, ohne eine Sache durch ihre eigenen Verrichtungen entstehen zu lassen. Und eine solche Ungereimtheit haben die Fabeldichter selbst, so viel ich weiß, noch niemals gewagt. Niemand hat noch den Ursprung einer Flöte in das Zusammenstimmen ihrer Töne, oder den Ursprung des Sonnenlichts in den Regenbogen gesetzt. – Wie ich vermerke, mein lieber Sokrates! ist nunmehro auch der Ueberrest unsers Zweifels dahin. – Er verdienet indessen besonders erwogen zu werden, erwiederte jener, wenn ich anders durch diese dornigten Untersuchungen eure Geduld nicht ermüde. Wage es immer, Freund! rief ihm Kriton zu, auch die Geduld dieser auf die Probe zu setzen. Du hast der meinigen wenigstens nicht geschonet, als ich heute früh auf die Ausführung eines Vorschlages drang – – Nichts von einer Sache, fiel ihm Sokrates in das Wort, die nunmehr ihre zuverläßige Richtigkeit hat. Wir haben hier Dinge zu untersuchen, die noch dem Zweifel unterworfen zu seyn scheinen. Zwar dieses nicht mehr, daß unser Vermögen zu empfinden und zu denken in der Lage, Bildung, Ordnung und Harmonie der körperlichen Bestandtheile zu suchen seyn sollte: dieses haben[93] wir, ohne weder der Allmacht noch der Weisheit Gottes zu nahe zu treten, als unmöglich verworfen. Aber vielleicht ist dieses denkende Vermögen, eine von den Thätigkeiten des Zusammengesetzten, die von der Lage und Bildung der Theile wesentlich unterschieden, und dennoch nirgend anders, als im Zusammengesetzten, anzutreffen sind? Ist dieses nicht der einzige Ueberrest des Zweifels, den wir bestreiten? mein werther Simmias! – Richtig! – Wir wollen also diesen Fall setzen, fuhr Sokrates fort, und annehmen, unsere Seele sey eine Wirksamkeit des Zusammengesetzten. Wir haben gefunden, daß alle Wirksamkeiten des Zusammengesetzten aus den Kräften der Bestandtheile fließen müssen: werden also nach unserer Voraussetzung, die Bestandtheile unsers Körpers nicht Kräfte haben müssen, aus denen im Zusammengesetzten das Vermögen zu denken resultiret? – Allerdings! – Aber die Kräfte dieser Bestandtheile, von welcher Natur und Beschaffenheit wollen wir sie annehmen? sollen sie der denkenden Thätigkeit ähnlich oder unähnlich seyn? – Diese Frage begreife ich nicht recht, war Simmias Antwort. – Eine einzelne Sylbe, sprach Sokrates, hat mit der ganzen Rede dieses gemein, daß sie vernehmlich ist; aber die ganze Rede hat einen Verstand, die Sylbe keinen: Nicht? – Richtig! – Indem also nur jede Sylbe ein zwar vernehmliches, aber verstandleeres Gefühl erregt, so entspringet aus ihrem Inbegriffe dennoch ein verständiger Sinn, der auf unsere Seele wirkt. Allhier resultiret die Wirksamkeit des Ganzen aus den Kräften der Theile, die ihnen unähnlich sind. – Dieses läßt sich begreifen. – In Ansehung der Harmonie, Ordnung und Schönheit haben wir ein gleiches wahrgenommen. Das Wohlgefallen, das sie in der Seele wirken, entspringet aus den Eindrücken der Bestandtheile, deren jeder weder Wohlgefallen noch Mißfallen erregen kann. – Gut! – Abermals ein Beyspiel, daß die Thätigkeit des Ganzen aus Kräften der Bestandtheile, die ihnen unähnlich sind, entspringen könne. – Ich gebe es zu. – Ich weiß nicht, ob ich nicht vielleicht zu weit gehe, mein Freund! aber ich stelle mir vor, alle Thätigkeiten körperlicher Dinge können aus solchen Kräften des Urstoffs entspringen, die ihnen ganz unähnlich sind. Die Farbe z.B. kann vielleicht in solche Eindrücke aufgelöset werden, die nichts gefärbtes haben, und die Bewegung selbst entspringet vielleicht aus ursprünglichen Kräften, die nichts weniger als Bewegung sind. – Dieses würde einen Beweis erfodern, sprach Simmias. – Es ist[94] aber vorjetzt nicht nöthig, daß wir uns hierbey aufhalten, sprach jener, es ist genug, daß ich durch Beispiele erläutert, was ich unter den Worten verstehe: die Wirksamkeit des Ganzen könne aus Kräften der Bestandtheile, die ihnen unähnlich sind, entspringen. Ist dieses nunmehro