9. Kapitel

Kennzeichen einer guten Regierung

[120] Wenn man ganz im allgemeinen fragt, welche Regierung die beste sei, so wirft man eine ebenso unlösliche wie unbestimmte Frage auf, oder auch, wenn man will, eine Frage, die ebenso viele richtige Lösungen hat, als es nur irgendwelche denkbare Berechnungen in den absoluten wie relativen Lagen der Völker gibt.

Fragt man dagegen, woran es sich erkennen lasse, ob ein bestimmtes Volk gut oder schlecht regiert werde, so ist dies etwas anders, und eine so gestellte Frage kann richtig beantwortet werden.

Trotzdem ist ihre Lösung noch nicht gefunden, weil sie jeder auf seine Weise lösen will. Die Untertanen preisen die öffentliche Ruhe, die Staatsbürger die persönliche Freiheit; der eine stellt die Sicherheit des Eigentums höher, der andere die der Person; dem einen gilt die strengste Regierung als die beste, dem andern die mildeste; dieser verlangt die Bestrafung, der andere die Verhütung der Verbrechen; der eine findet es schön, den Nachbarn Furcht einzujagen, der andere wünscht ihnen lieber unbekannt zu sein; der eine ist zufrieden, wenn Geld im Umlaufe ist, der andere ver langt, daß das Volk Brot habe. Selbst wenn man über diese und andere ähnliche Punkte derselben Ansicht wäre, hätte man damit viel gewonnen? Da die moralischen Eigenschaften jedes genauen Maßstabes entbehren, würde man sich wohl über die Schätzung eines Kennzeichens verständigen können?

Mich persönlich setzt es immer in Verwunderung, daß man ein so einfaches Kennzeichen absichtlich oder unabsichtlich verleugnet. Was ist denn der Zweck der politischen Vereinigung? Doch nichts anderes als die Erhaltung und Wohlfahrt ihrer Glieder. Und welches ist das sicherste Kennzeichen, daß sie sich erhalten und gedeihen? Die[120] Zunahme der Bevölkerung. Man suche doch also dieses vielbestrittene Kennzeichen nicht wo anders. Bei Gleichheit aller übrigen Verhältnisse ist unstreitig die Regierung die beste, unter der sich ohne fremdartige Mittel, ohne Naturalisation, ohne Kolonien die Zahl der Bürger fort und fort vermehrt. Die Regierung dagegen, unter der ein Volk abnimmt und dahinschwindet, ist die schlechteste. Jetzt, ihr Rechenkünstler, macht euch an das Werk! Zählt, meßt und vergleicht!

Quelle:
ean-Jacques Rousseau: Der Gesellschaftsvertrag oder Die Grundsätze des Staatsrechtes. Leipzig [o.J.], S. 120-121.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Der Gesellschaftsvertrag
Universal-Bibliothek Nr. 1769: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts
Du contrat social / Vom Gesellschaftsvertrag: Französisch/Deutsch
Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundlagen des politischen Rechts
Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundlagen des politischen Rechts (insel taschenbuch)
Vom Gesellschaftsvertrag: oder Prinzipien des Staatsrechts (suhrkamp studienbibliothek)