A. Bestand der Lehre.

[433] Fast ein größeres Interesse als der Ideenlehre in ihrer älteren, einfacheren, in PLATOS Schriften weit vorherrschenden Gestalt hat ARISTOTELES der späteren Umformung dieser Lehre zugewandt, welche von PLATO selbst zwar ausgegangen ist, aber, abgesehen von wenigen in seinen Schriften zu findenden Andeutungen, von ihm nur mündlich vertreten, dagegen in seiner Schule allgemein aufgenommen, von ihren verschiedenen Darstellern übrigens verschieden gefaßt, bald erweitert, bald eingeschränkt oder in den Pythagoreismus, mit dem sie von Anfang an engen Zusammenhang hatte, gänzlich zurückgebildet worden ist.

Diese Umformung ist, so wie sie sich aus der Darstellung bei ARISTOTELES und seinen Kommentatoren ergibt, hauptsächlich von da aus zu verstehen, daß PLATO im letzten Stadium seiner Entwicklung stärker als vordem die Notwendigkeit empfand, die Mannigfaltigkeit der Ideen selbst, nicht bloß die der Erscheinungen, noch irgendwie weiter abzuleiten. Den deutlichsten Hinweis auf eine solche Ableitung enthält unter seinen Schriften der Philebus. Auch lassen sich von diesem aus die Angaben[433] des ARISTOTELES und der übrigen Berichterstatter am leichtesten verstellen; worin, nebenbei bemerkt, einer der stärksten Beweise für die späte Abfassung dieser Schrift liegt.

PLATO ging dort zuerst von dem ganz allgemeinen Gegensatz und Wechselverhältnis des Einen und Mannigfaltigen aus. Die Ideen traten direkt als Einheiten, unter dem der mathematischen Zahllehre entlehnten, sonst die Zahl Eins bedeutenden Ausdruck der Henade oder Monade auf (15 A B, vgl. 56 E). Mit dem Gegensatz des Einen und Mannigfaltigen aber kompliziert sich der andre des Begrenzenden und Unbegrenzten oder der Bestimmung und Unbestimmtheit hier so, daß die bestimmte Zahl, die Zwei, Drei und so fort, mit der Eins zusammen auf die Seite des Begrenzenden fällt, aller noch so weit gehenden Zahlbestimmtheit aber als das letzte zu Bestimmende, mit keiner Bestimmung zu Erschöpfende das grenzenlos Unbestimmte, das apeiron gegenübertritt (16 C – E). So ergibt sich eine deutliche Dreiheit: das Eins und das Unendliche als äußerste Gegensätze, und zwischen beiden, gleichsam vermittelnd, die Zahl (16 D ton apithmon panta ton metaxy tou apeirou te kai tou henos).

Das Unbestimmte nun wurde, wie wir uns erinnern (s. o. S. 321 f.), erläutert durch die komparativische Aussage. Es bedeutet allgemein das »Mehr und Minder« (mallon- -êtton, 24 A), welches als Arten nicht nur in sich schließt 1) das Mehr und Weniger der Zahl nach (pleon- -elatton, 24 C), welchem gegenübersteht das bestimmt so und so Viele (poson), das Gleiche, Doppelte, überhaupt nach bestimmtem Verhältnis Definierte (25 A B), und 2) das Großer und Kleiner der Ausdehnung nach (meizon- -smikroteron, 25 C), sondern ebenso jedes Mehr und Minder der Qualität (wie die Beispiele 24 A und 25 C zeigen). Immer aber wird die gegenüberstehende Bestimmtheit als Maß- und Zahlbestimmtheit, als mathematische Bestimmtheit verstanden, so daß die Zahl in einem verallgemeinerten Sinne eine überragende Stellung erhält und die gewöhnliche Zahl zum bloßen Spezialfall herabgesetzt wird.