deutlich? – Vollkommen! – Nach unsrer Voraussetzung also würden die Kräfte der Bestandtheile entweder selbst Vorstellungskräfte, und also der Kraft des Ganzen, die aus ihnen entspringen soll ähnlich, oder von einer ganz andern Beschaffenheit, und daher unähnlich seyn. Giebt es ein Drittes? – Unmöglich! – Antworte mir aber auch auf dieses, mein Lieber! Wenn aus einfachen Kräften eine von ihnen verschiedene Kraft im Zusammengesetzten entspringen soll, wo kann diese Verschiedenheit anzutreffen seyn? Außer dem denkenden Wesen sind die Kräfte des Ganzen nichts anders, als die einzelnen Kräfte der einfachen Bestandtheile, wie sie sich durch Wirkungen und Gegenwirkungen einander abändern, und einschränken. Von dieser Seite findet also die Unähnlichkeit nicht statt, und wir müssen abermals unsere Zuflucht zu dem denkenden Wesen nehmen, das die Kräfte in Verbindung und zusammengenommen sich anders vorstellet, als sie dieselben einzeln und ohne Verbindung denken würde. Ein Beyspiel hie von siehet man, außer der Harmonie, auch an den Farben. Bringet zwo verschiedene Farben in einen so kleinen Raum zusammen, daß sie das Auge nicht unterscheiden kann: so werden sie in der Natur noch immer getrennet, und isolirt bleiben; aber unsere Empfindung wird sich gleichwohl aus derselben eine Dritte zusammensetzen, die mit jenen nichts gemein hat. Eine ähnliche Beschaffenheit hat es mit dem Geschmack, und, wo ich nicht irre, mit allen unsern Fühlungen und Empfindungen überhaupt. Sie können durch die Zusammensetzung und Verbindung zwar an und für sich nicht anders werden, als sie einzeln sind; wohl aber dem denkenden Wesen, das sie nicht deutlich auseinander setzen kann, anders scheinen, als sie ohne Verbindung scheinen würden. – Dieses kann zugegeben werden, sprach Simmias. – Kann also das denkende Wesen seinen Ursprung in einfachen Kräften haben, die nicht denkend sind? – Unmöglich! da wir vorhin gesehen, daß das Vermögen zu denken in keinem Ganzen, das aus vielen bestehet, seinen Ursprung haben könne. – Ganz recht! erwiederte Sokrates: das Zusammennehmen der einfachen Kräfte, aus welchen eine unähnliche Kraft des Zusammengesetzten[95] entspringen soll, setzet ein denkendes Wesen zum voraus, dem sie in Verbindung anders scheinen, als sie sind; daher kann aus diesem Zusammennehmen, aus dieser Verbindung unmöglich das denkende Wesen entspringen. Wenn also das Empfinden und Denken, mit einem Worte, das Vorstellen eine Kraft des Zusammengesetzten seyn soll: müssen die Kräfte der Bestandtheile nicht der Kraft des Ganzen ähnlich und folglich gleichfalls Vorstellungskräfte seyn? – Wie wäre es anders möglich, nachdem es kein Drittes geben kann? – Und die Theile dieser Bestandtheile, so weit nur immer die Theilbarkeit reichen kann, müssen diese nicht auch dergleichen Vorstellungsthätigkeiten haben? – Unstreitig! da jeder Bestandtheil wieder ein Ganzes ist, das aus kleinern Theilen bestehet, und unsre Vernunftschlüsse so lange fortgesetzet werden können, bis wir auf Grundtheile kommen, die einfach sind und nicht aus vielen bestehen. – Sage mir, mein lieber Simmias! finden wir nicht in unsrer Seele eine fast unendliche Menge von Begriffen, Erkenntnissen, Neigungen, Leidenschaften, die uns unaufhörlich beschäfftigen? – Allerdings! – Wo wären diese in den Theilen anzutreffen? Entweder zerstreuet, einige in diesem, andere in jenem, ohne jemals wiederholt zu werden; oder es giebt wenigstens ein einziges unter ihnen, das alle diese Erkenntnisse, Begierden und Abneigungen, so viel ihrer in unsrer Seele anzutreffen, vereiniget und in sich fasset. – Nothwendig eines von beiden, gab Simmias zur Antwort, und wie mich dünkt dürfte der erste Fall unmöglich seyn : denn alle Vorstellungen und Neigungen unsers Geistes sind so innerlich verknüpft und vereiniget, daß sie nothwendig auch irgend wo unzertrennt zugegen seyn müssen. – Du eilst mir mit starken Schritten entgegen, mein