Drittes Buch

[285] Obgleich die ganze Lebensperiode bis zum Eintritt in das Jünglingsalter eine Zeit der Schwäche ist, so gibt es doch während der Dauer dieses Lebensalter einen Zeitpunkt, wo deshalb, weil die Zunahme der Kräfte die der Bedürfnisse überstiegen hat, das heranwachsende Wesen trotz der absoluten Schwäche doch verhältnismäßig stark ist. Da seine Bedürfnisse noch nicht alle entwickelt sind, so reichen die wirklich vorhandenen Kräfte des Kindes vollkommen aus, um diejenige zu befriedigen, die es fühlt. Als Mann würde es sehr schwach sein, als Kind ist es sehr stark.

Woraus entspringt die Schwäche des Mannes? Aus der Ungleichheit, welche zwischen seiner Kraft und seinen Wünschen vorhanden ist. Unsere Leidenschaften sind es, die uns schwach machen, weil ihre Befriedigung mehr Kräfte erfordern würde, als uns die Natur verliehen hat. In der Verminderung unserer Wünsche also eine Erhöhung unserer Kräfte liegen; wer mehr vermag als er verlangt, hat deren übrig und ist folglich ein sehr starkes Wesen. Dies zeigt sich besonders in der dritten Periode der Kindheit, welche ich jetzt zu behandeln habe. Ich bediene mich noch immer des Ausdrucks Kindheit, weil es keine eigene Bezeichnung dafür gibt, denn obwohl sich dieses Alter schon dem Jünglingsalter nähert, ist es doch noch nicht das der Mannbarkeit.

Im zwölften oder dreizehnter Jahr entwickelt sich die Kräfte des Kindes ungleich schneller als seine Bedürfnisse. Das heftigste, das schrecklichste Bedürfnis hat sich ihm noch nicht fühlbar gemacht. Selbst das Organ desselben hat[285] noch nicht seine völlige Ausbildung erreicht und scheint, um aus seinem unvollkommenen Zustand hervorzutreten, nur darauf zu warten, daß der Wille es dazu zwingt. Wenig empfindlich gegen die Ungunst des Wetters und der Jahreszeiten, trotzt ihnen das Kind mit Leichtigkeit; seine zunehmende innere Wärme dient ihm als Kleid, sein Appetit als Würze. Jeder Nahrungsstoff ist seinem Alter dienlich. Ist es schläfrig, so legt es sich auf die Erde und schläft. Allenthalben sieht es sich von dem, was ihm nötig ist, umgeben. Noch quält es kein eingebildetes Bedürfnis; noch richtet es sich nicht nach fremder Meinung. Seine Wünsche reichen nicht weiter als seine Arme. Es ist nicht nur imstande, sich selbst zu genügen, sondern besitzt sogar noch mehr Kräfte als es bedarf. Dies ist aber auch die einzige Zeit seines Lebens, wo es der Fall sein wird.

Ich kann mir schon denken, welchen Einwurf man machen wird. Man wird zwar nicht behaupten, daß das Kind mehr Bedürfnisse habe, als ich ihm beilege, aber man wird leugnen, daß es die Kraft besitze, die ich ihm beimesse. Man wird unbeachtet lassen, daß ich eben von meinem Zögling rede und nicht von jenen umherwandelnden Puppen, die keinen größeren Marsch als von einem Zimmer in das andere kennen, die in Blumentöpfen Ackerbau treiben und papierne Lasten mit sich umherschleppen. Man wird mir einwenden, daß sich männliche Kraft auch nur im Mannesalter zeigen könne, daß nur die Lebensgeister, welche in den geeigneten Gefäßen bereitet sind und sich durch den ganzen Körper verbreiten, den Muskeln jene Festigkeit und Tätigkeit, jene Kraft und Elastizität mitzuteilen vermögen, welche die Quelle einer wahren Kraft sind. Das ist indes nur die Sprache der Stubenphilosophie; ich meinerseits berufe mich auf die Erfahrung. Ich sehe auf euren Landgütern große Jungen das Land bestellen, hacken, pflügen, Weinfässer aufladen, den Wagen lenken, ganz wie ihre Väter. Verriete sie der Ton ihrer Stimme nicht, so könne man[286] sie für Männer halten. Sogar in unseren Städten sind junge Arbeiter, wie Grob-, Zeug- und Hufschmiede, fast ebenso stark als ihre Meister, und würden kaum weniger geschickt sein, wenn man sie beizeiten geübt hätte. Wenn es einen Unterschied gibt, und ich räume ein, daß es einen solchen gibt, so ist derselbe, ich wiederhole es, doch weit geringer, als der zwischen den wilden Begierden eines Mannes und den beschränkten Wünschen eines Kindes. Uebrigens ist hier nicht etwa bloß von den physischen Kräften die Rede, sondern ganz besonders von der Kraft und Fähigkeit des Geistes, die erstere ersetzt und leitet.

Dieser Zeitraum, in welchem das Individuum mehr Kraft entwickelt als seine Begierde erfordern, ist, wie ich schon gesagt habe, zwar nicht die Zeit seiner größten absoluten Kraft, aber doch die seiner größten relativen Kraft. Es bildet die kostbare Zeit des Lebens, eine Zeit, die nur einmal erscheint; eine sehr kurze Zeit, und, wie man aus dem Folgenden sehen wird, um so kürzer, je mehr auf eine gute Anwendung derselben ankommt.

Was soll mein Emil nun mit diesem Ueberschuß an Fähigkeiten und Kräften anfangen, der jetzt seine Bedürfnisse übersteigt und ihm im späteren Alter fehlen wird? Er soll sich angelegen sein lassen, ihn zur Erwerbung alles dessen anzuwenden, was ihm dereinst im Augenblick des Bedürfnisses nützlich sein kann. Er soll gleichsam den Ueberfluß seines gegenwärtigen Zustandes für die Zukunft aufheben. Das kräftige Kind soll Vorräte für den schwachen Mann anlegen. Aber es soll sie nicht etwa Kasten anvertrauen, welche man ihm stehlen kann, noch sie in Scheuern aufspeichern, die ihm nicht gehören. Nein, um sich seinen Erwerb im wahren Sinn zu seinem Eigen zu machen, muß es ihm in seinen Armen, in seinem Kopf, kurz in sich selbst ansammeln. Das ist demnach die Zeit der Arbeit, des Unterrichtes, des Sterbens; und lasset dabei nicht außer acht, daß die Wahl derselben nicht von mir willkürlich getroffen[287] ist, sondern daß die Natur selber sie uns als solche bezeichnet.

Die menschliche Fassungskraft hat ihre Grenzen; ein Mensch kann nicht allein alles wissen, er kann sich nicht einmal das wenige, was die übrigen Menschen wissen, vollständig aneignen. Da der Gegensatz jeder falschen Behauptung eine Wahrheit ist, so ist die Zahl der Wahrheiten ebenso unerschöpflich wie die der Irrtümer. Es kommt folglich darauf an, ebensowohl in bezug auf die Gegenstände, welche den Unterrichtsstoff bilden sollen, wie in bezug auf die Zeit, die zum Lernen derselben am geeignetsten ist, eine Wahl zu treffen. Unter den unserer Fassungskraft angemessenen Kenntnissen sind einige falsch, andere unnütz, und wieder andere dienen nur dazu, den Stolz dessen, der sie sich erworben hat, zu nähren. Die kleine Zahl derjenigen, welche in Wahrheit zu unserem Wohlsein beiträgt, verdient allein, daß ein weiser Mann nach ihnen strebt, und folglich muß auch nur zu ihrer Erwerbung ein Kind, welches man zu einem solchen machen will, angehalten werden. Es gilt nicht, alles, was ist, zu kennen, sondern nur das, was nützlich ist.

Von dieser kleinen Anzahl muß man ferner noch die Wahrheiten in Abzug bringen, deren Verständnis schon einen völlig ausgebildeten Verstand erheischt, sowie diejenigen, welche die Kenntnis der Beziehungen der Menschen untereinander voraussetzen, die ein Kind noch nicht erlangen kann, und endlich auch die, welche, so wahr sie auch an und für sich sind, ein unerfahrenes Gemüt veranlassen können, sich über andere Gegenstände ein falsches Urteil zu bilden.

Im Verhältnis zu den Dingen, die überhaupt existieren, sind wir dadurch auf einen sehr kleinen Kreis beschränkt; aber trotzdem bildet dieser Kreis noch immer ein unermeßliches Feld für die Fähigkeit des kindlichen Geistes. O du Finsternis des menschlichen Verstandes, welche verwegene[288] Hand wagte deinen Schleier zu berühren? Welche Abgründe sehe ich sich durch unser eitles Wissen rings um diesen unglücklichen Knaben öffnen! O du, der du ihn auf diesen gefährlichen Pfaden leiten und den heiligen Vorhang der Natur vor seinen Augen hinwegziehen willst, erzittern! Versichere dich zuerst ernstlich, seines Kopfes und des deinigen; bleibe in steter Besorgnis, daß er dem einen oder dem anderen, oder vielleicht auch allen beiden schwindeln werde. Fürchte den gleißnerischen Reiz der Lüge und die berauschenden Dünste des Stolzes. Sei immer, aber auch immer eingedenk, daß Unwissenheit noch niemals Schaden angerichtet hat, daß einzig und allein der Irrtum verderblich ist, und daß man nicht durch das in Irrtümer verfällt, was man nicht weiß, sondern durch das, was man zu wissen glaubt.