Diese Lehre soll nun PLATO weiter ausgesponnen haben in mündlichen Vortragen über das Gute, welche von ARISTOTELES, HERAKLIDES, HESTIAEUS und anderen seiner Schüler aufgezeichnet und herausgegeben worden seien. Die Angabe darüber (bei SIMPLICIUS zu ARISTOTELES Physik III 4, DIELS pag. 453, 28) ist nämlich nicht unbestritten. ARISTOTELES unterscheidet jedenfalls (Metaph. XIII 4, 1078 b 9) die ursprüngliche Lehre von den Ideen an und für sich von ihrer späteren, nur mündlich überlieferten[434] Umbildung zur Lehre von den Ideen als Zahlen. Als Quelle für diese nennt er (Phys. IV 2, 209 b 13) die »sogenannten ungeschriebenen Lehren«, das heißt (wie man annimmt) Veröffentlichungen der Schüler (darunter seine eignen, die uns nicht erhalten sind) nach Lehrvorträgen des Meisters. Daß man es aber dabei nicht mit einer Geheimlehre, sondern nur mit einer weiteren Ausführung von Motiven zu tun hat, die in den späteren Schriften PLATOS, in erster Linie dem Philebus, daneben auch dem Parmenides und Timaeus geäußert sind, beweist die weitgehende sachliche Übereinstimmung mit diesen Schriften.

Als Abweichung gibt zwar ARISTOTELES (an der zuletzt angeführten Stelle) an, daß das »Aufnehmende« des Timaeus in der mündlichen Lehre PLATOS mit dem Namen des Groß-und-Kleinen belegt worden sei. Aus Metaph. XIV 1, 1087 b 13 ff. ersieht man, daß die verschiedenen Darsteller hier im Ausdruck schwankten. Einige nannten es das Groß-und-Kleine, Andre zogen den Ausdruck »Viel und Wenig« vor, weil Groß und Klein die räumliche Ausdehnung zu bedeuten scheine; eine dritte Partei meinte, man müsse vielmehr den jenen beiden übergeordneten Gegensatz des Übertreffenden und Übertroffenen (darüber Hinausgehenden und dahinter Zurückbleibenden) wählen. Aus dem Philebus (bes. 25 C) und Staatsmann (283 C ff.) geht hervor, daß diese Auffassung PLATOS Meinung am schärfsten trifft, mag er auch von Größe in einem allgemeineren Sinne gesprochen haben, etwa wie KANT extensive und intensive Größe unterscheidet.

Aber auch, wenn ARISTOTELES weiter von solchen berichtet, welche als letzten Gegensatz den des Einen und Andern (allo oder heteron) oder den des Einen und Mannigfaltigen (plêthos) nannten, und wenn er dann seinerseits hierzu bemerkt, daß richtiger das Andre dem Selbigen gegenüberstände, das Eine dagegen dem Maß gleichgesetzt und demgemäß das Verhältnis des Einen und Vielen nicht als Gegensatz (denn dem Viel stehe vielmehr das Wenig gegenüber), sondern als die Korrelation von Maß und Gemessenem aufgefaßt würde, daher auch die Eins nicht Zahl, obgleich Prinzip der Zahl sei, in gleichem Sinne wie das Maß das des Gemessenen (1088 a 5), so entfernen wir uns mit dem allen nicht von dem wesentlichen Sinn dessen, was PLATO selbst an verschiedenen Stellen seiner Schriften ausgeführt oder wenigstens angedeutet hat. Den Gegensatz des Selbigen und Andern verwendet PLATO in eben diesem Sinne im Timaeus (35 A). Auch bei ARISTOTELES, Metaph. I 8. 989 b 17 liegen deutlich die platonischen[435] Begriffe zu Grunde, wenn als Gegensatz des Einen das Andre (thateron), gleichbedeutend mit dem »Unbestimmten vor seiner Bestimmung« oder dem an den Ideen Teilhabenden, genannt wird. Desgleichen im Philebus (19 B) steht neben dem Einen das Gleichartige und Selbige, als deren Gegensätze das Viele, Ungleichartige und Verschiedene (thateron) zwar nicht genannt, aber mitzudenken sind. Und daß nicht minder das Verhältnis des Maßes zum Gemessenen allen diesen zusammengehörigen Gegensätzen parallel ist, ja gewissermaßen zu Grunde liegt, geht aus dem Philebus (25 A, 26 A usw.) zur Genüge hervor. Ebenda (16 D) wird endlich auch die Eins von der Zahl deutlich geschieden.