lieber Simmias! Wir würden weder uns erinnern, noch überlegen, noch vergleichen, noch denken können, ja wir würden nicht einmal die Person seyn, die wir vor einem Augenblick gewesen, wenn unsere Begriffe unter vielen vertheilet und nicht irgend wo zusammen in ihrer genauesten Verbindung anzutreffen wären. Wir müssen also wenigstens eine Substanz annehmen, die alle Begriffe der Bestandtheile vereiniget, und diese Substanz wird sie aus Theilen zusammengesetzt seyn können? – Unmöglich, sonst brauchen wir wieder ein Zusammennehmen und Gegeneinanderhalten, damit aus den Theilen ein Ganzes werde, und wir kommen wiederum dahin, wo wir ausgegangen sind. – Sie wird also einfach[96] seyn? – Nothwendig. – Auch unausgedehnt? denn das Ausgedehnte ist theilbar, und das Theilbare nicht einfach: – Richtig! – Es giebt also in unserm Körper wenigstens eine einzige Substanz, die nicht ausgedehnt, nicht zusammengesetzt, sondern einfach ist, eine Vorstellungskraft hat, und alle unsere Begriffe, Begierden und Neigungen in sich vereiniget. Was hindert uns, diese Substanz Seele zu nennen? – Es ist gleichviel, vortrefflicher Freund! erwiederte Simmias, welchen Namen wir ihr geben, genug daß mein Einwurf bey ihr nicht statt findet, und alle deine Vernunftschlüsse, die du für die Unvergänglichkeit des denkenden Wesens vorgebracht, nunmehr unumstößlich sind. – Lasset uns noch dieses in Erwägung ziehen, versetzte jener: Wenn viele dergleichen Substanzen in einem menschlichen Körper zusammen wären, ja wenn wir alle Grundelemente unsers Körpers für Substanzen von dieser Natur halten wollten, würden meine Vernunftgründe für die Unvergänglichkeit dadurch etwas von ihrer Bindigkeit verlieren? oder würde uns eine solche Voraussetzung nicht vielmehr nöthigen, statt Eines unvergänglichen Geistes, viele zu gestatten, und also mehr einzuräumen, als wir zu unserm Vorhaben verlangten? Denn eine jede von diesen Substanzen würde, wie wir vorhin gesehen, den ganzen Innbegriff aller Vorstellungen, Wünsche und Begierden, des ganzen Menschen in sich fassen, und also, was den Umfang der Erkenntniß betrifft, würde ihre Kraft nicht eingeschränkter seyn können, als die Kraft des Ganzen. – Unmöglich eingeschränkter. – Und wie an Deutlichkeit, Wahrheit, Gewißheit und Leben der Erkenntniß? Setze viele verworrene, mangelhafte und schwankende Begriffe neben einander, wird dadurch ein aufgeklärter, vollständiger und bestimmter Begriff hervorgebracht? – Es scheinet nicht. – Wo nicht ein Geist hinzukömmt, der sie vergleichet, und durch Nachdenken und Ueberlegen sich eine vollkommnere Erkenntniß aus derselben selbst bildet: so hören sie in Ewigkeit nicht auf viele verworrene, mangelhafte und schwankende Begriffe zu seyn. – Richtig! – Die Bestandtheile des Menschen würden also Vorstellungen haben müssen, die eben so deutlich, eben so wahr, eben so vollkommen sind, als die Vorstellungen des Ganzen; denn aus weniger deutlichen, weniger wahren u.s.w. läßt sich keiner durch Zusammensetzen herausbringen, der einen großem Grad von diesen Vollkommenheiten haben sollte. – Dieses ist nicht zu leugnen. – Heißt aber dieses nicht, statt Eines[97] vernünftigen Geistes, den wir in jeden menschlichen Körper setzen wollten, ganz ohne Noth eine unzählige Menge derselben annehmen? – Freylich! – Und diese Menge der denkenden Substanzen selbst wird sich wahrscheinlicher Weise an Vollkommenheit einander nicht gleich seyn; denn dergleichen unnütze Vervielfältigungen finden in diesem wohl geordneten Weltall nicht statt. – Die allerhöchste Vollkommenheit ihres Schöpfers, antwortete Simmias, läßt uns dieses mit Zuverläßigkeit schließen. – Also wird eine unter den denkenden Substanzen, die wir in den menschlichen Körper gesetzt, die vollkommenste unter ihnen seyn, und folglich die deutlichsten und aufgeklärtesten Begriffe haben: Nicht? – Nothwendiger Weise! – Diese einfache Substanz, die unausgedehnt