b) Die Form als Erklärungsgrund des Werdens.

[415] Der zweite Teil der Untersuchung will die Substanz als Form erweisen auf dem Wege der logischen Ergründung des Werdens.

In Kap. 10 wurde die Unvergänglichkeit der Form durch den Schluß bewiesen: Die Teile, in die das Ding zergeht, sind nicht Teile der Form, sondern des Stoffs oder des Konkreten aus Stoff und Form; also zergeht nicht mit dem Konkreten zugleich seine begriffliche Form. So wird auch jetzt zu Grunde gelegt: Die Form geht dem Einzelnen, Konkreten voraus; sie wird nicht schlechthin, sondern wird nur hinein (engignetai) in den Stoff, der nur die Möglichkeit dieser Form, die Empfänglichkeit für sie bedeutet. Die Begründung lautet allerdings sehr formalistisch: Sollte die Form selbst entstehen, so würde das eine neue Materie erfordern, in die sie wird, und eine neue Form, der gemäß sie wird, und das ginge ins Unendliche, wenn allgemein die Form dem Werden unterläge. (Ähnlich formalistisch die Begründung für die Ewigkeit der Materie, Phys. I 9, 192 a 25 – 28.) Die radikalere Begründung durfte indessen aus der Physik vorausgesetzt werden; nämlich es gibt allerdings ein Werden, aber A kann, als A, nicht nicht-A, nicht-A nicht A werden, also müssen die Bestimmtheiten A, B... überhaupt nicht geworden sein, sondern[415] nur wandern. Ein Unbestimmtes = x, welches an sich imstande ist A oder auch nicht-A zu sein, wird aus A nicht-A. oder aus nicht-A A. Das ist die Begründung für die allgemeine Annahme des Philosophen über Stoff, Form und Konkretes.

Dieser Gedankengang ist bis so weit gar nicht unähnlich dem PLATOS im Phaedo und Timaeus, von denen ARISTOTELES unzweifelhaft die Anregung zu diesen Gedankenreihen erhalten hat. Weshalb nun meint ARISTOTELES gleichwohl sich in eben dieser Lehre von PLATO radikal zu unterscheiden? Weil dieser nicht bloß die Beharrung, sondern das Fürsichbestehen der Form behaupte. Die Form bedeute aber nur die Qualität (toionde), nicht das Diese (tode). – Ein seltsamer Einwand, da PLATO im Timaeus genau so unterschieden, und als Prinzip des Diesen d.h. der Bestimmtheit des Einzelnen vielmehr das »Aufnehmende«, den Raum, angesetzt hat. – Also müsse die Form zwar voraus existiert haben, aber nur in einer andern konkreten Substanz. So existiert die Form der Gesundheit vor der Gesundung des Kranken in der Idee des Arztes, so die Form des organischen Individuums vor seiner Entstehung in seinem Erzeuger. »Den Menschen erzeugt der Mensch«, der existierende Mensch, nicht sein irgendwo im Intelligibeln schwebendes Musterbild. So, könnte er etwa fortfahren, wird ein Körper warm durch einen andern Körper, in dem diese Qualität, die Wärme, zuvor ihren Sitz hatte; so wird Bewegung eines Körpers gewirkt durch Bewegung in einem andern, existierenden Körper; so sucht alle Naturerklärung das, was wird, das heißt was da und da dann und dann auftritt, nachzuweisen als zuvor schon, nur anderswo, in einem andern Subjekt vorhanden gewesen. Es schwebt das Prinzip der Erhaltung vor – wie bei PLATO (s. o. S. 161).

Hat also ARISTOTELES zwar PLATOS Meinung mißverstanden, aber im Grunde dasselbe gemeint? Schwerlich. Denn der entscheidende Sinn der platonischen Deduktion war: Ursache sei das Gesetz, nicht das Ding. ARISTOTELES aber beharrt dabei, das Ding sei Ursache, und wenn nicht das Gesetz in Dingen repräsentiert wäre, könnte das dann in der Luft schwebende Gesetz nicht wirken; es würde nicht die Bestimmtheit des Diesen, nicht das Jetzt und Hier begründen, und so fort. So ist die Dingheit als das Ursprüngliche gerettet.

