Absicht und Anlage.

[242] Eingeführt wird die große Untersuchung den Worten nach als bloße Übung im dialektischen Verfahren. Aber doch ist es die Übung, ohne welche weder SOKRATES noch ein Andrer jene entscheidende Frage wird auflösen können. Daher steht zu erwarten, daß das Ergebnis der Übung die wenn auch vielleicht nur indirekte Auflösung dieser Frage sei. So werden wir es bestätigt finden.

Zuvor ist darauf aufmerksam zu machen, mit welcher Stärke gerade an diesem Übergang die Bedeutung der Methode der Dialektik – jenes so allgemein für unfruchtbar gehaltenen sogenannten Geschwätzes – betont wird. Das Verfahren ist aber im Grunde kein anderes als das von ZENO bereits angewandte. Schon im Phaedrus, bei der ersten ausdrücklichen Einführung der »dialektischen« Methode, wurden die Antilogieen des ZENO als erste Proben dieser Methode hervorgehoben. Nur ist die Antilogie nicht bloß in den empirischen Aussagen, sondern in den reinen Begriffen selbst und deren Wechselbeziehungen zu verfolgen. Damit nimmt PARMENIDES die dreiste Herausforderung auf, mit der der junge SOKRATES die Verhandlung eröffnet hat. Die Dreistigkeit allerdings ist ihm jetzt vergangen; sie wird ihm noch mehr vergehen, wenn er zu hören bekommt, wie buchstäblich ihm seine Forderung: die reinen Begriffe selbst sich mischen und wieder scheiden zu lassen, durch PARMENIDES erfüllt wird. Für ihn ist es nur demütigende[242] Abfertigung; denn welches große Resultat daraus hervorgehen soll, ahnt er nicht von fern.

Das Verfahren tritt, als hypothetisches, in genaue Beziehung zu der im Phaedo entwickelten Methode der Deduktion aus den reinen Grundlagen des Erkennens. Man hat Zweifel erhoben, ob die im Parmenides angewandte Methode mit PLATOS Begriff der Dialektik, wie er sie sonst versteht, auch nur vereinbar sei. Allerdings spricht der Phaedo und auch der Staat nur von geradliniger Deduktion. Aber doch wird oft genug auch die Möglichkeit beachtet, aus falschen Prämissen Konsequenzen abzuleiten, die nur den Sinn haben, den Fehler der Prämissen aufzudecken. Und jedenfalls im Theaetet hat PLATO mit äußerster Freiheit das pro und contra Argumentieren geübt. Auch dort blieb die Auflösung der Aporieen fast allein dem Scharfsinn des Lesers überlassen, dem nur hier und da deutliche, aber nur für den aufmerksam folgenden Leser deutliche Winke zu Hilfe kamen. Der Parmenides erweitert und steigert noch diese besondere Wendung des hypothetischen Verfahrens, aber verläßt nicht seine Grundlage. Es ist sogar die reinste Darstellung des im Staat Geforderten: daß die Deduktion von reinen Begriffen ausgehe, durch nur reine Begriffe fortschreite und in solchen ende. Nachdem aber einmal, seit dem Theaetet, Verneinung und Gegensatz als ebenso reine Denkfunktionen wie Bejahung und Identität anerkannt waren, wie hätte das Verfahren durch reine Begriffe sich der kontradiktorischen Behandlung überhaupt entziehen dürfen?

Vor allem, nur so konnte der Zweck der Untersuchung ganz erreicht werden. Über die Grundbegriffe selbst, nicht über die und die im besondern, wie sie zur Behandlung eines bestimmten vorgelegten Problems etwa erforderlich sind, sondern über die Grundbegriffe schlechtweg soll Klarheit gewonnen werden. Das war nur möglich, indem nicht bloß die Urbegriffe selbst, sondern auch die in diesen liegenden logischen Beziehungen in, wenn möglich, allseitiger Durchführung (136 D tês dia pantôn diexodou) sowohl gesetzt als aufgehoben (denn Aufhebung ist ja auch eine Art der Setzung), und in erschöpfender Ableitung die Konsequenzen daraus entwickelt wurden.