ist, Vorstellungsvermögen besitzt, die vollkommenste unter den denkenden Substanzen ist, die in mir wohnen, und alle Begriffe, deren ich mir bewußt bin, in eben der Deutlichkeit, Wahrheit, Gewißheit, u.s.w. in sich fasset, ist dieses nicht meine Seele? – Nichts anders, mein theurer Sokrates! – Mein lieber Simmias! nunmehr ist es Zeit, einen Blick hinter uns auf den Weg zu werfen, den wir zurück gelegt. Wir haben voraus gesetzt, das Denkungsvermögen sey eine Eigenschaft des Zusammengesetzten, und, wie wunderbar! aus dieser Voraussetzung selbst bringen wir, durch eine Reihe von Vernunftschlüssen, den schnurstracks entgegengesetzten Satz heraus, daß nehmlich das Empfinden und Denken nothwendig Eigenschaften des Einfachen und nicht Zusammengesetzten seyn müßten: ist dieses nicht ein hinlänglicher Beweis, daß jene Voraussetzung unmöglich, sich selbst widersprechend, und also zu verwerfen sey? – Niemand kann dieses in Zweifel ziehen. – Ausdehnung und Bewegung, fuhr Sokrates fort, in diese Grundbegriffe läßt sich, wie wir gesehen, alles auflösen, was dem Zusammengesetzten zukommen kann; die Ausdehnung ist der Stoff, und die Bewegung die Quelle, aus welchen die Veränderungen entspringen. Beyde zeigen sich in der Zusammensetzung unter tausend mannigfaltigen Gestalten, und stellen in der körperlichen Natur die unendliche Reihe wundervoller Bildungen dar, vom kleinsten Sonnenstäublein, bis zu jener Herrlichkeit der himmlischen Sphären, die von den Dichtern für den Sitz der Götter gehalten werden. Alle kommen darinn überein, daß ihr Stoff Ausdehnung, und ihre Wirksamkeit Bewegung ist. Aber Wahrnehmen, Vergleichen, Schließen, Begehren, Wollen, Lust und Unlust[98] empfinden, erfodern eine von Ausdehnung und Bewegung ganz verschiedene Bestandheit, einen andern Grundstoff, andere Quellen der Veränderungen. In einem einfachen Grundwesen muß hier vieles vorgestellet, das Außereinanderseyende zusammen begriffen, das Mannigfaltige gegeneinander gehalten, und das Verschiedene in Vergleichung gebracht werden. Was in dem weiten Raum der Körperwelt zerstreuet ist, dränget sich hier, ein Ganzes auszumachen, wie in einem Punkt zusammen, und was nicht mehr ist wird in dem gegenwärtigen Augenblick mit dem, was noch werden soll, in Vergleichung gebracht. Allhier erkenne ich weder Ausdehnung noch Farbe, weder Ruhe noch Bewegung, weder Raum noch Zeit, sondern ein innerlich wirksames Wesen, das Ausdehnung und Farbe, Ruhe und Bewegung, Raum und Zeit sich vorstellet, verbindet, trennet, vergleichet, wählet, und noch tausend anderer Beschaffenheiten fähig ist, die mit Ausdehnung und Bewegung nicht die mindeste Gemeinschaft haben. Lust und Unlust, Begierden und Verabscheuungen, Hoffnung und Furcht, Glückseligkeit und Elend, sind keine Ortveränderungen kleiner Erdstäublein. Bescheidenheit, Menschenliebe, Wohlwollen, das Entzücken der Freundschaft und das hohe Gefühl der Gottesfurcht sind etwas mehr, als die Wallungen des Geblüts, und das Schlagen der Pulsadern, von welchen sie begleitet zu werden pflegen. Dinge von so verschiedener Art, mein lieber Simmias! von so verschiedenen Eigenschaften können, ohne die äußerste Unachtsamkeit, nicht mit einander verwechselt werden. – Ich bin völlig befriediget, war Simmias Antwort. – Noch eine kleine Anmerkung, versetzte jener, bevor ich mich zu dir wende, mein Cebes! Das erste, was wir von dem Körper und seinen Eigenschaften wissen, ist es etwas mehr, als die Art und Weise, wie er sich unsern Sinnen darstellet? –