Weiter tritt das Eine und Viele bei ARISTOTELES unter den Namen des Gleichen und Ungleichen auf (1087 b 5, 1088 a 15), und wird oftmals das Hervorgehen der Bestimmtheit aus dem Unbestimmten als Gleichwerden des Ungleichen bezeichnet (ex anisôn isasthentôn). Auch dazu ist die Grundlage im Philebus (25 A) gegeben. Die Ungleichheit wird dann wiederum identifiziert mit der »Zweiheit« des Groß-und-Kleinen. Diese hat zwar PLATO nicht unter diesem Ausdruck (dyas) eingeführt, aber er hat die Doppelheit des Mehr und Minder im Begriff der Ungleichheit, gegenüber der begrifflichen Einheit, welche die Gleichheit herstellt, genugsam hervorgehoben, so daß die Einführung des allgemeinen Terminus der Zweiheit in diesem Sinne nahe genug lag. Natürlich mußte dann diese Zweiheit als »unbestimmte« von der bestimmten, nämlich der Zahl Zwei, scharf getrennt werden, da jene nur ein andrer Ausdruck des Prinzips der Unbestimmtheit ist, diese dagegen, nächst der Eins, die erste Bestimmung darstellt. Es wird denn auch folgerecht die unbestimmte Zweiheit oder das Groß-und-Kleine dem Unbestimmten oder Unendlichen gleichgesetzt: nach Metaph. 16, 987 b 20, 25 und 33 entspricht sie dem Unendlichen der Pythagoreer; nach genauerer Darstellung, Phys. III 4, steht sie diesem gleich, sofern beide für sich, nicht bloß als Eigenschaft eines anderswie bestimmten materialen Prinzips gesetzt wurden (203 a 3 ff.), während die Hervorhebung jener Doppelseitigkeit PLATO eigentümlich war. Als annehmbaren Grund dieser Hervorhebung führt ARISTOTELES (III 6, 206 b 27) an, daß die Vermehrung und Verminderung gleich sehr und in genauer Entsprechung ins Unendliche gehe, von welcher Voraussetzung PLATO allerdings weiter nicht den Gebrauch mache, den man erwarten sollte.

Noch etwas mehr wissen die Kommentatoren des ARISTOTELES,[436] namentlich ALEXANDER von Aphrodisias zu Metaph. I 6, zu berichten. Hier wird die Zweiheit (dyas) des Groß-und-Kleinen ausdrücklicher gegenübergestellt der Einheit (monas) als dem obersten Prinzip, welches aus jener als der Materie die Zahlen, die die Stelle der Ideen vertreten, erzeuge. Nämlich dem Eins steht gegenüber das »außer dem Einen«, welches dem »Viel und Wenig« entspricht, das erste (Bestimmte) außer dem Einen aber ist die (bestimmte) Zweiheit, welche das Viel und Wenig in Gestalt des Doppelten und Halben in sich schließt (also das bestimmte Verhältnis 1: 2 oder 2: 1, was ganz im Sinne des Philebus ist). Es wird dann ferner das Eine auch als das Gleiche, das Mehr und Weniger als das Ungleiche bezeichnet, mit der ausdrücklichen Begründung, daß der Begriff des Ungleichen die Doppelheit des Mehr und Weniger einschließe. Und diese heißt die unbestimmte Zweiheit, weil eben das Mehr und Weniger als solches, seinem eignen Begriff nach, unbestimmt ist; durch das Eins aber bestimmt, wird die unbestimmte Zweiheit zur bestimmten Zahl Zwei, die doch Eines dem Begriff nach (sofern bestimmt) ist; und eben damit wird dann auch das Mehr und Weniger bestimmt zum Doppelten und Halben, die ein bestimmtes, nicht mehr unbestimmtes Verhältnis darstellen. Für diese Ausführung beruft sich ALEXANDER auf ARISTOTELES Schrift »Vom Guten«. SIMPLICIUS (zur Physik III 4, DIELS p. 454, 22) gibt ungefähr dasselbe ebenfalls nach ALEXANDER, der es aus PLATOS Vorträgen über das Gute (deren Niederschrift also jene aristotelische Schrift gewesen wäre) geschöpft habe. Dazu kommt ein Bericht des PORPHYRIUS aus dem Kommentar zum Philebus, der sich ebenfalls auf die von ARISTOTELES und andern platonischen Schülern herausgegebenen Vorträge vom Guten stütze, übrigens, wie SIMPLICIUS bemerkt, mit PLATOS Philebus selbst wohl übereinstimme.