Aber ist das nicht ein unabsehbares, ja unendliches Geschäft? Nicht, wenn es ein geschlossenes System der reinen Begriffe gibt. So aber wird es sich in der Ausführung herausstellen. Auch so bleibt es eine Aufgabe, wie nur[243] ein Titan des Geistes sie sich stellen konnte. Und titanisch bliebe der Anlauf, auch wenn ein abschließendes Resultat nicht gewonnen sein sollte, was ja diese bloße »Übung« auch gar nicht beansprucht.

Also die kontradiktorische Behandlung ist nur die zwingende Folge der beabsichtigten Allseitigkeit der Durchführung des hypothetischen Verfahrens mit den reinen Begriffen. Der Sinn dieser Absicht aber ist: der Hinweis auf die mächtigste der philosophischen Aufgaben, die des Systems der reinen Begriffe. Möchte unter diesem Gesichtspunkt die Größe des Wurfs, den der Parmenides bedeutet, nicht ferner verkannt werden.

Zum Ausgang nun konnte an sich jeder echte Grundbegriff gleich gut dienen. Jeder wird, richtig entwickelt, mit gleicher logischer Notwendigkeit auf alle andern führen. PARMENIDES aber wählt begreiflich zum Ausgangspunkt den Zentralbegriff seiner Philosophie, den Begriff des Einen.

Es ist verführerisch, unter diesem Einen mit ZELLER sogleich die Einheit der Idee überhaupt zu verstehen, so daß es nicht eine, sondern die Idee wäre, von der die Erörterung gleich von Anfang anredet. Aber weder legt die Art der Einführung das irgendwie nahe, noch läßt es sich, glaube ich, in der Einzelerklärung wirklich durchführen. Das Eine dient zum Ausgangspunkt, jedenfalls zunächst, als ein Grundbegriff, als repräsentierendes Beispiel, nicht als Allgemeinausdruck des reinen Begriffs, der reinen Begriffsfunktion überhaupt. Es ist demgemäß auch das Nicht-Eine (oder »Andre als das Eine«) nicht sogleich zu verstehen als der Erfahrungsgegenstand, das zu Bestimmende = x. Es wird sich allerdings im schließlichen Ergebnis so herausstellen, aber eben dies soll die Erörterung selbst erst erbringen. Von Anfang an werden entschieden nicht PLATOS Begriffe von Idee und Erscheinung schon zu Grunde gelegt. Sie sind ja bisher zweifelhaft, sie sollen gegen den wuchtigen Zweifel, der diese ganz neue Untersuchung notwendig machte, ja erst gesichert werden.

Radikal dürfte das Verhältnis des Einen zur Idee sich in folgender Weise klarstellen lassen. Als Grundbegriff ist die Einheit allerdings nur dadurch zu erweisen, daß sie ein Ausdruck, einer der vielen an sich gleichberechtigten Ausdrücke der Denkfunktion überhaupt ist. Aber auch alle andern Grundbegriffe: das Sein, die Identität, die Beharrung, ja auch das Nichtsein, die Verschiedenheit, die Veränderung und so fort, sind eben solche und zwar gleichberechtigte Ausdrücke. Also[244] könnte wirklich von jedem echten Grundbegriff gleich gut begonnen werden. Es wird ja, wie wir im Philebus hören werden, dasselbe Eins und Vieles zufolge der logischen Funktion (hypo logôn), es ist das eine unsterbliche, nie alternde Eigenschaft des Logischen selbst in uns (tôn logôn autôn athanaton ti kai agêrôn pathos en hêmin, Phil. 15 D). Es heißen daher die Ideen geradezu Einheiten (Henaden oder Monaden, ebenda 15 A B). Und so erscheint in den Berichten des ARISTOTELES über die späteste Gestalt der Ideenlehre als das letzte Prinzip der Ideen überhaupt »das Eine« (s. bes. Metaph. I 7, 988 b in.). Es hat also gewiß dieser Ausdruck der allgemeinen logischen Funktion bei PLATO vor andern einen Vorzug. Aber an sich hätten die Ideen, so gut wie Einheiten, auch Identitäten genannt werden können, oder Verschiedenheiten, oder Beharrungen, oder sogar Veränderlichkeiten. Die reinen Denkfunktionen sind sämtlich nur verschiedene Ausdrücke der reinen Denkfunktion, welche je eine besondere Seite an dieser herausheben. Also ist im Grunde der Streit gegenstandslos, ob das Eine die oder eine Idee vertreten solle. Es vertritt die Idee, indem es eine Idee vertritt. Aber doch wird man gut tun, zunächst das Letztere vorauszusetzen; denn von diesem einen soll erst auf alle Ausdrücke der Denkfunktion hingeführt, es soll in der allseitigen Durchführung durch sie alle und dem Nachweis ihrer logischen Wechselbeziehungen die Denkfunktion selbst erst aufgebaut, nicht aber von Anfang an zu Grunde gelegt werden, als hätte man sie schon.

