I. Folgen für das Eine bei absoluter Setzung (Kap. 10-12).

[248] Das Eine, schlechthin abgesondert, für sich gesetzt (chôris 138 E), schließt jede fernere Bestimmung von sich aus, selbst die einfache Bestimmung, die doch die Hypothesis ihm beilegt: daß es ist. Schon in der Hypothesis selbst ist eine Mehrheit von Bestimmungen gesetzt, die durch die schlechthin verstandene Einheit doch ausgeschlossen sein sollte.

So war der Beweis ganz kurz und zugleich in voller Allgemeinheit zu führen. Die weitere Ausführung bezweckt hauptsächlich, die reinen Denkbestimmungen, die Grundprädikate, die aller Prädikation überhaupt zu Grunde liegen und darum wohl Kategorieen (d.i. Grundklassen der Prädikation) genannt werden dürfen, in einer Art System zu entwickeln. STALLBAUM hat die Frage aufgeworfen, woher wohl PLATO dies System habe. Man hat darin eine Vorstufe des aristotelischen Kategorieensystems, oder ein Nachbild der pythagoreischen Tafel der Gegensätze gesucht. Die Anwort liegt viel näher: ZENO und weiter zurück PARMENIDES haben das freie Operieren mit den Grundbegriffen aufgebracht, und dem ZENO scheint dabei eine gewisse Ordnung unter diesen schon vorzuschweben. Die drei Paare je zu einander kontradiktorischer Begriffe nun, nach welchen seine Schrift eingeteilt war, liegen deutlich, nur in etwas veränderter Anordnung, der platonischen Systematik zu Grunde.

ZENOS Schrift handelte der Reihe nach vom Gleichartigen und Ungleichartigen, vom Einen und Vielen, von Stillstand und Bewegung. PLATO hält an diesem allgemeinen Einteilungschema fest, nur treten erstens die Begriffe der Quantität vor die der Qualität. Das war schon durch das Ausgehen vom[248] parmenideischen Grundbegriff des Einen unbedingt geboten, hat aber vielleicht noch tiefere Gründe. Im Sophisten tritt dagegen an die Stelle der beiden Gegensätze: Einheit – Vielheit und Gleichartigkeit – Ungleichartigkeit der einzige der Identität und Verschiedenheit, in welchem, so scheint es, die Begriffe der Quantität und Qualität dort zusammengefaßt werden. Auffälliger ist die andere Abweichung: daß Stillstand und Bewegung hier im Parmenides unter den Begriffen der Quantität auftreten, während sie im Sophisten selbständig neben dem ersten Gegensatz der Identität und Verschiedenheit stehen, dem sie ja auch genau parallel gehen: Beharrung und Veränderung ist Identität und Verschiedenheit, verflochten mit der Zeit. Die eigentümliche Stellung derselben Begriffe im Parmenides erklärt sich eben hieraus: die Begriffe des Stillstands und der Veränderung vertreten hier nur das Stehenbleiben bei Einem und den Durchgang durch die Mannigfaltigkeit im Denken, wobei von einer Zeitbestimmung noch ganz abgesehen wird. Dagegen treten dann als dritte Hauptgruppe eben die Zeitbegriffe auf. Man kann demnach sagen: PLATO hat sich die Begriffe des Stillstands und der Bewegung zerlegt in 1. Einheit und Mannigfaltigkeit, 2. Zeit; wo es dann nur folgerichtig war, das erstere Moment unter der Quantität mitzubehandeln, d.h. diese selbst als konstante oder variable ins Auge zu fassen. So stellt sich zugleich die innere Übereinstimmung zwischen dem Parmenides und dem Sophisten wieder her. Als vierte Gruppe treten endlich hinzu die Begriffe des Seins und der Erkenntnis, die gleichfalls im Sophisten eine Gruppe für sich, getrennt von den vorigen, bilden. Diese Begriffe verhalten sich zu den übrigen etwa wie bei KANT die Kategorieen der Modalität zu denen der Quantität, Qualität und Relation. Bedenkt man, daß die kantischen Relationskategorieen sich wesentlich auf die Zeitordnung der Erscheinungen beziehen, so ist überhaupt die Analogie mit der kantischen Grundeinteilung auffallend. Im Einzelnen bleiben doch die Abweichungen groß genug; das eigentliche Verfahren der Relation, als Synthesis von Synthesen, kennt PLATO nicht.

