C. Das Nichtsein.

[306] Auf die Verschiedenheit oder das Nichtsein zielte überhaupt die ganze Betrachtung. Die ersten sie betreffenden Bestimmungen folgen direkt aus dem schon Gesagten. Es ist ein selbständiger, auf keinen der vier andern etwa zurückführbarer Begriff. Dagegen kommt er, ebenso wie der der Identität, allen andern zu, denn jeder von ihnen ist, wie mit sich identisch, so von den übrigen verschieden.

Daß nun die unter sich kontradiktorischen Prädikate, wie Identität und Nichtidentität, denselben Begriffen zukommen können, ist jetzt nicht mehr problematisch; es wird (256 B C), ganz einstimmig mit dem Phaedo, erklärt durch die gleichzeitige Teilhabe an den einander entgegengesetzten Begriffen, die darum aber nicht etwa selbst zusammenfallen. Die Verschiedenheit wird aber hierbei nun ausdrücklich zur Sonderung, und ferner zur Verneinung (dia tên koinônian thaterou, di' hên apochôrizomenê tautou gegonen ouk ekeino all' heteron, dann, D E, ouk oder mê on, 257 B apophasis, das »Absprechen«). Und es zeigt sich, daß alles zugleich am Sein und am Nichtsein teilhat; daß z.B. auch das Sein selbst alles Andre nicht ist. Dagegen darf man sich nicht sträuben, weil Gemeinschaft überhaupt zum Wesen der Begriffe gehört (257 A), nämlich nach ihrer Funktion im Urteil, welches ja, wie bewiesen, in Verknüpfung (»Gemeinschaft«) verschiedener Denkbestimmungen überhaupt besteht.

Das Nichtsein bedeutet demnach nicht etwa das »Gegenteil« (enantion) des Seins (257 B), sondern nur das Anderssein. – Hier ist freilich »das Gegenteil« kein genügend scharfer Ausdruck. Das erläuternde Beispiel – »Nicht-groß« (gegen ein Andres) könne so gut »Gleich« wie »Klein« bedeuten – würde auf den sogenannten konträren Gegensatz führen, der allerdings mehr als bloß Verschiedenheit, aber doch auch nur ein Andres, ebenso Positives besagt. PLATO will aber vielmehr sagen: das Nichtsein bedeute (hier) nicht jene absolute Aufhebung oder Vernichtung[306] des Seins, von der längst bewiesen ist und hier (258 E) wieder in Erinnerung gebracht wird, daß sie überhaupt keines Begriffs fähig ist; daß sogar, wer eben dies von ihr aussagt, sie sei keines Begriffs fähig, sich in Widerspruch verwickelt, sofern er im Subjekte dieser Aussage sie doch als einen möglichen Begriff zu setzen gar nicht vermeiden kann. Also: die verneinende Aussage bedeutet nicht etwa, daß das, von dem sie getan wird, überhaupt nichts sei. Es wird vielmehr notwendiger Weise unter einen andern Begriff gestellt, der nur von dem verneinten »abgegrenzt« und ihm »gegenübergestellt« wird (aphoristhen kai ... antitethen, 257 E, nachher antithesis 258 B). Verneinung besagt nur Anderssein; die Verneinung eines bestimmten Seins, d.h. positiven Prädikats, das Nicht-A bedeutet also ebenso gut ein Sein (ousia 258 B) wie das gegenüberstehende positive Prädikat (A) selbst.