Der wichtigste und zugleich schwierigste Punkt dieser Lehre ist die Identifikation der so abgeleiteteten Zahlen mit den Ideen. Über die Tatsache dieser Identifikation kann nicht wohl ein Zweifel obwalten. Es heißt geradezu Metaph. I 6, 987 b 20: aus dem Groß-und-Kleinen gehen, durch Teilhabe an dem Einen, die Ideen als Zahlen hervor. (Die Lesung und Konstruktion des Satzes steht nicht ganz sicher; über den Sinn ist kein Zweifel.) Etwas weiter (l. 33) heißt es: das »andre« Prinzip, nämlich das Korrelatum zu den Ideen, habe PLATO als Zweiheit bestimmt, weil am leichtesten daraus als[437] aus dem bildsamen Stoff (ekmageion) – durch das Eine, fordert der Sinn – die Zahlen sich erzeugen lassen; womit indirekt diese Zahlen den vorher genannten Ideen gleichgesetzt sind. Dann aber, I 7, 988 a 1 ff.: nicht als Stoff, sondern als formales Prinzip, im Sinne der Definition, des ti ên einai, habe PLATO dem Sinnlichen die Ideen, den Ideen das Eine gegenübergestellt; was wieder mit dem Vorigen nur so zusammenstimmt, daß die Ideen sich mit den Zahlen decken. Diese Gleichsetzung wird dann von ARISTOTELES in seiner Kritik oft ganz direkt vorausgesetzt. Man ersieht ebenfalls aus der Vergleichung der beiden letzten Stellen, daß die Erzeugung, von der ARISTOTELES spricht, nichts ist als die Bestimmung des Unbestimmten, das Erzeugende also sich deckt mit der Formalursache, dem ti ên einai. Ebenso sind nach, 988 a 8 ff. die Ideen Grund des Was (ti estin) für das Übrige, das Eine für die Ideen, und die der Form (dem Was) entsprechende Materie ist in beiden Fällen gleichermaßen die »Zweiheit« des Groß-und-Kleinen. Diese Doppelbedeutung des Unbestimmten, als Stoff sowohl für das Sinnliche als für die Mannigfaltigkeit der Ideen, bestätigt auch ARIST. Phys. III 4, 203 a 9 und andre Stellen.

Zu dieser ganzen Lehre darf man die Grundlagen im Philebus erkennen. Jeder Begriff, jede Bestimmtheit stellt eine Einheit im Denken her, jede Unbestimmtheit läßt eine Mehrheit, eine an sich grenzenlose Mehrheit offener Möglichkeiten, und zwar immer in der doppelten Vergleichungsrichtung des Mehr und Weniger, übrig. Die fortschreitende Bestimmung dieser Unbestimmtheit schafft neue Einheiten, die folgenden treten dann mit den vorigen in ein wiederum bestimmtes Verhältnis, so wie aus der Zahleinheit mit der bestimmten Vielheit zugleich das bestimmte Zahlverhältnis sich erzeugt. Und zwar denkt PLATO offenbar nicht die Zahl und das bestimmte Zahlverhältnis (und entsprechend die Einheit und unbestimmte Mehrheit in numerischer Bedeutung) bloß anwendbar auf die ihrem eigentümlichen Inhalt nach anderswie, nämlich qualitativ bestimmten Ideen, sondern ihre qualitative Identität selbst ist (qualitative, nicht quantitative) Einheit, die qualitative Verschiedenheit ist (qualitative, nicht quantitative) Zwei- oder Mehrheit (je nach der Betrachtung bestimmte oder unbestimmte), das qualitative Verhältnis ist also direkt darzustellen durch ein Zahlverhältnis, nämlich in einem auf die Qualitäten erweiterten Sinne der Zahl. Die Begriffe unmittelbar, in ihrem qualitativen Inhalt,[438] messen und zählen sich gleichsam durch einander, nicht bloß findet auf die voraus schon begründeten oder ohne Begründung sei es aus der Erfahrung genommenen oder aus reinem Denken geschaffenen Qualitäten das ebenso unabhängig für sich gegebene oder erzeugte Denkverfahren der Quantität auch Anwendung.