Etwas deutlicher, mein lieber Sokrates! – Ausdehnung und Bewegung sind Vorstellungen des denkenden Wesens von dem, was außer ihm wirklich ist: Nicht? – Zugegeben! – Wir mögen die zuverläßigsten Gründe haben, versichert zu seyn, daß die Dinge außer uns nicht anders sind, als sie uns ohne Hinderniß erscheinen: gehet nicht aber diesem ohngeachtet allezeit die Vorstellung selbst voran, und die Versicherung, daß ihr Gegenstand wirklich ist, folget nachher? – Wie ist es anders möglich, versetzte Simmias, da wir vom Daseyn der Dinge außer uns nicht anders, als durch ihre[99] Eindrücke benachrichtiget werden können? – In der Reihe unserer Erkenntniß gehet also allezeit das denkende Wesen voran, und das ausgedehnte Wesen folget; wir erfahren zuerst, daß Begriffe, und folglich ein begreifendes Wesen, wirklich seyn, und von ihnen schließen wir auf das wirkliche Daseyn des Körpers und seine Eigenschaften. Wir können uns von dieser Wahrheit auch dadurch überzeugen, weil der Körper, wie wir vorhin gesehen, ohne Verrichtung des denkenden Wesens kein Ganzes ausmachen, und die Bewegung selbst, ohne Zusammenhalten des Vergangenen mit dem Gegenwärtigen, keine Bewegung seyn würde. Wir mögen die Sache also betrachten von welcher Seite wir wollen, so stößt uns allezeit die Seele mit ihren Verrichtungen zuerst auf, und sodann folget der Körper mit seinen Veränderungen. Das Begreifende gehet allezeit vor dem bloß Begreiflichen her. – Dieser Begriff scheinet fruchtbar, meine Freunde, sprach Cebes. – Wir können die ganze Kette von Wesen, fuhr Sokrates fort, vom Unendlichen an, bis auf das kleinste Stäublein in drey Glieder eintheilen. Das erste Glied begreift, kann aber von andern nicht begriffen werden: dieses ist der einzige, dessen Vollkommenheit alle endlichen Begriffe übersteigt. Die erschaffenen Geister und Seelen machen das zweyte Glied: Diese begreifen und können von andern begriffen werden. Die Körperwelt ist das letzte Glied, die nur von andern begriffen werden, aber nicht begreifen kann. Die Gegenstände dieses letzten Gliedes sind, so wohl in der Reihe unserer Erkenntniß, als im Daseyn selbst, außer uns, allezeit die hintersten in der Ordnung, indem sie allezeit die Wirklichkeit eines begreifenden Wesens voraussetzen: wollen wir dieses einräumen? – Wir können nicht anders, sprach Simmias, nachdem das vorige alles hat zugegeben werden müssen. – Und gleichwohl, fuhr Sokrates fort, nimmt die Meynung der Menschen mehrentheils den Rückweg von dieser Ordnung. Das erste, davon wir versichert zu seyn glauben, ist der Körper und seine Veränderungen; diese bemeistern sich so sehr aller unserer Sinne, daß wir eine Zeit lang das materielle Daseyn für das einzige, und alles übrige für Eigenschaften desselben halten. – Mich freuet es, sprach Simmias, daß du selbst, wie du nicht undeutlich zu verstehen giebst, diesen verkehrten Weg gegangen bist. – Allerdings, mein Lieber! versetzte Sokrates. Die ersten Meynungen aller Sterblichen sind sich einander ähnlich. Dieses ist die Rhede, von welcher[100] sie insgesamt ihre Fahrt antreten. Sie irren, die Wahrheit suchend, auf den Meeren der Meynungen auf und nieder, bis ihnen Vernunft und Nachdenken, die Kinder Jupiters, in die Segel leuchten, und eine glückliche Anlandung verkündigen. Vernunft und Nachdenken führen unsern Geist von den sinnlichen Eindrücken der Körperwelt zurück in seine Heimat, in das Reich der denkenden Wesen, vorerst zu seines Gleichen, zu erschaffenen Wesen, die, ihrer Endlichkeit halber, auch von andern gedacht und deutlich begriffen werden können. Von diesen erheben sie ihn zu jener Urquelle des Denkenden und Gedenkbaren, zu jenem alles begreifenden, aber allen unbegreiflichen Wesen, von dem wir, zu unserm Troste, so viel wissen, daß alles, was in der Körperwelt und in der Geisterwelt gut, schön und vollkommen ist, von ihm seine Wirklichkeit hat, und durch seine Allmacht erhalten wird. Mehr braucht es nicht zu unserer Beruhigung, zu unserer Glückseligkeit in diesem und in jenem Leben, als von dieser Wahrheit überzeugt, gerührt, und in dem Innersten unsers Herzens ganz durchdrungen zu seyn.


Ende des zweyten Gesprächs.[101]

Quelle:
Moses Mendelssohn. Gesammelte Schriften. Band 3.1, Berlin 1929 ff. [ab 1974: Stuttgart u. Bad Cannstatt], S. 78-102.
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