Die Fortschritte eures Zöglings in der Geometrie könnten euch als zuverlässiger Prüfstein und Maßstab für die Entwicklung seines Geistes dienen. Sobald er jedoch das Nützliche vom Unnützen zu unterscheiden vermag, so kommt es nun darauf an, ihn unter Aufgebot aller möglichen Behutsamkeit und Kunst in die spekulativen Studien einzuführen. Verlangt ihr zum Beispiel von ihm, daß er eine mittlere Proportionale zwischen zwei Linien suche, so stellt es so an, daß ihr ihn zuerst auf den Gedanken bringt, ein Quadrat zu konstruieren, welches einem gegebenen Rechteck gleich ist. Wäre ihm die Aufgabe gesellt, zwei mittlere Proportionale zu finden, so müßte man ihm zuerst die Aufgabe von der Verdoppelung des Kubus recht interessant machen usw. Beachtet, wie wir uns stufenweise den moralischen Begriffen nähern, welche uns Gutes und Böses unterscheiden lehren. Bis zu diesem Augenblick haben wir nur das Gesetz der Notwendigkeit gekannt; jetzt wenden wir auch schon dem Nützlichen unsere Aufmerksamkeit zu, und bald werden wir auch das Schickliche und Gute in den Kreis unserer Betrachtung ziehen.[289]

Ein und derselbe Naturtrieb belebt die verschiedenen Fähigkeit des Menschen. Der Tätigkeit des Körpers, welcher sich zu entwickeln bemüht ist, reiht sich jetzt die Tätigkeit des Geistes an, der sich zu unterrichten sucht. Anfangs sind die Kinder nur in fortwährender Bewegung, sodann werden sie neugierig, und diese Neugierde ist, sobald sie gut geleitet wird, die Triebfeder in dem Alter, bei dem wir jetzt angelangt sind. Laßt uns nur stets die der Natur entspringenden Neigung von denen, die in Vorurteilen ihre Quelle haben, unterscheiden. Es gibt eine Wißbegierde, die sich nur auf den Wunsch gründet, für gelehrt zu gelten; es gibt indes auch eine andere, die aus einer dem Menschen angebornen Neugierde entsteht und sich über alles, was ihn nah oder fern interessieren kann, erstreckt. Die angeborene Sehnsucht nach Wohlsein und die Unmöglichkeit, dieselbe völlig zu befriedigen, treiben den Menschen an, unaufhörlich neue Mittel zur Stillung derselben aufzusuchen. Dies ist das erste Prinzip der Mißbegierde, ein dem menschlichen Herzen natürliches Prinzip, dessen Entwicklung indes mit der Entfaltung unserer Leidenschaften und unserer Einsichten stets gleichen Schritt hält. Stellt euch einen Philosophen vor, der mit seinen Instrumenten und Büchern auf eine wüste Insel verbannt ist und mit Sicherheit weiß, daß er daselbst den Rest seiner Tage einsam zubringen muß. Er wird sich schwerlich noch um das Weltsystem, um die Gesetze der Anziehungskraft, oder um die Differenzialrechnung kümmern. Vielleicht wird er in seinem ganzen Leben kein einziges Buch wieder aufschlagen; aber nie wird er es unterlassen, seine Insel auch bis auf den letzten Winkel zu durchsuchen, wie groß sie auch immer sein möge. Laßt uns deshalb von unserem ersten Unterricht solche Kenntnisse fernhalten, an denen der Mensch von Natur kein Interesse findet, und uns auf diejenigen beschränken, deren Aneignung uns der Naturtrieb wünschenswerth macht.[290]

Für das menschliche Geschlecht kann die Erde als eine solche Insel gelten. Der uns am meisten in die Augen fallende Gegenstand ist die Sonne. Sobald wir aufhören, uns ausschließlich mit uns selbst zu beschäftigen, werden sich unsere ersten Beobachtungen auf beide richten müssen. In der Tat hat es auch die Philosophie fast aller wilden Völker lediglich mit imaginären Einteilungen der Erde und mit der Gottheit der Sonne zu tun.

Welch ein Sprung! wird man vielleicht sagen. Soeben waren wir nur mit dem beschäftigt, was uns berührt, mit dem, was uns unmittelbar umgibt; und auf einmal durchfliegen wir den ganzen Erdkreis und durchmessen das Weltall bis zu seinen äußersten Enden! Dieser Sprung ist die Wirkung der Zunahme unserer Kräfte und der Neigung unseres Geistes. Im Zustand der Schwäche und Ohnmacht konzentriert uns die Sorge der Selbsterhaltung auf uns selbst; im Zustand der Macht und der Stärke drängt uns das Verlangen, uns auszudehnen, aus uns heraus und läßt uns so weit wie möglich davoneilen. Da uns jedoch die intellektuelle Welt noch unbekannt ist, so schweift unser Denken nicht weiter als unsere Augen reichen, und unser Verstand dehnt sich nur mit dem Raum aus, den er durchmißt.

Laßt uns unsere sinnlichen Wahrnehmungen in Begriffe verwandeln, aber nicht plötzlich von sinnlichen Objekten auf übersinnliche überspringen. Vermittels der ersteren müssen wir zu den letzteren gelangen. Bei den ersten Funktionen des Geistes müssen die Sinne seine Führer sein. Kein anderes Buch als die Welt; kein anderer Unterricht als Tatsachen. Ein Kind, welches liest, denkt nicht, seine ganze Tätigkeit beschränkt sich auf das Lesen; es unterrichtet sich nicht, sondern lernt nur Worte.

Lernt die Aufmerksamkeit eures Zöglings auf die Erscheinungen in der Natur, dann werdet ihr ihn bald wißbegierig machen; um jedoch seine Wißbegierde zu nähren,[291] dürft ihr euch nicht beeilen, sie zu befriedigen. Legt ihm seiner Fassungskraft angemessene Fragen vor und laßt ihn selbst die Anwort finden. Sein Wissen darf er nicht eurem Unterricht zu verdanken haben, sondern es muß das Ergebnis seiner eigenen Beobachtung und Ueberlegung sein; er darf die Wissenschaft nicht lernen, sondern muß sie von neuem auffinden. Wenn ihr je in seinem Geiste die Autorität an die Stelle der Vernunft setzt, so wird er nie mehr selbst überlegen; er wird sodann lediglich der Spielball fremder Ansichten sein.

Ihr beabsichtigt das Kind in der Geographie zu unterrichten und holt ihm zu dem Zwecke einen Globus, Karten des gestirnten Himmels und Atlanten herbei. Was für künstliche Apparate! Wozu denn alle diese bildlichen Darstellungen? Weshalb laßt ihr es nicht euer erstes sein, ihm den Gegenstand selbst zu zeigen, damit es wenigstens begreife, wovon ihr mit ihm redet?

An einem schönen Abend macht man einen Spaziergang nach einem günstig gelegenen Ort, wo es uns der freie Horizont möglich macht, den Untergang der Sonne genau zu beobachten, und merkt sich die Gegenstände, an welchen man den Ort ihres Untergangs wieder aufzufinden vermag. Am folgenden Morgen kehrt man, um sich in der erquickenden Morgenluft zu erfrischen, noch vor Aufgang der Sonne an den nämlichen Ort zurück. Feurige Pfeile, welche sie vor sich herschleudert, verkünden ihr Nahen. Röter und röter flammt der Himmel, der ganze Osten erscheint wie ein einziges Flammenmeer. Bei dieser Glut erwartet man das Tagesgestirn lange bevor es sich zeigt. Jeden Augenblick glaubt man es auftauchen zu sehen; endlich bietet es sich den Blicken dar. Ein strahlender Punkt bricht blitzartig hervor und erfüllt alsbald den ganzen Raum; der Schleier der Finsternis erbleicht und senkt sich. Der Mensch erkennt seine Heimat hienieden wieder und findet sie verschönert. Das Grün hat während der Nacht[292] neue Frische erhalten; der anbrechende Tag, der es erhellt, die ersten Strahlen, welche es vergolden, zeigen es mit einem Netze funkelnden Taues bedeckt, das Licht und Farben zurückstrahlt. Die Vögel versammeln sich in Chören und begrüßen gemeinschaftlich den Vater des Lebens mit ihren Jubelliedern. In diesem Augenblick schweigt auch nicht ein einziger; ihr noch leises Gezwitscher ist süßer als im Lauf des Tages; die Sehnsucht eines friedlichen Erwachens klingt durch dasselbe hindurch. Diese mannigfaltigen Genüsse bringen auf die Sinne einen Eindruck von Frische hervor, der bis in die Seele zu dringen scheint. Die kurze halbe Stunde, die das wunderbare Schauspiel währt, übt einen Zauber aus, dem niemand zu widerstehen vermag: ein so großes, so schönes, so liebliches Schauspiel kann niemanden kalt lassen.

Das Entzücken, daß der Lehrer empfindet, wünscht er nun auch in dem Kinde wachzurufen; er glaubt, daß es ebenfalls ergriffen werden wird, wenn es auf die Empfindungen aufmerksam macht, von welchen er selbst bewegt wird. Reine Torheit! Im Herzen des erfahrenen Mannes liegt das Leben dieses Naturschauspiels; um es recht zu sehen, muß man es empfinden können. Das Kind gewahrt wohl die Gegenstände, allein die Beziehungen, in welchen sie zueinander stehen, vermag es nicht aufzufinden, vermag die süße Harmonie ihres Zusammenwirkens nicht aufzufassen. Um den Gesamteindruck zu empfinden, der das Ergebnis aller dieser einzelnen Eindrücke ist, bedarf es einer Erfahrung, die das Kind sich noch nicht erworben, bedarf es Gefühle, die es noch nicht empfunden hat. Hat es noch keine dürre Ebene lange durchwandert, hat noch kein glühender Sand seine Füße verletzt, hat es noch nicht die erstickende Hitze der von den Felsenwänden zurückgeworfenen Sonnenstrahlen daniedergedrückt: wie soll es dann die erquickende Frische eines schönen Morgens genießen können? Wie soll dann der Wohlgeruch der Blumen, der Zauber des frischen[293] Grüns, der feuchte Duft des Taues, der weiche und elastische Gang auf einem Rasenteppich seine Sinne entzücken? Wie vermag der Gesang der Vögel ein Gefühl der Wollust in ihm zu erregen, wenn ihm die Töne der Liebe und der Lust noch unbekannt sind? Wie soll es den Anbruch eines so schönen Tages mit entzücken willkommen heißen, wenn ihm seine Phantasie noch nicht die Freuden auszumalen vermag, mit denen man ihn ausfüllen kann? Und wie soll es sich endlich von der Schönheit eines Schauspiels der Natur ergriffen fühlen, wenn es die Hand nicht kennt, welche Sorge getragen hat, dieselbe so herrlich zu schmücken?

Haltet dem Kinde keine Reden, die ihm unverständlich sind. Fort mit allen Beschreibungen, mit aller äußeren Beredsamkeit, mit bloßen Redefiguren und poetischem Schmuck! Jetzt handelt es sich noch nicht um Bildung des Gefühls und Geschmacks. Bleibt nach wie vor klar, einfach und kalt. Nur allzufrüh wird die Zeit kommen, wo ihr eine andere Sprache führen müßt.

Erzogen im Geist meiner Grundsätze, gewöhnt, alle seine Hilfsmittel in sich selbst zu finden und zu anderen nicht eher seine Zuflucht zu nehmen, bis er sein eigenes Unvermögen erkannt hat, wird Emil jeden neuen Gegenstand, den er erblickt, lange prüfen, ohne etwas zu sagen. Er ist an eigenes Denken gewöhnt, und nicht geneigt, anderen mit Fragen lästig zu fallen. Begnügt euch also damit, ihm die Gegenstände im rechten Augenblick vorzuweisen: erst wenn ihr seine Wißbegierde ausreichend beschäftigt seht, sucht ihn durch irgendeine hingeworfene lakonische Frage auf den rechten Weg zu bringen, sie zu befriedigen.