Diese selbe Anordnung kehrt dann, im Einzelnen noch etwas erweitert, in der zweiten Deduktion wieder. Und auch in den folgenden, die durchweg sehr viel kürzer behandelt sind, ist doch das Grundschema der Einteilung überall zu erkennen, nur wird die Durchführung durch alle einzelnen Begriffe nicht mehr für nötig erachtet.[249]

Sachgemäß aber wird das System als solches an der ersten Deduktion erst eigentlich entwickelt. Ihr in sich höchst einfacher Grundgedanke gestattete gerade an ihr das Grundgerüst des Aufbaus der reinen Begriffe deutlich zu machen. Wir numerieren die Hauptbegriffe, um auf die gleichartige Wiederkehr in den folgenden Deduktionen durch bloße Beisetzung der entsprechenden Nummern hinweisen zu können.

A. Quantität. Die absolut gesetzte Einheit schließt aus: (1) alle Vielheit; somit auch Teile und Ganzes; folglich (2) Anfang, Mitte, Ende, mithin Begrenzung und Gestalt, sowie (3) Ortsbestimmung; daran anschließend (4) Beharrung und Veränderung. Damit wird nicht der Begriff der Zeit vorweggenommen, der erst an viel späterer Stelle (unten, C) eingeführt wird. Denn es ist nur der Begriff des Andersseins, der an der Veränderung hier in Betracht genommen wird. Das zeigt klar die Ausführung des Arguments: Da es kein in etwas Sein gibt, so erst recht kein in etwas Gelangen (der Grieche sagt: in etwas Werden), zumal der Ort des Übergangs unangebbar ist. Also es handelt sich um das Werden, um den Übergang in eine andere Bestimmung, sofern darin überhaupt eine Mehrheit von Bestimmungen und ein stetiger Zusammenhang in dieser Mehrheit gedacht wird, nicht aber, sofern sich diese Mehrheit mit der Zeit kompliziert. Man denke an den rein mathematischen Begriff der veränderlichen Größe, der auch nichts von Zeit einschließt, also rein dem Gebiete der Größe angehört.

B. In das Feld der Qualität treten wir über mit den Begriffen (5) Identität und Verschiedenheit. In aller Schärfe wird hier dargelegt: Einheit ist nicht schon dem Begriff nach Identität, also ist nicht das Eine durch sich selbst, als es selbst, mithin überhaupt nicht es selbst auch identisch, sondern die Identität wäre eine zweite, hinzukommende Bestimmung; worin das Motiv dieser ganzen Deduktion, die absolute Isolierung der einzelnen Denkbestimmung, zugleich aber die völlige Unhaltbarkeit dieser absoluten Isolierung besonders deutlich wird (139 D E). An die Identität und Verschiedenheit schließen sich (6) Gleichartigkeit und Ungleichartigkeit (Identität und Verschiedenheit in bestimmter Hinsicht), dann (7) Gleichheit und Ungleichheit, die sich zwar auf die Quantität erstrecken, aber ein identisches und nicht identisches Verhalten in Hinsicht der Quantität, also eine Qualität an der Quantität bedeuten;[250] mithin auch das Größer und Kleiner; durch welche Begriffe zusammen (8) der, somit ebenfalls eine qualitatives Moment einschließende Begriff des Maßes gegeben ist.

C. Nun erst wird (9) der Begriff der Zeit, und das älter, jünger oder gleich alt Sein, als Gleichheit oder Ungleichheit der Zeitdauer, eingeführt. Mit aller Zeitbestimmtheit aber würde dem Einen

D. (10) das Sein abzusprechen sein, welches, wie man sieht, hier durchaus als zeitliches, konkretes Sein, im Hinblick auf »mögliche Erfahrung« verstanden wird. Mit dem Sein aber ginge es dann auch aller Möglichkeit der Erkenntnis verlustig. Es gäbe von ihm weder Benennung noch Erklärung noch Erkenntnis, welche letztere durch die erläuternden Zusätze Wahrnehmung und Vorstellung (aisthêsis, doxa) wie durch diese ganze Korrelation zum zeitlichen, also empirischen Sein genugsam als konkrete, empirische Erkenntnis gekennzeichnet ist. Damit hat nun die These sich selbst aufgehoben.

In dieser Durchführung des wenn auch streng negativ verlaufenden Beweises durch das System der Grundbegriffe ist aber bereits die logische Verkettung unter diesen indirekt angedeutet. Und das erste Glied der Kette bildete die Einheit selbst. Daher erwartet man schon, daß jetzt vielmehr das Gegenteil gezeigt wird, nämlich daß die einzige Bestimmung der Einheit alle übrigen vielmehr zwingend herbeiführt. Das ist in der Tat der ernsthafte und durchaus positive Sinn der zweiten Deduktion.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 248-251.
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