Diese aristotelische Ansicht führt auf Kräftewesen, auf »verborgene Qualitäten«, die platonische auf reine Gesetze.[416] Lange hat die Naturerklärung, auch nach ihrer Loslösung vom Aristotelismus, zwischen beiden Betrachtungsweisen geschwankt, aber sie hat sich immer entschiedener der platonischen Denkart zugekehrt. Es ist nichts als ein mißlungener Ausdruck, wenn man sagt, man wolle gar nicht erklären, sondern bloß beschreiben, was geschieht. Man beschreibt doch durchs Gesetz, man streicht nur, mit Recht, die Kräftewesen, die verborgenen Qualitäten, gegen die bereits das 17. Jahrhundert lebhaft stritt, doch ohne damals schon ihrer Herr zu werden. NEWTON unterscheidet noch zwischen Gesetz und Ursache, in dem Sinne, daß die Ursache erst hinter dem Gesetz zu suchen wäre. Aber doch wollte schon er die Forschung der Wissenschaft grundsätzlich auf die Gesetze beschränken. Nur kommt ihm hinter der Wissenschaft noch etwas Andres: Metaphysik.

Wie fern aber dem ARISTOTELES jene allein wissenschaftliche Ansicht liegt, beweist hier sehr deutlich die Bemerkung: Bei den lebenden Wesen sei seine Auffassung doch auf der Hand liegend, gerade da aber würde man, nach PLATOS Erklärungsweise, das »Musterbild« brauchen, weil es sich ja hier um Substanzen handle. Er hat also nicht so viel von PLATOS Absicht begriffen, daß dessen Methode zu allererst auf reine Relationen von mathematischer Form Anwendung finden sollte und von ihm in der Tat fast ausschließlich auf solche angewandt wird. Erst fernerhin, in dem von den ersten Prinzipien weiter abliegenden Gebiete des organischen Werdens, mochte dann ein Analogen solcher strengen Gesetze etwa gefunden werden, Gesetze von Lebensfunktionen, aus denen vielleicht künftig einmal sich mag verstehen lassen, was eigentlich den Begriff einer biologischen Gattung wie Mensch oder Pferd ausmacht. Für ARISTOTELES dagegen sind Mensch und Pferd so evidente, zweifellose Substanzen und also Ursachen, daß er sich hier seines Triumphes über PLATO ganz sicher glaubt. Denn natürlich doch habe dieser vor allem Dinge im Sinn gehabt wie Mensch und Pferd, und für sie als Muster seine Ideendinge aufgestellt.

Zwar im neunten Kapitel dehnt ARISTOTELES selber seine Betrachtungsweise, die sich zunächst auf Substanzen bezog, auch auf die andern Kategorieen aus; doch mit dem Unterschied, daß nur bei Substanzen das, was wird, voraus schon aktuell dagewesen sein muß. Bei Quantitäten und Qualitäten dagegen genügt, daß es potenziell da war, jedoch in einer aktuell gegebenen Substanz. – Das erleichtert vielleicht die Durchführbarkeit[417] der Annahme, aber verbessert nicht den Grundfehler. Erstens bleiben die als etwas Wirkliches in etwas Wirklichem gegebenen bloßen Möglichkeiten hoffnungslos dunkel. Zweitens sind Dinge, Substanzen nicht gegeben, sondern selbst nur bestimmbar durch die gesetzmäßigen Relationen des Veränderlichen, Diese sind wissenschaftlich das Primäre, die Substanzen das Sekundäre. Oder vielmehr, die selbständigen Dinge werden überhaupt entbehrlich, wenn man jene zu Grunde legt, einschließlich des Raumes, als Stellensystems, und der Zeit, auf welche die Relationen zu berechnen sind. Die Deduktion der Notwendigkeit dieser beiden als Grundlagen zum Aufbau einer Naturgesetzlichkeit fehlt ganz bei ARISTOTELES, während sie bei PLATO in bestimmten Zügen angedeutet ist.