Nachdem ihr nun bei jeder Gelegenheit mit ihm den Aufgang der Sonne genau betrachtet, nachdem ihr ihn auf der Ostseite die Berge und die anderen benachbarten Gegenstände habt anschauen und darüber ungestört plaudern lassen, so beobachtet, wie jemand, der in tiefes Nachdenken versunken ist, einige Augenblicke Stillschweigen, und sagt dann[294] zu ihm: »Ich überlege eben, daß gestern abend die Sonne doch dort drüben untergegangen ist, während sie heute morgen hier aufgeht. Wie ist das möglich?« Weiter fügt jedoch nichts hinzu. Legt er euch Fragen vor, so antwortet gar nicht darauf. Redet von anderen Dingen. Ueberlaßt ihn sich selbst und seid versichert, daß er darüber nachdenken wird.

Damit ein Kind sich an Aufmerksamkeit gewöhne, und damit es von einer äußerlich wahrnehmbaren Wahrheit tief ergriffen werde, muß ihm letztere einige Tage lang Unruhe bereiten, bevor man es sie finden läßt. Wenn es sie dann auf die angegebene Weise trotzdem nicht genügend begreift, so gibt es ein Mittel, sie ihm noch in die Augen fallender zu machen, und dieses Mittel besteht darin, die Frage umzukehren. Weiß es nicht, wie die Sonne von ihrem Untergangspunkt zu ihrem Aufgangspunkt gelangt, so weiß es wenigstens, wie sie den Weg von letzterem zu ersterem zurücklegt; schon seine Augen belehren darüber. Sucht ihm also die erste Frage durch die Zweite zu verdeutlichen. Ist euer Zögling nicht völlig schwachsinnig, so kann ihm die Analogie, die ja auf der Hand liegt, unmöglich entgehen. Dies ist seine erste Lektion in der Weltkunde.

Da wir immer nur langsam von einem sinnlichen Begriff zum anderen fortschreiten und uns stets lange mit jedem einzelnen vertraut machen, bevor wir zu einem anderen übergehen, und da wir endlich unseren Zögling nie zur Aufmerksamkeit zwingen, so vergeht von dieser ersten Lektion bis zur Kenntnis des Laufes der Sonne und der Gestalt der Erde eine gar lange Zeit. Da aber alle scheinbaren Bewegungen der Himmelskörper von derselben Ursache herführen, und da die erste Beobachtung zu allen übrigen führt, so ist weniger Anstrengung, obgleich möglicherweise mehr Zeit erforderlich, um von der täglichen Umdrehung zur Berechnung der Finsternisse zu gelangen, als um die Entstehung von Tag und Nacht zu begreifen.[295]

Da sich die Sonne um die Erde bewegt, so beschreibt sie einen Kreis, und jeder Kreis muß, wie wir bereits wissen, einen Mittelpunkt haben. Dieser Mittelpunkt ist freilich nicht sichtbar, weil er sich im Innern der Erde befindet, aber man kann auf der Oberfläche zwei einander entgegengesetzte Punkte bezeichnen, die ihm entsprechen. Ein Stab, der durch diese drei Punkte ginge und nach beiden Richtungen hin bis auf den Himmel verlängert wäre, würde die Achse der Welt und der täglichen Bewegung der Sonne veranschaulichen. Ein sich auf seiner Spitze drehender runder Drehwürfel stellt den Himmel dar, wie er sich um seine Achse dreht; die beiden Spitzen des Drehwürfels bilden die Pole. Dem Kind wird es jedenfalls eine große Freude machen, einen dieser Weltpole kennen zu lernen. Ich zeige ihm denselben im Schwanz des kleinen Bären. Von jetzt an fehlt es uns auch nicht an einem Zeitvertreib für die Nacht. Nach und nach machen wir uns mit den Sternen vertraut, und hieraus bildet sich das erste Verlangen, die Planeten kennen zu lernen und die Sternbilder zu beobachten.

Wir haben den Sonnenaufgang am Johannistag betrachtet, wir wollen ihn auch zu Weihnachten oder an irgendeinem anderen schönen Wintertag sehen, denn, wie bekannt, sind wir nicht träge und machen uns ein Spiel daraus, der Kälte zu trotzen. Ich sorge dafür, daß diese zweite Beobachtung an demselben Ort stattfindet, an welchem wir die erste angestellt haben, und bei nur einigem Geschick in deren Vorbereitung kann es nicht ausbleiben, daß der eine oder der andere ausruft: »Ei, wie seltsam! Die Sonne geht nicht mehr an der nämlichen Stelle auf! Hier sind noch unsere alten Kennzeichen, und jetzt ist sie dort aufgegangen« usw. Der Ort des Sonnenaufgangs im Sommer ist also von dem im Winter verschieden usw. – Jetzt, mein junger Lehrer, bist du auf dem richtigen Weg. Diese Beispiele werden ausreichend sein, um dich auf die beste Methode aufmerksam zu machen, die Himmelskunde in[296] richtiger Weise zu lehren, nämlich so, daß du die Kenntnis der Welt aus der Welt selbst und die Kenntnis der Sonne aus der Sonne selbst schöpfest.

Halte überhaupt den Grundsatz fest, nie das Zeichen an Stelle der Sache zu setzen, falls es nicht unmöglich ist, sie selbst vorzuweisen, denn das Zeichen beschäftigt die volle Aufmerksamkeit des Kindes und läßt es die durch dasselbe dargestellte Sache gänzlich vergessen.

Das Planetarium oder die Armillarsphäre scheint mir ein schlecht konstruiertes und in ungenauen Verhältnissen ausgeführtes Lehrmittel zu sein. Dieser Wirrwarr von Kreisen und die sonderbaren Figuren, welche man darauf anbringt, verleihen ihm das Ansehen eines Zauberkastens, der den Geist der Kinder abschrecken muß. Die Erde ist zu klein, die Kreise sind zu groß und zu zahlreich; einige derselben, wie die Jahreszeitenkreise, sind vollkommen unnütz. Jeder Kreis ist breiter als die Erde; die Dicke der Pappe gibt ihnen ein Ansehen des Körperlichen, was leicht die falsche Vorstellung hervorrufen kann, als ob sie wirklich vorhandene ringförmige Massen vorstellen; und sagt ihr dem Kinde, daß man sich diese Kreise nur denke, so fehlt ihm das Verhältnis für das, was es sieht, und es begreift gar nichts mehr.

Wir verstehen nie, uns an die Stelle der Kinder zu versetzen; statt auf ihre Ideen einzugehen, leihen wir ihnen die unsrigen, und indem wir beständig unseren eigenen Schlüssen nachgehen, häufen wir mit all den Reihen von Wahrheiten nur verschrobene Ansichten und Irrtümer in ihrem Kopfe auf.

Man streitet sich über die Vorzüge der analytischen oder synthetischen Methode beim Studium der Wissenschaften. Nicht immer hat man aber nötig, unter ihnen eine Wahl zu treffen. Bisweilen lassen sich bei einer und derselben Untersuchung beide Methoden miteinander verbinden, und man kann ein Kind unter Benutzung der lehrenden Methode[297] anleiten, während es selbst nur zu analysieren meint. Wenn man auf diese Weise beide gleichzeitig zur Anwendung brächte, würden sie sich gegenseitig als Beweis dienen. Ginge das Kind zu gleicher Zeit von zwei entgegengesetzten Punkten aus, ohne sich dessen bewußt zu sein, daß es denselben Weg zurücklegte, so würde es beim endlichen Zusammentreffen völlig überrascht werden, und diese Ueberraschung könnte nur sehr angenehm sein. In der Geographie würde ich zum Beispiel von ihren beiden Endpunkten ausgehen und mit dem Studium der Bewegungen der Erdkugel die Lehre von dem Verhältnis ihrer einzelnen Teile verbinden, wobei ich mit der Heimat den Anfang machte. Während das Kind die Himmelskunde studiert und sich auf diese Weise gleichsam bis in den Himmel versetzt, müßt ihr es auch wieder zur Erde und ihrer Einteilung zurückführen und es zunächst mit seinem Wohnort bekannt machen.

Die beiden ersten geographischen Anhaltspunkte, die es genau kennen lernen muß, werden die Stadt, in welcher es wohnt, und das Landhaus seines Vaters sein; hieran reihen sich die zwischen beide liegenden Orte, darauf folgen die Flüsse in der Nachbarschaft, endlich der Stand der Sonne und die Art und Weise, sich zu orientieren. Hierin liegt der Vereinigungspunkt. Es muß sich nun selbst eine ganz einfache Karte entwerfen, welche zunächst nichts als jene erwähnten zwei Ausgangspunkte enthält, und denen es nach und nach die übrigen nach der Reihenfolge hinzufügt, wie es ihre Lage und Entfernung erfährt oder selbst abschätzt. Ihr könnt daraus schon sehen, welch einen Vorteil wir ihm bereits früher verschafften, als wir uns sein Augenmaß auszubilden bemühten.

Trotz alledem wird man das Kind ohne Zweifel ein wenig leiten müssen, aber ja nur sehr wenig und vor allen Dingen so, daß es ihm nicht fühlbar wird. Irrt es sich, so laßt es ruhig geschehen, verbessert seine Fehler durchaus nicht; wartet es still ab, bis es imstande ist, sie selbst einzusehen[298] und wieder gutzumachen, oder richtet es bei günstiger Gelegenheit höchstens so ein, daß es durch dieselben empfindlich berührt werde. Wenn es sich niemals einer Täuschung hingäbe, würde es sicherlich nicht gut auffassen lernen. Uebrigens kommt es durchaus nicht darauf an, daß es mit voller Genauigkeit die Topographie des Landes, sonder darauf, daß es die Mittel kenne, sich über diese zu unterrichten. Es verschlägt wenig, ob es die Karten im Kopf habe, wenn es nur gründlich versteht, was sie darstellen, und wenn es nur einen deutlichen Begriff von der Kunst hat, sie zu entwerfen. Daran könnt ihr schon den Unterschied zwischen dem Wissen eurer Zöglinge und der Unwissenheit des meinigen bemerken. Jene kennen die Karten, und er entwirft sie. Dadurch gewinnen wir wieder neue Ausschmückungen für sein Zimmer.

