A. Letzte Grundlage: Verknüpfung überhaupt.

[296] Schon der Phaedo lehrt die Wahrheit über das Sein (ta onta) in den logoi, das heißt nicht, den Begriffen, sondern den Urteilen suchen. Die Konsequenz der Methode der Ideen fordert aber von den Urteilen auf das Urteil zurückzugehn. So trat wirklich im Staat (511 B) an die Stelle der logoi – autos ho logos. War nun das Ergebnis des kritischen Teils der Untersuchung im Sophisten, daß vor jeder versuchten Aufstellung über »die Seienden« Klarheit gewonnen werden müsse über den Urbegriff »des Seienden«, so erwarten wir schon, daß der positive Aufbau der Seinslehre (von 251 ab) seinen Ausgang nehmen wird von dem Urteil, der Prädikation überhaupt.

Mit einem und demselben Subjekt (251 B hen hekaston hypothemenoi) verbinden sich in Urteilen viele Prädikate. Einige Philosophen haben zwar überhaupt für unzulässig gehalten, mit Etwas (als Subjekt) etwas Andres (als Prädikat) im Urteil zu verknüpfen (252 B hoi mêden eôntes koinônia pathêmatos heteron thateron prosagoreuein), das heißt, sie mißverstanden die Kopula als logische Gleichsetzung. Vieles, meinten sie, könne nicht Eines, Eines nicht Vieles sein, man dürfe zum Beispiel gar nicht aussagen, ein Mensch sei gut, sondern nur: Mensch sei Mensch und Gut sei Gut. Aber damit wäre überhaupt alle Möglichkeit der Aussage aufgehoben. Man dürfte dann auch nicht mehr sagen, es ist Bewegung oder es ist Stillstand, denn so verbände man schon mit dem Begriff der Bewegung oder des Stillstands den des Seins, und so wären alle verschiedenen Thesen über das, was ist, gleichermaßen aufgehoben. Aufs lächerlichste aber gerät der mit sich selber in Widerspruch, der diese Behauptung selbst vertreten will, jeder Begriff sei schlechthin für sich, getrennt von den andern; denn in eben dieser Aussage verknüpft er ja[296] mit dem Subjekt (jeder Begriff) die Prädikate Sein, Getrennt, Von andern und Für sich (252 C).

Andrerseits verbinden sich nicht etwa unterschiedslos alle Begriffe mit allen, zum Beispiel Stillstand ist nicht Bewegung, Bewegung nicht Stillstand. Also muß es sich mit den Begriffen ähnlich verhalten wie mit den Sprachlauten: daß sich nicht unterschiedslos alle mit allen zusammenfügen, sondern nur bestimmte mit bestimmten. Und zwar gehen vorzugsweise vor den andern die Vokale als Band durch alle hindurch, so daß es ohne einen von ihnen auch für die andern nicht möglich ist in Verbindung zu treten. So gibt es gewisse durch alle hindurchgehende, zusammenhaltende Begriffe, die die Verknüpfung überhaupt möglich machen, und wiederum andre, ebenso durchgehende Gründe der Scheidung der Begriffe (253 B C). Und wie es Sache einer eigenen Wissenschaft, der Lautlehre, ist, zu wissen, welche Laute sich mit welchen verbinden, Sache einer andern Wissenschaft, der Tonlehre, zu wissen, wie höhere und tiefere Töne sich richtig verbinden, so fordert es auch eine eigene Wissenschaft, zu erkennen, welche Begriffe (neben eidê, Grundgestalten, hier oft genê, Gattungen, aber auch ideai genannt) mit welchen zusammenstimmen und welche sich gegenseitig nicht dulden, und ob es solche durchgehende Begriffe gibt, welche die Verbindung und Trennung überhaupt möglich machen und begründen. Diese Wissenschaft ist die Dialektik, die auch schon im Phaedrus, aber nicht im gleichen Sinne wie hier, als Wissenschaft von der Verbindung und Trennung, der Synthesis und Analysis (synagôgê und diairesis) der Begriffe erklärt wurde.