Mit dem Haften am Dingindividuum hängt ferner zusammen die vorzeitige Einführung der Teleologie in die Naturerklärung. Bedeutet doch ihm ein »Naturwesen« (physis), dessen Begriff er, wie schon bemerkt, als »durch sich« bekannt ansieht (s. o. S. 395), ohne weiteres ein Zwecktätiges (Phys. II 8, 199 b 14-17, vgl. 199 a 5 – 12; Polit. I 2, 1252 b 32). In der Tat hängt das Problem des Individuums ganz und gar am Problem des Zwecks. Somit ist aus guten Gründen der Widerstand gegen ARISTOTELES von diesen zwei Punkten ausgegangen: vom Kampf gegen die »verborgenen Qualitäten« einerseits, gegen die vorgreifende Einführung der Endursachen in die Naturerklärung andrerseits.

Die weiteren Betrachtungen dürfen kürzer abgemacht werden. Im 15. Kapitel folgert ARISTOTELES selbst wieder: das Einzelding sei nicht definierbar, also nicht rein erkennbar, weil es in der Materie ein Moment der Unbestimmtheit (so und auch nicht so sein Können) einschließe. Es gebe also von ihm nicht Wissenschaft, sondern nur Meinung (epistêmê--doxa). Nicht einmal im Gedanken bestehe das Einzelding fort; die Definition und Demonstration beziehe sich ja dann schon auf das gedachte, nicht das wirkliche Ding. Das lautet schon beinahe schroff idealistisch. Kaum braucht aber auf den offenen Widerspruch gegen die vorigen Bestimmungen noch aufmerksam gemacht zu werden. Die Substanz sollte (nach 1028 a 32), der Sache wie dem Begriff, der Erkenntnis und auch der Zeit nach, das Erste sein; Substanz aber war das Einzelding; ein Allgemeines, hieß es, könne nimmermehr Substanz sein. Und nun vernehmen wir, das Einzelding sei nur Gegenstand der Meinung, nicht der Wissenschaft, es habe kaum im Gedanken Bestand. In diesem Widerspruch[418] besteht, muß man fast sagen, das Wesen der aristotelischen Substanzlehre. Verräterisch aber für das Verständnis PLATOS ist die weitere Folgerung: also sei auch die Idee nicht definierbar, denn sie sei eben ein Einzelding (1040 a 8 – 9).

Das 16. Kapitel wiederholt den schon vernommenen Einwand gegen die Ideenlehre: kein Allgemeines könne Substanz sein (1040 b 23), denn, als Vielem gemeinsam, müßte es an vielen Stellen zugleich sein. Also gebe es nicht das Allgemeine außer dem Einzelnen für sich. Die Ideen müßten freilich, als Substanzen, auch getrennt (mithin einzelne Dinge) sein; aber dann können sie nicht zugleich das Eine im Vielen sein. Ihre Verteidiger wissen denn auch in der Tat nicht Rechenschaft davon zu geben, was eigentlich diese getrennten Wesenheiten sind. Sie nehmen sie einfach gleich den sinnlichen an, die allein wir kennen, und setzen nur ihr auto »es selbst« (das Schöne usw.) hinzu. Vielmehr wäre auf ewige Substanzen zu schließen, auch wenn sie nicht (in den Gestirnen!) unsern Sinnen gegeben wären. – So muß PLATO sich schließlich von ARISTOTELES darüber belehren lassen, daß nicht die Sinnlichkeit über das Sein entscheidet!

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 415-419.
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