Bleibet stets eingedenk, daß der Geist meines Unterrichts nicht darin besteht, dem Kind vielerlei Dinge beizubringen, sondern darin, sich niemals andere als deutliche und klare Begriffe in seinem Kopf festsetzen zu lassen. Wenn Emil auch gar nichts wüßte, würde es doch wenig verschlagen, vorausgesetzt, daß er sich nicht irrtümlichen Anschauungen hingäbe; und ich suche seinen Geist nur deshalb mit immer neuen Wahrheiten bekannt zu machen, um ihn vor Irrtümern zu bewahren, die sich sonst an ihrer Stelle einnisten würden. Die Entwicklung der Vernunft und Urteilskraft geht nur langsam vor sich, während sich die Vorurteile massenhaft herbeidrängen; und gerade vor diesen muß man ihn bewahren. Wenn ihr indes die Wissenschaft an und für sich ins Auge faßt, so fahrt ihr in ein Meer ohne Grund, ohne Ufer und voller Klippen hinaus, aus dem ihr euch nie wieder zurückfinden werdet. Wenn ich einen Menschen sehe, der, voll heißer Liebe zu den Wissenschaften, sich durch den Reiz derselben verführen läßt und, unvermögend sich zu beherrschen, von einer zu der anderen eilt: so kommt es mir vor, als sehe ich ein Kind welches am Meeresufer Muscheln sammelt[299] und sich mit ihnen gleich anfangs beladet, darauf jedoch, durch den Anblick immer neuer in Versuchung gebracht, einige wieder wegwirft und andere aufhebt, bis es schließlich, von ihrer Menge überbürdet und außerstande, noch eine Wahl zu treffen, alle wegwirft und leer zurückkehrt.

Während des ersten Lebensalters verstrich die Zeit langsam; aus Besorgnis, sie übel anzuwenden, gingen wir nur darauf aus, sie zu vertreiben. Jetzt tritt das Gegenteil ein, denn wir haben nicht Zeit genug, um alles auszuführen, was ersprießlich sein würde. Erwägt, daß die Leidenschaften im Anzug sind, und daß euer Zögling, sobald sie an die Tür klopfen, ihnen seine Aufmerksamkeit ausschließlich schenken wird. Das friedliche Alter des erwachenden Verstandes dauert so kurz, vergeht so schnell, muß zu so viel anderen notwendigen Dingen ausgenützt werden, daß es geradezu eine Torheit wäre, zu verlangen, sie solle auch noch hinreichend sein, das Kind gelehrt zu machen. Es kommt weniger darauf an, es in den Wissenschaften zu unterrichten, als darauf, ihm Geschmack an ihnen einzuflößen und ihm die Methoden beizubringen, sie zu erlernen, sobald sich dieser Geschmack erst mehr entwickelt haben wird. Dies ist sicherlich ein Hauptgrundsatz jeglicher guten Erziehung.

Jetzt ist auch die rechte Zeit gekommen, in der man das Kind nach und nach daran gewöhnen muß, einen und demselben Gegenstand eine ununterbrochene Aufmerksamkeit zu schenken; aber diese Aufmerksamkeit darf nie etwa erzwungen werden, sondern muß stets aus eigener Lust und Liebe hervorgehen. Sorgfältig muß man darüber wachen, daß sie dem Kind nicht zur Last falle oder ihm gar Langeweile verursache. Haltet deshalb beständig die Augen offen, und steht, was immer die Folge davon sein möge, von allem ab, noch ehe es eine Beute der Langeweile wird, denn es ist durchaus nicht so wichtig, daß es etwas lerne, als vielmehr daß es nichts mit Widerwillen verrichte.

Legt euch das Kind Fragen vor, so antwortet nur gerade[300] so viel als nötig ist, seine Wißbegierde rege zu erhalten, nicht aber sie völlig zu befriedigen. Vorzüglich beobachtet aber augenblicklich die größte Zurückhaltung, wenn ihr wahrnehmt, daß es nicht fragt, um sich zu unterrichten, sondern nur um zu faseln und euch mit albernen Fragen zu belästigen, denn dann steht so viel fest, daß es ihm nicht mehr um die Sache, sondern lediglich darum zu tun ist, euch durch seine Fragen zu tyrannisieren. Man muß dabei weniger die Worte, die es spricht, als vielmehr den Beweggrund zu beachten, der es zum Sprechen treibt. Diese Warnung, welche bisher weniger nötig war, wird von der äußersten Wichtigkeit, sobald das Kind selbst zu urteilen beginnt.

Es gibt eine Kette von allgemeinen Wahrheiten, vermittels welche alle Wissenschaften von gemeinsamen Prinzipien ausgehen und sich erst nach und nach aus denselben entwickeln. An diese Kette halten sich die Philosophen; um sie handelt es sich jedoch hier nicht. Es gibt indes noch eine andere, wesentlich von dieser ersteren verschiedene, durch welche jeder einzelne Gegenstand notwendig einen anderen nach sich zieht und auf den, der ihm folgt, hinweist. Letztere Ordnung nun, welche durch eine ununterbrochene Neugier die Aufmerksamkeit, die alle diese Gegenstände erfordern, wach erhält, ist es, der die meisten Menschen folgen, und die vorzugsweise den Kindern vorteilhaft ist. Damit wir uns beim Entwurf unserer Karten zu orientieren vermochten, mußten wir Mittagslinien ziehen. Zwei Durchschnittspunkte, zwischen den am Morgen und Abend gleich großen Schatten liefern für einen dreizehnjährigen Astronomen eine ausgezeichnete Mittagslinie. Aber diese Mittagslinien verwischen sich immer wieder; es erfordert Zeit, sie stets von neuem zu ziehen. Sie nötigen uns dazu, beständig an dem nämlichen Ort zu arbeiten. So viel Mühe, so viel Zwang müßten dem Kind endlich langweilig werden. Wir haben es vorausgesehen und treffen deswegen schon im voraus Vorkehrungen.[301]

Da habe ich mich wiederum auf weitschweifige und kleinliche Einzelheiten eingelassen. Ich höre, lieber Leser, schon dein Murren, allein ich trotze ihm. Ich kann es nicht über mich gewinnen, deiner Ungeduld den nützlichsten Teil dieses Buches zum Opfer zu bringen. Fasse deinen Entschluß, wie du dich meiner Weitschweifigkeit gegenüber zu verhalten gedenkst, denn was mich anlangt, so habe ich den meinigen hinsichtlich deiner Klagen schon gefaßt.

Bereits seit langer Zeit hatten wir, mein Zögling und ich, die Wahrnehmung gemacht, daß Bernstein, Glas, Siegellack und verschiedene andere Körper, sobald sie gerieben werden, Strohhalme anziehen, während anderen diese Eigenschaft fehlt. Zufällig finden wir einen, dem eine noch merkwürdigere Kraft innewohnt, nämlich die, in einiger Entfernung, und noch dazu ohne erst gerieben zu werden, Eisenfeilspäne und andere Eisenstückchen anzuziehen. Wie lange gewährt uns diese Eigenschaft Zeitvertreib, ohne daß wir irgend etwas Weiteres darin erblicken! Endlich entdecken wir aber auch, daß sie sich dem Eisen selbst mitteilt, wenn es in einer bestimmten Richtung mit einem Magnet gestrichen wird. Eines Tages besuchen wir den Jahrmarkt78. Ein Taschenspieler zieht mit einem Stückchen Brot eine Ente von Wachs an, welche auf einem Wasserbecken schwimmt. Trotz unserer großen Ueberraschung glauben wir doch nicht, daß wir es mit einem Hexenmeister zu tun haben, denn wir wissen gar nicht, was ein Hexenmeister[302] ist. Da uns schon oft Wirkungen, deren Ursachen wir nicht kennen, Bewunderung abgenötigt haben, so übereilen wir uns nicht, ein Urteil zu fällen, sondern bleiben ruhig in unserer Unwissenheit, bis sich uns eine Gelegenheit darbietet, von derselben frei zu werden.

Nach Hause zurückgekehrt, verfallen wir, da sich das Gespräch immer wieder von neuem um die Ente auf dem Jahrmarkt dreht, endlich auf den Gedanken, das Kunststück nachzumachen. Wir nehmen eine taugliche Nadel, die stark magnetisch ist, und umhüllen sie mit weichem Wachs, dem wir, so gut wir es vermögen, die Gestalt einer Ente zu geben suchen, so das die Nadel durch die ganze Länge des Körpers geht und die Spitze den Schnabel bildet. Nun setzen wir die Ente auf das Wasser, halten einen Schlüsselring in einiger Entfernung von dem Schnabel, und sehen mit leicht begreiflicher Freude, daß unsere Ente dem Schlüssel gerade ebenso folgt, wie die auf dem Jahrmarkt dem Stück Brot folgte. Nach welcher Richtung hin die Ente auf dem Wasser haltmacht, wenn man sie in Ruhe läßt, das zu beobachten wird sich ein anderes Mal Gelegenheit darbieten. Da wir augenblicklich mit unserem Gegenstand vollauf beschäftigt sind, verlangen wir nichts weiter.

Noch an dem nämlichen Abend kehren wir mit einem Stück gut präparierten Brotes in der Tasche auf den Jahrmarkt zurück, und sobald der Taschenspieler sein Kunststück gemacht hat, sagt mein kleiner Gelehrter, der kaum noch an sich zu halten vermag, zu ihm, daß dies Kunststück nicht schwierig sei und er es ebensogut machen könne. Er wird beim Wort genommen. Sofort zieht er das Brot, in welchem das Stück Eisen verborgen ist, aus der Tasche. Während er sich dem Tische nähert, klopft ihm das Herz. Fast zitternd hält er der Ente das Brot hin; sie kommt und folgt ihm. Das Kind jauchzt vor Wonne auf und hüpft vor Freude. Bei dem Händeklatschen und den Beifallsäußerungen der versammelten Menge schwindelt ihm[303] der Kopf; es ist außer sich. So betroffen der Gaukler auch scheint, so nähert sich ihm derselbe doch um es zu umarmen und zu beglückwünschen. Er bittet es, ihn auch am folgenden Tage mit seiner Gegenwart zu beehren, indem er hinzufügt, er werde dafür Sorge tragen, eine noch größere Menschenmenge um sich zu versammeln, um seiner Geschicklichkeit Beifall zu spenden. Mein kleiner Naturforscher, dessen Stolz erwacht ist, macht Miene, sein Geheimnis auszuplaudern; aber augenblicklich verschließe ich ihm den Mund und führe ihn, von Lobsprüchen überhäuft, hinweg.