Genauer wird die Erkenntnis der Begriffsbeziehungen in drei Stufen auseinandergelegt (253 D E, zu deuten nach 254 B C):

1. Zusammenfassung irgend einer Mannigfaltigkeit sinnlich einzelner und getrennter Gegenstände (henos hekastou keimenou chôris) in einer auf sie alle sich erstreckenden (also ihre unbestimmte Mehrheit in bestimmter Allheit begreifenden) Begriffseinheit (mian idean), z, B. Rot;

2. Zusammenfassung einer Mannigfaltigkeit solcher von einander verschiedener Einheiten (Ideen) unter einer umfassenden (Subsumtion unter dem Oberbegriff, z.B. von Rot, Blau u.s.f. unter Farbe);

3. Auffassung (allemal) einer letzten Idee, die, durch alle die vielen hindurchgehend (di' holôn pollôn = dia pantôn, 253 A, C,[297] 254 C), sie in einer Einheit zusammenschließt (nämlich der Kategorie, z.B. Qualität); während andre (als unter eine andre Kategorie gehörig) ganz von diesen zu trennen (aus der fraglichen Betrachtungsart auszuscheiden) sind. – Dieselben drei Stufen kehren in nicht sehr genauer Fassung, die aber die beabsichtigte Stufenordnung deutlicher zu erkennen gibt, 254 B C wieder als Erstreckung der Verknüpfung »auf Weniges, auf Vieles, auf Alles«.

Es soll nun nicht etwa diese ganze sehr weitläufige Untersuchung, welche Begriffe mit welchen verknüpfbar sind, hier vorgeführt, sondern die Erörterung auf wenige höchste Begriffe beschränkt, für diese aber auch erledigt werden; höchste Begriffe, genauer: größte, nämlich umfassendste; man darf sich dabei an die »größte« Wissenschaft (megiston mathêma) im Staat erinnern.

Hiermit ist das Problem der Kategorieen, ihrem strengsten Begriff nach, als oberster Verknüpfungs- mithin Urteilsarten gestellt. Nimmt man die nochmals auf die allgemeine Fragestellung der Möglichkeit des Urteils überhaupt zurückblickende Stelle, 259 D E, sogleich hinzu, so ergibt sich als letzte Grundlage: die Aussage, das Urteil (ho logos), beruhend auf der Verknüpfung (symplokê) der Begriffe überhaupt. Wer die Verknüpfung überhaupt aufhebt, aber auch wer unterschiedslos, aufs Geratewohl (hamê ge ) beliebige Begriffe verknüpfen will, hebt allen Sinn der Aussage, alles Urteil, alle Erkenntnis auf. Die Grundarten des Urteils also müssen beruhen auf den Grundarten der Verknüpfung, auf jenen fundamentalen Verknüpfungsweisen, die, durch alle Verknüpfungen hindurchgehend, sie möglich machen. Dazu gehören auch die negativen; auch die Trennung der Begriffe wird sich als eine Art der Verknüpfung herausstellen. –

Nur eine zusätzliche Bemerkung scheint hier am Platze. Nach der vom Parmenides her uns schon geläufigen inneren Beziehung der Begriffspaare Beharrung-Veränderung und Identität-Verschiedenheit, daher auch Verbindung-Trennung, ist ersichtlich, daß mit den jetzt gewonnenen Feststellungen zur durchgängigen Wechselbezüglichkeit aller solcher je paarweis sich gegenüberstehenden Grundbegriffe, und zwar schon im Bereiche der Eide selbst, nicht erst der Erscheinungen, der Grund gelegt ist; nicht bloß in dem allgemeinen Sinne, daß überhaupt eine Vereinbarkeit ja notwendige Vereinigung der je zu einander kontradiktorischen Bestimmungen in einer Seins- wie Denkkontinuität obwaltet; sondern so, daß in eben dieser[298] Kontinuität die Begriffe der Bewegung, des Werdens, der Verschiedenheit und mit dem allen der Verbindung, im vollen Sinne des strengen logischen Zusammenhalts, ihren Grund haben. Absolute, alle Veränderlichkeit ausschließende Ruhe, absolute, alle Verschiedenheit ablehnende Identität könnte nur in schlechthin isolierten Begriffen gedacht werden; fällt die Isolierung, gewinnt alles rein Gedachte zu allem vielmehr die innerlichste, lebendigste Beziehung, so wird, in und mit dieser Bezüglichkeit, auch der Wandel der Beziehung, und zwar im Sinne des stetigen Übergangs, aber in der Gesetzmäßigkeit solches Übergangs zugleich die echte Ruhe- und Identitätsansicht auch des Wandels und der Verschiedenheit selbst begründet sein. Auch das wird der weitere Gang der tief angelegten Deduktion bestätigen.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 296-299.
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