Es wird nun die Untersuchung über das Eine, dem Plane gemäß, kontradiktorisch angestellt. Es soll geprüft werden, was sich ergibt, 1. wenn das Eine ist (die Funktion der Einheit gesetzt wird, und gelten soll), 2. wenn sie nicht ist (wenn sie aufgehoben wäre, nicht gelten sollte), und zwar, was in beiden Fällen sich ergibt 1. für das Eine selbst, 2. für das Nicht-Eine oder »Andre«. Dieser absichtlich unbestimmte Ausdruck bedeutet vorerst nur das außerhalb des Gebietes dieser bestimmten Funktion liegende Gebiet des Denkens, welches hernach deutlich als das Korrelatgebiet zu jenem bezeichnet wird (tên heteran physin tou eidous, 158 C, wo STALLBAUM jedenfalls richtig den Genetiv von heteran abhängen läßt, so daß der Ausdruck gleichbedeutend wird mit ta alla tou henos). Erst in letzter Entwicklung wird es sich enthüllen als das Gebiet der bezüglichen Setzung oder das Gebiet der Erfahrung, als das was schon 129 A genannt wurde »das Andre, das sogenannte Mannigfaltige«, was an dem[245] An-sich oder dem Eidos teilhat; welches dann wieder genau entspricht dem »Andern«, was an den Ideen teilhat (talla metalambanonta), nach Phaedo 102 B (vgl. das allo ebenda 100 C).

Die vier Fragen werden nun überdies sämtlich kontradiktorisch beantwortet. Es ergibt sich in allen vier Fällen, daß auf eine Art keinerlei Denkbestimmung setzbar bliebe, auf eine andre Art alle, auch die unter sich kontradiktorischen, gesetzt werden müßten. Auf welchem Unterschied der Auffassung dieser Gegensatz im Ergebnis beruht, wird nirgends direkt und allgemein gesagt, ist aber aus dem tatsächlichen Gang der beiderseitigen (je vier) Deduktionen mit voller Sicherheit zu entnehmen. Nämlich die Einheit wird das eine Mal schlechthin für sich, beziehungslos (chôris) gesetzt oder aufgehoben, das andre Mal so, daß ein logischer Übergang von dieser zu andern und zwar der Reihe nach zu allen andern reinen Denkbestimmungen verstattet und in der Tat vollzogen wird, dessen Möglichkeit darauf beruht, daß sie selbst nur beziehentlich ( oder pôs) verstanden, also auch nur beziehentlich gesetzt oder aufgehoben wird. Indem nun im ersteren Fall herauskommt, daß keinerlei Setzung möglich bliebe, also das Ergebnis ein reines logisches Nichts wäre, und zuletzt auch die Hypothesis selbst sich mitaufhöbe, im zweiten Fall dagegen alle Denksetzungen möglich bleiben, aber als beziehentliche, wodurch zugleich das Zusammenbestehen auch der kontradiktorischen Setzungen gerechtfertigt ist, so ist damit sachlich für die bezügliche, gegen die absolute (unbezügliche) Setzung entschieden, wofern überhaupt Erkenntnis möglich sein soll.