Das Kind zählt mit lächerlichen Ungeduld die Minuten bis zum nächsten Tage. Alle, die ihm begegnen, ladet es ein. Es wünschte, die ganze Menschheit könnte Zeuge seines Ruhmes sein. Es kann kaum die Stunde erwarten und möchte die Uhr vorstellen. Wir fliegen förmlich nach dem Orte des Zusammentreffens; der Saal ist bereits gefüllt. Beim Eintreten zieht Freude in sein junges Herz ein. Andere Taschenspielerkunststücke sollen vorhergehen; der Künstler übertrifft sich selbst und macht wahrhaft überraschende Dinge. Das Kind sieht von allem dem nichts. Es ist in fortwährender Unruhe, schwitzt und vermag kaum zu atmen. Es vertreibt sich die Zeit damit, sein Stückchen Brot in der Tasche mit vor Ungeduld zitternder Hand unaufhörlich zu betasten. Endlich kommt sein Kunststück an die Reihe, und mit einer gewissen Feierlichkeit, kündigt es der Künstler dem Publikum an. Etwas verlegen tritt Emil hervor und zieht sein Brot heraus... Doch welch ein Wechsel der Dinge! Die gestern so zahme Ente ist heute völlig wild geworden. Anstatt den Schnabel dem Brote zuzukehren, dreht sie ihm den Schwanz zu und entflieht. Sie weicht dem Brot und der Hand, die es darbietet, mit derselben Sorgfalt aus, mit der sie ihnen zuvor gefolgt war. Nach tausend vergeblichen und regelmäßig belachten Versuchen fängt das Kind sich zu beschweren an, klagt, man suche es zu täuschen, man habe der ersten Ente eine[304] andere untergeschoben, und richtet an den Taschenspieler die Aufforderung, diese an sich zu locken.

Ohne ein Wort zu erwidern, nimmt der Taschenspieler ein Stück Brot und hält es der Ente hin. Augenblicklich folgt die Ente dem Brot und schwimmt hinter der Hand her, die es zurückzieht. Jetzt nimmt das Kind dasselbe Stück Brot, aber weit entfernt zu einem besserem Resultat als zuvor zu gelangen, muß es vielmehr mit ansehen, wie die Ente seiner gleichsam spottet und rings um den Rand des Beckens flieht. Ganz verlegen entfernt es sich endlich und wagt sich dem Gelächter nicht länger auszusetzen.

Jetzt nimmt der Taschenspieler das Stück Brot, welches das Kind mitgebracht hatte, und gelangt durch dasselbe zu dem nämlichen Resultat wie durch das seinige. Vor aller Augen zieht er sogar das Eisen hervor; ein neues Gelächter auf unsere Kosten! Darauf zieht er sogar die Ente mit dem bloßen Brot ebensogut wie zuvor an. Dieselben Dienste leistet ihm ein in aller Gegenwart von dritter Hand abgeschnittenes Stück Brot, ja selbst sein Handschuh und seine Fingerspitze. Endlich tritt er mitten in das Zimmer und kündigt in jenem feierlichen Ton, wie er dergleichen Leuten eigen zu sein pflegt, an, daß die Ente seiner Stimme ebensogut wie seinen Bewegungen gehorchen werde. Er redet sie an, und die Ente ist folgsam; er befiehlt ihr nach rechts zu schwimmen, und sie schwimmt nach rechts, zurückzukommen, und sie kommt zurück, sich umzudrehen, und sie dreht sich um. Befehl und Ausführung der Bewegung sind eins. Der erhöhte Beifall erhöht nur unsere Beschämung. Unbemerkt schleichen wir uns fort und schließen uns in unser Zimmer ein, ohne aller Welt, wie wir uns doch vorgenommen hatten, unseren Erfolg auszuposaunen.

Am nächsten Morgen klopft es an unsere Tür. Ich öffne, und der Taschenspieler steht vor mir. In bescheidenen Worten beschwert er sich über unser Benehmen. Was hätte er uns getan, das uns hätte Veranlassung geben können,[305] seine Kunststücke herabzusetzen und ihn dadurch möglicherweise um seinen Broterwerb zu bringen? Welche große Merkwürdigkeit läge denn in der Kunst, eine Ente von Wachs anzuziehen, um diese Ehre auf Kosten des Unterhalts eines ehrlichen Mannes erkaufen zu wollen? »Fürwahr, meine Herren, hätte ich irgend etwas anderes gelernt, um mir dadurch meinen Lebensunterhalt zu verdienen, so würde ich meinen Ruhm schwerlich in dieser Kunst suchen. Sie konnten sich doch leicht vorstellen, daß ein Mann, der sein ganzes Leben damit zugebracht hat, sich in diesem elenden Gewerbe zu üben, etwas mehr davon verstehen muß als Sie, die Sie sich verhältnismäßig nur wenige Zeit damit beschäftigen. Wenn ich Ihnen meine Meisterstücke nicht sofort von Anfang an gezeigt habe, so liegt der Grund einfach darin, weil man sich nicht beeilen muß, unbesonnenerweise gleich alles, was man weiß, aufzutischen. Stets trage ich Sorge, meine besten Kunststücke für eine besondere Gelegenheit aufzusparen, und außer diesen hebe ich noch immer einige andere auf, um der vorwitzigen Jugend damit entgegentreten zu können. Uebrigens, meine Herren, will ich Sie mit dem Geheimnis, welches Sie in so große Verlegenheit setzte, herzlich gern bekannt machen, muß Sie indes bitten, es nicht zu meinem Nachteil zu mißbrauchen und ein anderes Mal zurückhaltender zu sein.«

Darauf zeigt er uns seine Maschine, und wir gewahren zu unserer äußersten Ueberraschung, daß sie nur aus einem starken und gut armierten Magnet besteht, welchen ein unter dem Tische verborgenes Kind unbemerkt hin und her bewegte.

Der Mann steckt seine Maschine wieder ein, und nachdem wir ihm unseren Dank und unsere Entschuldigungen ausgesprochen haben, wollen wir ihm ein Geschenk einhändigen. Er lehnt es ab. »Nein, meine Herren, Sie haben sich mir gegenüber nicht so tadelfrei gezeigt, daß ich Geschenke von Ihnen annehmen könnte. Sie sollen sich[306] mir wider Ihren Willen verpflichtet fühlen; das sei meine einzige Rache. Mögen Sie daraus lernen, daß es in allen Ständen Edelmut gibt. Ich lasse mir wohl meine Kunststücke bezahlen, nicht aber die Lektionen, die ich erteile.«

Beim Weggehen wendet er sich noch direkt an mich und erteilt mir ganz laut einen Verweis. »Gern,« sagt er, »will ich dieses Kind entschuldigen; es hat nur aus Unwissenheit gefehlt. Sie jedoch, mein Herr, der Sie seinen Fehler einsehen mußten, weshalb haben Sie ihn denselben begehen lassen? Da Sie zusammen leben, so liegt Ihnen, als dem Aelteren, die Pflicht ob, ihm mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Ihre Erfahrung muß ihm als Autorität gelten, so daß er sich durch dieselbe leiten läßt. Sollte es sich dereinst, wenn es erwachsen ist, über seine Jugendfehler Vorwürfe machen, so wird es unzweifelhaft die Schuld derer, auf welche Sie es nicht aufmerksam gemacht haben, Ihnen zuschieben.«79

Er geht und läßt uns beide in größter Bestürzung zurück. Ich tadle mich meiner weichlichen Nachgiebigkeit willen, ich gelobe dem Knaben, sie ein anderes Mal seinem Besten zum Opfer bringen zu wollen und es vor Fehlern zu warnen, bevor es dieselben begehe. Denn nun nähert sich die Zeit, wo in unseren gegenseitigen Verhältnissen eine Aenderung eintreten und der Ernst des Lehrers an die Stelle der kameradschaftlichen Nachgiebigkeit treten muß. Diese Veränderung darf nur stufenweise vor sich gehen.[307] Alles muß man voraussehen, und zwar schon aus weiter Ferne voraussehen.

Am nächsten Tag begeben wir uns abermals auf den Jahrmarkt, um uns das Kunststück, dessen Geheimnis wir erfahren haben, noch einmal anzusehen. Mit tiefer Ehrfurcht nähern wir uns dem Sokrates der Taschenspieler; kaum wagen wir die Augen zu ihm aufzuschlagen. Er überhäuft uns jedoch mit Artigkeiten und weißt uns unseren Platz in so ausgezeichneter Weise an, daß wir uns nur noch mehr gedemütigt fühlen. Darauf macht er seine Kunststücke wie gewöhnlich, nur verweilt er mit offenbarem Vergnügen bei der Ente, wobei er uns öfter mit ziemlich stolzer Miene anblickt. Wir wissen alles, verraten uns aber auch nicht durch das leiseste Zeichen. Wenn mein Zögling auch nur den Mund zu öffnen wagte, so wäre er wert, vernichtet zu werden.

Alle Einzelheiten dieses Beispiels sind von ungleich höherer Wichtigkeit, als es den Anschein haben möchte. Wieviel Lehren sind in dieser einzigen enthalten! Welche demütigenden Folgen zieht die erste Regung der Eitelkeit nach sich! Junger Lehrer, sorge dafür, daß dir diese erste Regung nicht entgeht! Verstehst du es so einzurichten, daß für deinen Zögling daraus gleichfalls Demütigungen und Unannehmlichkeiten hervor gehen müssen,80 dann kannst du versichert sein, daß so bald keine zweite folgen wird. »Aber was für künstliche Vorkehrungen!« wird man einwenden. Ich räume es ein, und dies alles nur – um uns eine Boussole zu verschaffen, die uns die Mittagslinie vertreten kann.[308]

Nachdem wir uns davon überzeugt haben, daß der Magnet auch durch andere Körper hindurchwirkt, haben wir nichts Eiligeres zu tun, als eine Maschine zu konstruieren, die der, welche wir gesehen haben, ähnlich ist: einen ausgeschnittenen Tisch, ein in die Höhlung passendes ganz flaches Becken, welches einige Linien hoch mit Wasser gefüllt ist, eine mit etwas größerer Sorgfalt gearbeitete Ente usw. Nachdem wir ihren Bewegungen rings um das Becken oft unsere Aufmerksamkeit geschenkt haben, machen wir endlich auch die auffallende Beobachtung, daß die Ente, sobald sie sich in Ruhe befindet, fast immer nach der nämlichen Richtung schaut. Diese Beobachtung beschäftigt unser Nachdenken, wir untersuchen die erwähnte Richtung und kommen zu dem Ergebnis, daß sie von Süden nach Norden geht. Mehr bedarf es nicht; unser Kompaß ist gefunden oder doch so gut wie gefunden. Damit haben wir uns den Weg zur Physik gebahnt.