Es schwebt also unmittelbar eine Mathematik der Qualitäten vor, wie sie LEIBNITZ gefordert hat, und wie die jüngste Entwicklung der Mathematik sie der Verwirklichung näher zu führen scheint, wenn sie, allerdings nicht eine Arithmetik, aber wohl eine Algebra ohne Quantitätsbegriffe zu entwickeln wagt, ausdrücklich in dem Sinne, daß Mathematik es nicht notwendig mit Quantität zu tun habe, sondern sich (wie einer der entschlossensten Vorkämpfer dieser Richtung, A. N. WHITEHEAD, Universal Algebra, I, Cambridge, 1898, sagt) auf Alles erstrecke, worin »die Folge der Gedanken oder der Ereignisse in bestimmter Weise ausgemacht und präzis festgesetzt werden kann« (Preface, pag. VIII). Indem also die Mathematik sich auf ihr logisches Fundament besinnt, welches nicht in der Quantität allein liegt, gewinnt notwendig zugleich umgekehrt die Logik auch der Qualität mathematische Gestalt. Diese völlige Einheit von Mathematik und Logik strebt, wie gesagt, schon LEIBNITZ an; ihre schließliche historische Wurzel aber hat sie in PLATO zu erkennen. Sie liefert den Schlüssel zum Verständnis der Gleichsetzung der Idee mit der Zahl. Diese Zahl ist allerdings nicht mehr Zahl, wenn man unter Zahl nur den Methodenausdruck der Quantität versteht. Aber schon die komplexen Zahlen der modernen Algebra sind nicht reine Quantitätsbegrifte, obgleich sie ganz nach den Gesetzen der Quantität behandelt werden können. Das Verfahren der Quantität ist eben, als rein logisches Verfahren, gar nicht zu trennen von den übrigen logischen Grundverfahren; es ist zunächst mit dem Denkverfahren der Qualität so in der Wurzel Eins, daß jeder gesetzmäßige Ausdruck der Letzteren sich notwendig zugleich im Ersteren ausdrückt, daher ganz natürlich als Zahl erscheint, wirklich aber eine durchaus legitime Erweiterung des Zahlbegriffs darstellt.

Mit dieser Auffassung dürfte sowohl der Philebus als die Berichte des ARISTOTELES übereinstimmen. Aufs bestimmteste gibt dieser an, daß PLATO die Idealzahlen (eidêtikoi arithmoi) von den Zahlen der Arithmetik dadurch unterschied, daß Erstere nicht wie Letztere aus Addition gleichartiger Einheiten hervorgehen, daß sie überhaupt nicht addierbar sind; daß[439] dagegen, man muß wohl verstehen: statt dessen, ein rein logisches Verhältnis des Vor und Nach, das heißt, des Bedingenden und Bedingten, des Prinzips und dessen, was unter dem Prinzip steht, des logischen Faktors zum Produkt für sie gut. Ihre Elemente sind eben nicht, wie die Einheiten der gemeinen Zahl, unter sich gleichartig, sondern qualitativ (tô eidei) verschieden (1080 a 18).

Wenn daher ARISTOTELES gegen PLATO hauptsächlich zu beweisen bemüht ist, daß die Idealzahl mit dem Verzicht auf die Addierbarkeit, welche der Zahl als grundwesentliches Merkmal zukomme, aufhöre Zahl zu sein, so ist zwar der Anstoß am Gebrauche des Wortes Zahl wohl begreiflich. Aber eben die ausdrückliche Aufhebung des Merkmals der Addierbarkeit hätte ihn aufmerksam machen müssen, daß es sich um eine Erweiterung des Begriffs der Zahl oder des Mathematischen handelt, die dann auf ihre Berechtigung zu prüfen war. Man setze statt der Zahlen die Buchstaben der Algebra, mit denen man auch rechnet wie mit Zahlen, obgleich sie keineswegs solche bedeuten müssen, so wird man auf geradestem Wege zu dem kommen, was PLATO im Sinne gehabt hat. Auch das Unterscheidungsmerkmal trifft dann zu, daß, während die gewöhnlichen Zahlen vielfältig, obwohl nach immer gleichem Begriff, gesetzt werden können, die Ideen nur je einfach zu setzen sind (I 6, 987 b 14).