Es zeigt sich aber hierbei noch ein fernerer wichtiger Unterschied des Ergebnisses, nämlich für das Eine und für das Nicht-Eine. Versteht man als das Subjekt, von dem die Denksetzungen gelten sollen, das Eine selbst, so erhält man einen neuen Widersinn, und zwar ist dies genau jener Widersinn, den SOKRATES in seiner Herausforderung an die Eleaten gerne vorgeführt haben wollte: daß die reinen Denkbestimmungen sich alle gegenseitig sowohl zukommen als auch nicht zukommen würden. Dies »Wunder« (teras 129 B) wird ihm jetzt zuteil, und es wird dabei der Widersinn recht absichtlich, auch mehr als gerade nötig war, gehäuft; dies offenbar in scherzhaft polemischer Absicht: Ihr wolltet euch am Widerspruch laben, so habt ihn denn auch gleich faustdick. Es ist ein Überbieten (apodidionai tauta kai pleiô, Gleiches nicht mit Gleichem, sondern mit Aergerem[246] vergelten, 128 D), wie es im dialektischen Streit von PLATO auch sonst nicht für unbillig gehalten wird. Der ernsthafte Sinn des Spiels liegt im Gegensatz: Es ist falsch als das zu bestimmende Subjekt das Eine selbst zu setzen und von diesem nun alle möglichen Prädikate rein a priori auszusagen; das war der Grundfehler auch der Eleaten. Sondern das wahre zu bestimmende Subjekt ist vielmehr das »Andre« oder »Nicht-Eine«, welches nun hier, in der positiven Ergänzung, offen und ausdrücklich hervortritt als identisch mit dem x der Erfahrung, dem »Teilhabenden« oder Erscheinenden. Von diesem sind alle, auch die kontradiktorischen Bestimmungen aussagbar, denn es ist das Gebiet der bezüglichen Setzung, die bezügliche Setzung aber ermöglicht, die an sich genommen einander kontradizierenden, also sich wechselseitig aufhebenden Prädikate mit einander zu setzen ohne Widerspruch.

Damit aber ist schon das zentrale Problem aufgelöst. Von der Idee ist zur Erscheinung zu gelangen, denn die Erscheinung besagt die bezügliche Setzung, der Grund zur bezüglichen Setzung aber ist nunmehr aufgezeigt in den reinen Denkfunktionen selbst, zuletzt in der allgemeinen Funktion des Denkens, die eben im Beziehen besteht. Also sind die allein wahren Prädikate des Denkens, die reinen Setzungen, als Grundarten der Beziehung, dem wahren Subjekt unsrer Erkenntnis, dem Erfahrungsgegenstand, gemäß und darauf gültiger Weise anzuwenden, was zu beweisen war.

Dies der Entwurf, der sich in der Ausführung allerdings noch beträchtlich kompliziert. Bevor wir sie ins Auge fassen, bedarf nur noch eines Worts das Formale des Beweisverfahrens. Die Häufung der Trugschlüsse in einem Teile dieser Deduktionen ist so stark und dabei für ihren wesentlichen Zweck eher störend als förderlich, daß sie nur aus der ja deutlich ausgesprochenen Nebenabsicht der dialektischen »Übung« und zugleich der Abfertigung des Gegners, der deductio ad absurdum, erklärlich wird. Die Thesen selbst werden aber durch die vielfach spielerische Behandlung der Beweise nicht um ihre ernste Bedeutung gebracht, denn, berichtigt man die Fehlschlüsse, so kommt man doch in der Sache stets zum gleichen Ergebnis. Man soll also die Fehlschlüsse bemerken und selber berichtigen, wozu es im Einzelnen auch an Fingerzeigen nicht fehlt. Übrigens betrifft diese seltsame Behandlungsart, um deren willen manche Forscher sich an der ganzen Schrift verärgert haben, genau besehen nur[247] eine der Deduktionen, die allerdings, wohl in eben dieser Absicht, am breitesten ausgeführt ist, nämlich die zweite. Die andern sieben sind fast durchweg unanfechtbar, oder enthalten wenigstens nicht schwerere Anstöße, als sie auch sonst bei PLATO vorkommen. Man muß mit Blindheit geschlagen sein, wenn man auch da nicht den Ernst der Absicht und die sachliche Tiefe erkennen will. Nimmt man vollends an, daß die Herausforderung des SOKRATES, auf die eben jene zweite Deduktion antwortet, die Wiedergabe eines literarischen Angriffs ist, so erklärt sich alles, nach der sonst bekannten Art PLATOS, einfach genug.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 242-248.
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