Es gibt auf der Erde verschiedene Himmelsstriche und in denselben wieder verschiedene Temperaturen. Je mehr wir uns dem Pol nähern, desto auffallender wird uns der Wechsel der Jahreszeiten. Alle Körper ziehen sich in der Kälte zusammen und dehnen sich in der Wärme aus. Diese Wirkung läßt sich auf Flüssigkeiten am besten messen und fällt bei Spirituosen am meisten in die Augen. Dieser Erscheinung hat der Thermometer seine Entstehung zu verdanken. Der Wind trifft das Gesicht: die Luft ist folglich ein Körper, ein Fluidum; man fühlt sie, obgleich man kein Mittel besitzt, sie dem Auge sichtbar zu machen. Stellt man ein umgedrehtes Glas ins Wasser, so wird es das Wasser nicht völlig ausfüllen, wenigstens so lange man der Luft keinen Ausgang gestattet. Folglich ist die Luft widerstandsfähig. Drückt man das Glas noch tiefer hinein, so wird das Wasser zwar steigen, ohne jedoch den Raum völlig ausfüllen zu können. Die Luft kann demnach bis zu einem gewissen Punkt zusammengepreßt werden. Ein mit komprimierter[309] Luft gefüllter Ball springt höher als ein mit irgend einem anderen Stoff gefüllter; die Luft ist deshalb ein elastischer Körper. Erhebt man, wenn man ausgestreckt im Bade liegt, den Arm horizontal aus dem Wasser, so wird man den Eindruck erhalten, als ob ein ungeheures Gewicht auf demselben laste. Die Luft ist folglich auch ein schwerer Körper. Setzt man die Luft mit anderen Flüssigkeiten ins Gleichgewicht, so ist man imstande, ihr Gewicht zu messen. Dieser Erfahrung verdanken wir die Erfindung des Barometers, des Hebers, der Windbüchse, Luftpumpe. Alle Gesetze der Statik und der Hydrostatik können aus ganz alltäglichen Erfahrungen hergeleitet werden. Ich verlange durchaus nicht, daß man deswegen ein Kabinett für Experimentalphysik besuche; all dieser Apparat von Instrumenten und Maschinen behagt mir nicht. Der gelehrte Anstrich tötet die Wissenschaft. Entweder schrecken alle diese Maschinen ein Kind nur zurück, oder ihre Gestalt teilt seine Aufmerksamkeit, welche sich allein auf die Experimente richten sollte.

Mein Wunsch ist, daß wir alle unsere Maschinen selbst verfertigen; mit der Konstruktion eines Instruments will ich jedoch nicht vorgehen, bis uns eine hinreichende Erfahrung zur Seite steht. Haben wir nun wie zufällig eine Erfahrung gemacht, so wünsche ich, daß wir auch das Instrument, welches uns dieselbe bestätigen soll, nach und nach erfinden. Lieber als die vollkommensten und genauesten Instrumente sind mir unsere hier und da vielleicht etwas mangelhaften, sobald nur unsere Ideen von dem, was sie sein sollen, und von den Wirkungen, die sie hervorbringen sollen, klarer und genauer sind. Behufs meines ersten Unterrichts in der Statik lege ich, anstatt erst nach einer Wage umherzuschicken, einen Stab quer über die Stuhllehne, messe, wenn sich der Stab im Gleichgewicht befindet, die Länge der beiden Arme desselben und hänge auf beide Seiten bald gleiche, bald ungleiche Gewichte, und finde[310] dadurch, daß ich nach Bedürfnis hin und her ziehe und schiebe, endlich, daß das Gleichgewicht durch das wechselseitige Verhältnis zwischen der Größe des Gewichts und der Länge der Hebelarme hergestellt wird. Dadurch hat mein kleiner Physiker die Fähigkeit erhalten, Wagen zu berichtigen noch ehe er solche gesehen hat.

Es erleidet keinen Widerspruch, das die Begriffe von den Dingen, welche man sich auf diese Weise selbst erwirbt, viel deutlicher und zuverlässiger sind als diejenigen, welche man sich durch die Unterweisung anderer aneignet. Man gewöhnt dadurch seine Vernunft nicht nur nicht, sich knechtisch einer fremden Autorität zu unterwerfen, sondern man macht sich auch fähiger, Beziehungen aufzufinden, Ideen zu associiren, Instrumente zu ersinnen, als wenn man alles, so wie es dargeboten wird, hinnimmt und den Geist in Trägheit versinken läßt, wie ja auch der Körper eines Mannes, der sich von seinen Leuten, von Kopf bis zu Füßen anziehen und von seinen Pferden fahren läßt, schließlich die Kraft und den Gebrauch seiner Glieder verliert. Boileau pflegte sich damit zu rühmen, daß er Racine die Kunst, schwer zu reimen, beigebracht hätte. Bei so vielen meisterhaften Methoden, die die Erleichterung des Studiums der Wissenschaften bezwecken, wäre es wahrlich außerordentlich notwendig, daß uns jemand auch eine zur Erschwerung desselben an die Hand gäbe.

Der klarste und sichtbarste Vorteil dieser langsamen und mühseligen Untersuchungen beruht darin, daß man bei all den spekulativen Studien den Körper in seiner Tätigkeit und die Glieder in ihrer Geschmeidigkeit erhält und die Hände unablässig zur Arbeit und zu einem dem Menschen nützlichen Gebrauch ausbildet. Die vielen Instrumente, welche zu dem Zweck erfunden sind, uns bei unseren Experimenten zu leiten und unseren Sinnen da, wo es ihnen an der nötigen Genauigkeit gebricht, ergänzend zur Seite zu treten, haben den Uebelstand hervorgerufen, daß wir die[311] Uebung der Sinne nun erst recht vernachlässigen. Der Winkelmesser befreit uns von der Mühe, die Größe der Winkel abzuschätzen. Das Auge, welches ganz gut imstande wäre, die Entfernungen mit Genauigkeit zu bestimmen, verläßt sich auf die Kette, die sie statt seiner mißt; die Schnellwage, durch welche ich das Gewicht kennen lerne, erspart es mir, dasselbe mit der Hand abzuschätzen. Je sinnreicher unsere Werkzeuge sind, desto unausgebildeter und ungeschickter werden unsere Organe. Weil wir darauf ausgehen, uns äußerlich mit Hilfsmitteln zu umgeben, finden wir dieselben nicht mehr in uns selbst.

Sobald wir jedoch zur Herstellung dieser Maschinen die Geschicklichkeit aufbieten, die bisher für jene eintrat, sobald wir zu ihrer Anfertigung den Scharfsinn anwenden, der uns ihre Entbehrung bisher nicht fühlbar machte, so gewinnen wir, ohne daneben irgendeinen Verlust zu haben, wir verbinden die Kunst mit der Natur und werden scharfsinniger, ohne an unserer Geschicklichkeit eine Einbuße zu erleiden. Wenn ich einen Jungen, anstatt ihn fortwährend über den Büchern sitzen zu lassen, in einer Werkstatt beschäftige, so arbeiten seine Hände zum Vorteil seines Geistes: er wird ein Philosoph, trotzdem er sich nur für einen Handwerker hält. Endlich bringt diese Uebung auch noch andere Vorteile, deren ich weiter unten erwähnen werde; und man wird sehen, wie man sich von philosophischen Spielereien zu den wahren menschlichen Tätigkeiten zu erheben vermag.

Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß sich die rein spekulativen Kenntnisse für Knaben selbst dann nicht eignen, wenn sie sich schon dem Jünglingsalter nähern. Indessen muß man, ohne sie gerade sehr weit in die systematische Physik eindringen zu lassen, darauf hinzuwirken suchen, daß sich alle ihre Erfahrungen durch eine Art von Deduktion aneinander reihen, damit sie sie mit Hilfe dieser Verkettung in ihrem Geiste zu ordnen und, so oft es das Bedürfnis erheischt, in ihre Erinnerung zurückrufen vermögen, denn[312] es ist sehr schwer, daß nicht im Zusammenhang stehende Tatsachen und selbst Schlußfolgerungen lange im Gedächtnis haften bleiben, sobald es an einem Aufknüpfungspunkt fehlt, von dem aus man sie stets wieder in der Erinnerung wachrufen kann.

Bei dem Aufsuchen der Naturgesetze beginne man beständig mit den gewöhnlichsten und sinnlich wahrnehmbarsten Erscheinungen und gewöhne seinen Zögling, diese Erscheinungen nicht für Gründe, sondern für Tatsachen zu halten. Ich nehme einen Stein und stelle mich, als ob ich ihn in die Luft legen wolle. Nun öffne ich die Hand, und der Stein fällt. Ich bemerke, daß Emil alles, was ich tue, aufmerksam verfolgt, und frage ihn: »Weshalb ist dieser Stein gefallen?«

Welches Kind würde diese Frage unbeantwortet lassen? Keins, selbst Emil nicht, wenn ich es nicht habe meine Hauptsorge sein lassen, ihn so vorzubereiten, daß er sich keines Unvermögens, eine Antwort geben zu können, bewußt ist. Sämtliche werden sagen, daß der Stein fällt, weil er schwer ist. Was ist denn nun aber schwer? Das was fällt. Der Stein fällt also, weil er fällt? Hier sitzt mein kleiner Philosoph ernstlich fest. Das ist seine erste Lektion in der systematischen Physik, und möge er nun aus ihr für letztere direkten Nutzen ziehen oder nicht, jedenfalls wird sie für die Ausbildung seines richtigen Urteils vorteilhaft sein.

Je mehr die geistige Entwicklung des Kindes zu nimmt, desto mehr zwingen andere wichtige Erwägungen, zu seinen bisherigen Beschäftigungen noch neue hinzutreten zu lassen. Sobald das Kind dahin gelangt, sich wenigstens im Umfang zu kennen, daß es begreift, was sein Wohlbefinden ausmacht, sobald es auch ausgedehntere Beziehungen in dem Grade zu fassen vermag, daß es das beurteilen kann, was ihm ersprießlich ist und was nicht, so ist es auch imstande, den Unterschied zwischen Arbeit[313] und Vergnügen herauszufühlen und letzteres nur als eine Erholung von der Arbeit zu betrachten. Alsdann können Gegenstände, welche einen wirklichen Nutzen gewähren, in den Kreis seiner wirklichen Studien hineingezogen werden, und nun tritt die Verpflichtung an es heran, ihnen einen beharrlicheren Fleiß zu widmen, als es bisher auf die bloßen Vergnügungen verwandte. Das Gesetz der Notwendigkeit, welches sich immer wieder geltend macht, lehrt den Menschen schon früh, das zu tun was ihm nicht gefällt, um dadurch einen Uebel vorzubeugen, das ihm noch mehr mißfallen würde. Darin besteht der Vorteil der Voraussicht, und aus dieser gut oder schlecht geregelten Voraussicht entspricht alle menschliche Weisheit sowie alles menschliche Elend.