Das Formale der logischen Beziehungen unter Qualitäten, durch welche allein solche auch logisch zu definieren sind, in eine mathematische Gestalt zu bringen, mathematischer Methode zu unterwerfen, das war die seines wissenschaftlichen Weit- und Tiefblicks ganz würdige Idee, die PLATO vor Augen stand. Sein Fehler oder Mangel war hier derselbe wie überall: daß der Tiefe der methodischen Einsicht nicht auch die Mittel zu Gebote standen, in wirklicher Ausführung das Recht der Methode dem, der es theoretisch einzusehen nicht die Kraft hatte, überzeugend zu machen.

Die einzige einigermaßen deutliche Anwendung nämlich ist die auf die Grundbegriffe der Geometrie. Wir hören, daß PLATO durch die Zweiheit die Länge, durch die Dreiheit die Fläche, durch die Vierheit den Körper definierte (ARISTOTELES Metaph. XIV 3, 1090 b 20; VII 11, 1036 b 12, vgl. De an. I 2, 404 b 18). Dem Punkt gestand er eine selbständige Wesenheit nicht zu, er erkannte ihn im Grunde gar nicht an, sondern ließ ihn nur gelten als »Anfang« der Linie, d.h. als Linie im[440] Entstehen, als Linienelement, so daß er ihn seiner »unteilbaren Länge« gleichsetzen konnte (Metaph. I 9, 992 a 19, mit Scholion des ALEXANDER). Er suchte, wie man sieht, die Definition der räumlichen Dimensionen in der Zahl der Bestimmungsstücke; die Bestimmtheit einer Länge erfordert zwei Termini und so fort. Das ist schon keine ganz zulängliche Ableitung; und noch weniger läßt sich eine solche in den ferneren Beispielen (De an. I 2, 404 b 18, das Urlebendige und die vier Stufen der Erkenntnis) etwa finden.

Aber das wird doch durch alles, was wir von dem Tatbestand seiner mündlichen Lehre wissen, ebenso unzweideutig bestätigt, wie es aus dem Philebus hervorgeht, daß unter der Idee als Zahl ein formales Gesetz, nicht etwas wie eine konkrete Substanz gedacht war. Diese hat erst ARISTOTELES, getreu seiner allgemeinen Mißdeutung der Ideenlehre, aus ihr gemacht, und sich darin auch nicht dadurch beirren lassen, daß die Idee als Zahl noch weit handgreiflicher als in ihren sonstigen Wendungen ihren rein formalen Charakter zu erkennen gibt. Die Gesetzesbedeutung der Idee hat denn auch gerade hier ZELLER in den Platonischen Studien (S. 259, 261) erkannt und gegen ARISTOTELES nachdrücklich verteidigt. Er läßt nur leider daneben den ARISTOTELES doch wenigstens »mittelbar« gegen PLATO Recht behalten, sofern dieser die Bedeutung des Gesetzes bei der Idee allerdings im Sinne gehabt habe, durch seine eignen Prämissen aber in die dingliche Auffassung doch hineingedrängt worden sei. Wir vermochten das in PLATOS Schriften nicht zu erkennen, und vermögen auch in den Berichten über die Lehre von den Idealzahlen irgend einen Umstand, der zu dieser Auffassung nötigte, nicht zu finden. Sondern ARISTOTELES hat nur seinen Grundirrtum über den Sinn der Idee folgerecht auf die Idee als Zahl übertragen. Umso mehr bleibt ZELLER darin im Recht, daß »das Gespenst eines esoterischen Platonismus« endgültig »verscheucht« sei durch den schon von ihm in der Hauptsache geführten Beweis, daß die Lehre von den Ideen als Zahlen nur eine etwas weitere Ausführung von Gedankenmotiven darstellt, die in PLATOS Schriften, besonders dem Philebus, auch angedeutet sind.

Es bleibt uns als letzte Aufgabe noch übrig, die Kritik nachzuprüfen, die ARISTOTELES an PLATOS Auffassung des Mathematischen und an der eben dargelegten mathematischen Umgestaltung seiner Ideenlehre geübt hat.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 433-441.
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