Dies ist nun endlich der zum Behufe der Definition des Sophisten erforderliche Begriff des Nichtseins; welches dieser Deduktion zufolge ebenso sicher ist und seine eigne Natur hat wie das positive Sein, eine nicht weniger »mitzählende« Art des Seins wie dieses. Es ist nicht bloß (gegen die Behauptung des PARMENIDES) festgestellt, daß, sondern auch genau definiert, was es ist, und erwiesen, daß es sich ebenso wie das positive Sein auf alles, was ist, erstreckt (258 D). Beide, Position und Negation, gehen durch alles hindurch und verflechten sich namentlich auch mit einander: das Nichtsein ist, indem es am Sein teilhat. Es ist aber darum doch nicht das, woran es teilhat: das Sein; und als verschieden von diesem ist es notwendiger Weise eben Nichtsein. Das Sein hinwiederum ist durch Teilhabe am Anderssein ein andres als die übrigen Begriffe, ist also jedes von diesen nicht, ist überhaupt nichts Andres als es selbst, ist also zweifellos sehr Vieles nicht. Und in diesen anscheinend kontradiktorischen Aussagen ist wirklich kein Widerspruch, da die kontradiktorischen Prädikate stets nur in bestimmter Beziehung (pê, ekeinê kai kat' ekeino, 259 D E), nicht beliebig, aufs Geratewohl den bezüglichen Subjekten beigelegt werden. Wollte man hingegen alle Verknüpfung von einander verschiedener Begriffe (heteron heterô mignysthai, 260 A) aufheben, so würde man damit allen Sinn der Aussage aufheben. Der Erweis der Verflechtung verschiedener, auch kontradiktorischer Prädikate war also dazu notwendig: daß uns überhaupt der Logos, der logische Sinn und Wert der Aussage, das Urteil,[307] wie wir zu sagen pflegen, bestehen bleibt als »eine Gattung dessen was ist« (260 A). Andernfalls gäbe es nicht nur keine Philosophie mehr, sondern wäre überhaupt keinerlei Aussage mehr verstattet. Damit wird zur abschließenden Betrachtung, über das Nichtsein in Aussage und Urteil, übergelenkt. –

In dieser Deduktion fordert noch unsere besondere Aufmerksamkeit das Verhältnis der Verneinung, d.i. begrifflichen Abgrenzung zur Gemeinschaft. Sie könnte leicht scheinen, weil Ausschließung, vielmehr die Lösung aus der Gemeinschaft, als eben diese, zu bedeuten. Die Vermittlung liegt im Begriff des Andern. Das Andre ist das Andre des Andern. Der Grieche versteht durchaus die Andersheit als Gegenseitigkeit; er sagt nicht, wie wir: das Eine – das Andre, sondern: das Andre – das Andre. Ist A gegen B, so ist nicht minder B gegen A das Andre, sein Andres. Damit ist schon gegeben, daß die Andersheit nicht sowohl scheidet als verbindet. Die Abgrenzung wird Angrenzung, die Grenze vermittelt den Denkübergang. Die Gemeinschaft – die nach 257 A die »Natur« der Grundbegriffe ausmacht – schließt aber dies beides in sich: das Gegenüberstehen, in dem Eins nicht das Andre ist, und die Überwindung dieses verneinenden Sinns der Andersheit in einer übergreifenden Identität. Sie stellt daher in durchaus gleicher Positivität Sein gegen Sein (257 E), nicht etwa Sein gegen Nichtsein oder Nichtsein gegen Sein. Das so Gegeneinandergesetzte ist Beides, und ist darin Eins, eben Seiendes. Die »Natur« der Andersheit gehört darum nicht nur selbst überhaupt zum Sein (258 A), sondern sie gehört zum Wesen des Seins, ja sie macht, zusammen mit der des (nur bejahenden) Seins und im Gegenverhältnis zu dieser, das Wesen des Seins selbst aus (258 B), indem sie nicht dessen »Gegenteil«, sondern nur das Anderssein (d.h. ein Andres zum Andern, ein Zweites also, in durchaus positivem Verhältnis zum Erstgesetzten) bedeutet. Das aber ist die Grundbedingung jener »Verflechtung« (symplokê) 259 E; Verknüpfung, prosaptein, synaptein 251 D, 252 A C; Mischung, mixis, xymmixis, mignysthai, symmignysthai 252 f. 259 f. oft), die (nach 259 E) allgemein den Logos, den Sinn, den Seinssinn der Aussage, als selbst eine der Urgestalten eben des Seins, begründet; ohne die nicht etwa bloß alle Philosophie, sondern aller Sinn der Rede zunichte würde (260 A).

Mit dem allen aber rückt das Nichtsein dem ganz nahe, was sich als Grundbedingung des Logos zuvor schon herausgestellt[308] hatte: der Korrelation. Beides bezeichnet, zwar auf Grund der Auseinanderstellung, der Entgegensetzung (antithesis) und Abgrenzung (aphorismos), die den Sinn der Verneinung ausmacht, aber als ihre durchaus positive Kehrseite, die Gegenseitigkeit. »Nichtsein« ist nicht bloß, und ist etwas sehr Bestimmtes, Positives, sondern es gehört zu den wesentlichen und ersten Grundbestimmungen des Seins wie des Denkens. Es ermöglicht nichts Geringeres als die Bezüglichkeit überhaupt; deren Aufstellung als Grundbedingung aller Seinsaussage mit diesem allen bekräftigt wird.

Quelle:
Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus. Leipzig 21921, S. 306-309.
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