Jeder Mensch will glücklich werden; um aber dies Ziel zu erreichen, müßte er zunächst wissen, was das Glück denn eigentlich bildet. Das Glück des Naturmenschen ist ebenso einfach wie sein Leben; es besteht aus Gesundheit, Freiheit, Besitz des Notwendigen, mit einem Wort: in dem Freisein von Leiden. Das Glück des moralischen Menschen trägt einen anderen Charakter; aber von diesem ist hier nicht die Rede. Ich kann nicht oft genug wiederholen, daß nur rein physische Gegenstände den Kindern Interesse einzuflößen vermögen, namentlich solchen, deren Eitelkeit noch nicht erweckt ist und welche nicht bereits durch das Gift der Meinung verderbt sind.

Wenn die Kinder ihre Bedürfnisse, noch ehe sie diese empfinden, voraussehen, so ist ihr Verstand schon weit fortgeschritten; sie beginnen den Wert der Zeit zu erkennen. Jetzt ist es von hoher Wichtigkeit, sie daran zu gewöhnen, diese auf nützliche Dinge zu verwenden. Freilich muß der Nutzen derselben ihrem Alter bemerkbar und ihrem Verstand einleuchtend sein. Alles was auf die moralische Ordnung und auf das gesellschaftliche Herkommen bezug hat, darf ihnen nicht so halb vorgeführt werden, weil sie noch nicht imstande sind, es zu verstehen. Es ist eine leidige Torheit,[314] von ihnen zu verlangen, daß sie sich Dinge aneignen sollen, von denen man ihnen ganz im allgemeinen sagt, daß sie zu ihrem Besten seien, ohne daß sie wissen, worin denn dies Beste bestehe, und von denen man ihnen die Versicherung erteilt, sie würden als Erwachsene Vorteil davon haben, ohne daß sie für diesem angeblichen Vorteil, welchen sie noch gar nicht zu begreifen vermögen, gegenwärtig irgendein Interesse fühlen.

Das Kind darf nie etwas auf das bloße Wort tun; nichts ist ihm so gut als das, wovon es selbst fühlt, daß es gut ist. Indem ihr euch beständig bestrebt, das Kind über die Grenzen seiner Einsichten hinauszudrängen, glaubt ihr mit großer Voraussicht zu verfahren, während es euch gerade an derselben gebricht. Um es mit einigen unnützen Werkzeugen auszurüsten, die es vielleicht niemals anzuwenden Gelegenheit haben wird, beraubt ihr es des Universalhilfsmittels des Menschen, nämlich der gesunden Vernunft, gewöhnt es, sich stets leiten zu lassen und stets nur eine Maschine in den Händen anderer zu sein. Ihr verlangt, es soll gelehrig sein, solange es noch klein ist; damit verlangt ihr aber nur, es soll leichtgläubig und ein Einfaltspinsel sein, wenn es groß ist. Ihr wiederholt ihm unaufhörlich: »Alles was ich von dir begehre, ist zu deinem eigenen Besten, allein du bist noch nicht imstande, es einzusehen. Was kann es mir verschlagen, ob du meiner Aufforderung nachkommst oder nicht? Du arbeitest lediglich für dich allein.« Mit all diesen schönen Predigten, die ihr ihm jetzt haltet, um es weise zu machen, erreicht ihr nichts weiter, als daß ihr es den Geistersehern, Alchimisten, Marktschreiern, Betrügern und Narren aller Art leichter macht, es dereinst in ihren Schlingen zu fangen und auf ihre Torheiten eingehen zu lassen.

Allerdings ist es für einen Mann von Belang, viele Kenntnisse zu besitzen, deren Nutzen ein Kind nicht zu begreifen vermag; aber muß denn durchaus und kann überhaupt[315] ein Kind alles lernen, was einem Mann zu wissen vorteilhaft ist? Versucht es, dem Kind alles das beizubringen, was für sein Alter nützlich ist, und ihr werdet euch überzeugen, daß seine ganze Zeit damit mehr als ausgefüllt ist. Weshalb wollt ihr es zum offenbaren Nachteil der Studien, die sich gerade gegenwärtig für es eignen, zu denjenigen eines Alters zwingen, von dem es so wenig sicher ist, ob es dasselbe erreichen wird. Aber, werdet ihr sagen, wird es denn noch Zeit sein, daß, was man wissen muß, zu lernen, wenn der Augenblick gekommen ist, wo alles auf die Anwendung der Kenntnisse ankommt? Das weiß ich freilich nicht; aber so viel weiß ich wenigstens, daß es unmöglich ist, es früher zu lernen; denn unsere wahren und eigentlichen Lehrmeister sind die Erfahrung und das Gefühl, und der Mensch sieht deshalb auch nur in bezug auf die Verhältnisse, in denen er sich schon befunden hat, richtig ein, was ihm dienlich und was ersprießlich ist. Ein Knabe weiß, daß er die Bestimmung hat, ein Mann zu werden; alle Begriffe die er vom Stand des Mannes haben kann, geben Gelegenheit zum Unterricht; aber über diejenigen Begriffe dieses Standes, die über seine Fassungskraft hinausgehen, muß er in völliger Unwissenheit bleiben. Mein ganzes Buch ist nichts als ein fortlaufender Beweis dieses Erziehungsgrundsatzes.

Sobald wir dahin gelangt sind, unserem Zögling einen Begriff des Wortes »nützlich« zu geben, gewinnen wir ein nicht zu unterschätzendes Mittel mehr, ihn zu leiten, denn dies Wort macht einen starken Eindruck auf ihn, selbstverständlich nur in der Voraussetzung, daß er damit einen seinem Alter entsprechenden Sinn verbindet und dessen Beziehung auf sein gegenwärtiges Wohlbefinden deutlich einsieht. Auf eure Kinder macht dies Wort dagegen keinen Eindruck, weil ihr es euch nicht habt am Herzen liegen lassen, ihnen davon einen ihrer Fassungskraft angemessenen Begriff beizubringen, und weil sie sich schon aus dem[316] Grunde, daß sich stets andere damit beschweren, für alles, was ihnen nützlich ist, zu sorgen, niemals genötigt sehen, selbst daran zu denken, und folglich gar nicht wissen, was Nutzen ist.

»Wozu nützt das?« Das ist fortan das heilige Wort, das zwischen ihm und mir bei allen Handlungen unseres Lebens allein entscheidende Wort; das ist die Frage welche meinerseits unfehlbar auf alle seine Fragen folgt, und welche mir zur Abwehr jener Menge alberner und langweilender Fragen dienen soll, mit denen Kinder unaufhörlich und ganz zwecklos ihre Umgebung ermüden, mehr um über dieselbe eine Art Herrschaft auszuüben, als um einen wirklichen Nutzen davon zu haben. Derjenige, welchem man als wichtigste Lehre den Grundsatz eingeimpft hat, nichts anderes als Nützliches wissen zu wollen, fragt wie Sokrates; er stellt keine Frage, ohne sich vorher über dem Grund seiner Frage klar zu werden, weil er sehr wohl weiß, daß man ihn, bevor die Antwort erfolgt, danach fragen wird.

Seht, was für ein mächtiges Werkzeug ich euch damit in die Hände gebe, um einen Einfluß auf euren Zögling auszuüben! Da er von nichts die Gründe kennt, so hängt er fast ganz an eurem Belieben ab, ihn zum Schweigen zu bringen. Welchen Vorteil verleihen euch dagegen eure Kenntnisse und eure Erfahrungen, da sie euch in den Stand setzen, ihm den Nutzen alles dessen, was ihr ihm vorschlagt, nachzuweisen. Das ist aber auch nötig; denn gebt euch darüber keiner Täuschung hin: dadurch, daß ihr diese Frage an ihn stellt, lehrt ihr ihn auch gleichzeitig, sie seinerseits an euch zu stellen. Mit Sicherheit könnt ihr deshalb darauf rechnen, daß er künftighin, eurem Beispiel folgend, nicht verfehlen wird, bei allem, was ihr ihm vorschlagt, stets zu fragen: »Wozu nützt das?«

Hierin liegt vielleicht der Fallstrick, welchen der Erzieher am schwersten zu vermeiden vermag. Sucht ihr euch in Beantwortung der Frage des Kindes nur aus der Sache[317] zu ziehen und gebt ihr ihm dabei auch nur einen einzigen Grund an, den es nicht zu begreifen imstande ist, so wird es, da es ihm nicht entgeht, daß ihr bei eurem Urteil nur euren und nicht seinen Maßstab anlegt, sich auch dem glauben hingeben, daß das, was ihr ihm sagt, zwar für euer Alter, aber nicht für das seinige gut sei; es wird euch kein Vertrauen mehr schenken, und dadurch ist alles verloren. Aber wo ist der Lehrer, der die Antwort schuldig bleiben und seinem Zögling kein Unrecht eingestehen möchte? Alle machen es sich zum Gesetz, auch nicht einmal ihre offenbaren Fehler einzugestehen. Ich hingegen würde es mir zum Gesetz machen, mich selbst da, wo ich mich unstreitig im Recht finde, eines Irrtums schuldig zu bekennen, sobald ich meinem Zögling meine Gründe nicht klarmachen könnte. Auf diese Weise würde ihm mein Verhalten, da es vor seinem Geiste beständig fehlerlos dasteht, nie verdächtig sein, und ich würde mir gerade dadurch, daß ich mir Fehler beilege, ein größeres Vertrauen bewahren, als es jenen gelingt, welche die ihrigen verdecken.

Zunächst bedenkt wohl, daß es nur selten eure Aufgabe sein darf, ihm vorzuschlagen, was er lernen soll. Es ist seine Sache, das Verlangen auszusprechen, den Stoff zu suchen und zu finden; eure Pflicht besteht nur darin, denselben seinem Verständnis näherzubringen, jenes Verlangen geschickt in ihm zu erwecken und ihm die Mittel an die Hand zu geben, dasselbe zu befriedigen. Daraus ergibt sich, daß eure Fragen nicht allzu häufig, aber gut gewählt sein müssen, und daß ihr, da er weit öfter als ihr in die Lage kommen wird, Fragen zu stellen, euch auch weit seltener Blößen geben und weit öfter Gelegenheit bekommen werdet, ihm zu sagen: »Wozu ist das, wonach du mich fragst, zu wissen nütze?«

Da ferner wenig darauf ankommt, daß er dies oder jenes lernt, wenn er nur das Gelernte richtig begreift und anzuwenden versteht, so gebt ihm, falls ihr ihm über das,[318] was ihr ihm mitteilt, keine befriedigende Erklärung geben könnt, lieber gar keine. Sagt unbedenklich: »Ich kann dir hierauf keine genügende Antwort erteilen; ich hatte unrecht; laß uns nicht weiter davon reden.« War eure Belehrung wirklich übel angebracht, so schadet es gar nichts, sie völlig fallen zu lassen; war sie dagegen nicht am unrechten Ort, so werdet ihr bei einiger Umsicht halb wieder Gelegenheit finden, ihm den Nutzen derselben bemerkbar zu machen.

Lange Erläuterungen in förmlichen Reden haben durchaus nicht meinen Beifall; die jungen Leute achten wenig darauf und behalten sie selten. Auf die Sache, die Sache kommt es an! Ich kann nicht oft genug wiederholen, daß wir den Worten einen viel zu großen Spielraum gewähren. Mit unserer schwatzhaften Erziehung bilden wir nur Schwätzer.

Nehmen wir einmal an, daß mich mein Zögling, während ich mit ihm den Lauf der Sonne und die Kunst, sich zu orientieren, studiere, plötzlich mit der Frage, wozu denn das alles eigentlich diene, unterbreche. Was für eine schöne Rede ließe sich da halten! Wie hübsch könnte ich da die Gelegenheit ergreifen, ihn bei Beantwortung seiner Frage über allerlei Dinge zu belehren, zumal wir bei unserer Unterredung Zeugen hätten.81 Ich könnte mit ihm von dem Nutzen des Reisens reden, von den Vorteilen des Handels, von den unter jedem Himmelsstrich vorkommenden Produkten, von den Sitten der verschiedener Völker, vom Gebrauch des Kalenders, von der für die richtige Betreibung des Ackerbaues nötigen Berechnung der Wiederkehr der Jahreszeiten, von der Kunst der Schiffahrt, von der Kunst, sich auf dem Meer, ohne daß man weiß, wo man sich befindet, zurechtzufinden und seine Fahrt genau zu verfolgen.[319] Politik, Naturgeschichte, Astronomie, sogar Moral und Völkerrecht ließen sich dergestalt in meine Rede verweben, daß ich meinem Zögling eine hohe Idee von allen diesen Wissenschaften und ein lebhaftes Verlangen, sie zu lernen, einflößen könnte. Hätte ich mich aber in dieser Weise geäußert, so wurde mein Vortrag doch nichts weiter als die prahlerische Auskramung eines wahren Pedanten sein, von der mein Zögling auch keinen einzigen Begriff wirklich verstanden hätte. Er hätte große Lust, mich abermals zu fragen, welchen Vorteil die Kunst, sich zu orientieren, brächte, würde es aber aus Furcht, mich dadurch zu kränken, nicht wagen. Er würde es für vorteilhafter finden, sich zu stellen, als ob er das, was er gezwungenerweise hat anhören müssen, verstände. So geht es bei dieser schönen Erziehungsweise zu.

Aber unser Emil, der eine mehr bäuerliche Erziehung erhalten hat, und den wir mit vieler Mühe dahin zu bringen suchen, schwer zu begreifen, wird das alles gar nicht anhören. Bei dem ersten Wort, das er nicht versteht, wird er davonlaufen, sich ausgelassen im Zimmer umhertummeln und mich meine hochtrabende Rede allein halten lassen. Wir müssen uns nach einer drastischeren Lösung umsehen. Mein Wissenschaftlicher Apparat hat in seinen Augen keinen Wert.

Als mich mein Zögling durch die ungelegene Frage: »Wozu dient das?« unterbrach, untersuchten wir gerade die Lage des Waldes nördlich von Montmorency. »Du hast recht,« versetzte ich; »wir wollen in Muße darüber nachdenken, und finden wir, daß diese Arbeit keinen Vorteil bringt, so wollen wir sie nicht wieder aufnehmen, denn es fehlt uns keineswegs an nützlichem Zeitvertreib.« Wir beschäftigen uns darauf mit etwas anderem, und während des übrigen Teils des Tages ist von Geographie nicht weiter die Rede.

Am folgenden Morgen schlage ich ihm, noch ehe wir unser Frühstück eingenommen haben, einen Spaziergang vor. Mit Freuden geht er darauf ein; zum Laufen sind[320] Kinder stets bereit, und Emil ist namentlich gut zu Fuß. Wir begeben uns nach dem Wald, durchwandern Auen und Wiesen, verirren uns jedoch dabei und wissen schließlich nicht mehr, wo wir uns befinden. Als wir uns nun zur Rückkehr entschließen, können wir unseren Weg nicht wiederfinden. Die Zeit verstreicht, es wird heiß, wir empfinden Hunger. Wir beeilen uns und irren vergeblich bald in dieser, bald in jener Richtung fort. Ueberall stoßen wir auf nichts als Wald, Steinbrüche, hier und da auch wohl auf eine ausgerodete Stelle, aber nirgends entdecken wir etwas, wonach wir uns zu orientieren vermöchten. Schweißtriefend, abgemattet und ausgehungert verirren wir uns trotz unseres Hin- und Herlaufens nur noch mehr. Endlich setzen wir uns, um ein wenig auszuruhen und zu überlegen. Emil, von dem ich einmal annehmen will, daß er wie ein anderes Kind erzogen sei, ist nicht zu Ueberlegung aufgelegt, sondern weint. Er weiß nicht, daß wir uns dicht vor dem Tor von Montmorency befinden, welches uns nur ein einfaches Gebüsch verbirgt. Aber in seinen Augen bildet dieses Gebüsch einen förmlichen Wald; ein Kind seiner Größe ist schon in einem bloßen Gebüsch wie begraben.

Nach einem kurzen Stillschweigen, sage ich mit unruhiger Miene zu ihm: Mein lieber Emil, wie in aller Welt sollen wir es nur anstellen, um hier herauszukommen?

Emil (schweißtriefend und heiße Tränen vergießend). Ich weiß es nicht. Ich bin müde; mich plagt Hunger und Durst; ich kann nicht mehr weiter.

Johann Jakob. Glaubst du etwa, daß mir besser zumute ist? Und meinst du nicht daß ich auch weinen würde, wenn ich von meinen Tränen satt werden könnte? Weinen kann uns nichts helfen; es kommt darauf an, daß wir uns zurechtfinden. Sieh nach deiner Uhr. Wie spät ist es?

Emil. Es ist Mittag, und ich bin noch nüchtern.

Johann Jakob. In der Tat, es ist schon Mittag, und ich bin noch nüchtern.

[321] Emil. Ach, was für Hunger Sie haben müssen!

Johann Jakob. Leider wird mich mein Mittagbrot hier nicht aufsuchen. Mittag! Das ist gerade die Stunde, in welcher wir gestern von Montmorency aus die Lage des Waldes beobachteten. Wenn wir nun imstande wären, in ähnlicher Weise vom Wald aus die Lage von Montmorency zu beobachten, so...

Emil. Ja; aber gestern sahen wir den Wald, während wir von hier aus die Stadt nicht erblicken vermögen.

Johann Jakob. Das ist freilich ein Uebelstand... Wenn wir nun aber die Stadt, um ihre Lage zu finden, gar nicht zu sehen brauchten!

Emil. O, mein Freund, wie sollt das zugehen?

Johann Jakob. Sagten wir nicht der Wald läge...

Emil. Nördlich von Montmorency.

Johann Jakob. Demnach muß auch Montmorency...

Emil. Südlich vom Wald liegen.

Johann Jakob. Wir haben ja, dächte ich, ein Mittel, mittags den Norden zu finden.

Emil. Gewiß, durch die Richtung des Schattens.

Johann Jakob. Wie sollen wir nun aber den Süden auffinden?

Emil. Ja, wie läßt sich das anstellen?

Johann Jakob. Der Süden ist doch dem Norden entgegengesetzt.

Emil. Das ist wahr. Es kommt bloß darauf an, daß wir die Richtung, welche dem Schatten entgegengesetzt ist, aufsuchen. Ja, da ist der Süden, da ist der Süden! Sicherlich liegt Montmorency nach dieser Richtung hin. Wir wollen es auf dieser Seite suchen.

Johann Jakob. Du kannst recht haben; wir wollen diesen Fußpfad durch das Gehölz einschlagen.

Emil (in die Hände klatschend und ein Freudenschrei ausstoßend). Ach, ich sehe Montmorency! Es liegt ganz frei und offen gerade vor uns. Lassen Sie uns zu unserem[322] Frühstück und Mittagessen eilen! Die Astronomie ist doch zu etwas gut!

Sollte er letzteres Bekenntnis auch nicht in dürren Worten ablegen, so könnt ihr euch doch davon überzeugt halten, daß er es bei sich denken wird. Darauf kommt übrigens wenig an, wenn ich es nur nicht in Worte kleide. Ihr könnt versichert sein, daß er die Lektion dieses Tages sein Leben lang nicht vergessen wird, während meine Rede, sobald ich ihm über dies alles nur in seinem Zimmer einen Vortrag gehalten hätte, schon am nächsten Tage wieder vergessen wäre. Man muß sich soviel als möglich durch die Tat zu reden bestreben und nur das sagen, was zu tun unmöglich ist.

Der Leser wird mich nicht in Verdacht haben, daß ich eine so geringschätzende Meinung von ihm hege, um ihn über jeden Wissenszweig ein besonderes Beispiel zu geben; um was es sich auch immer handeln möge, so kann ich dem Lehrer nicht dringend genug an das Herz legen, seine Beweise stets mit der Fassungskraft seines Zöglings in Einklang zu bringen; denn, noch einmal sei es gesagt, der Uebelstand beruht nicht darin, daß derselbe etwas nicht versteht, sondern darin, daß er sich zu verstehen einbildet.

Ich erinnere mich noch sehr wohl, wie ich einst einem Knaben, dem ich Liebe zur Chemie einflößen wollte, erst einige metallische Niederschläge zeigte und darauf die Bereitung der Tinte erklärte. Ich sagte ihm, daß ihre Schwärze von sehr fein zerteiltem Eisen, welches durch Vitriol aufgelöst und durch eine alkalische Flüssigkeit nieder geschlagen wäre, hervorgerufen würde. Mitten in meiner gelehrten Erklärung, unterbrach mich hinterlistigerweise der kleine Bursche auf einmal mit der erwähnten Frage, die ich ihn zu stellen selbst angehalten hatte, und setzte mich dadurch in nicht geringer Verlegenheit.

Nach kurzer Ueberlegung verfiel ich auf folgenden Ausweg. Ich ließ eine Flasche Wein aus dem Keller des Hausherrn[323] und eine andere zu acht Sous von einem Weinhändler holen. In ein kleines Fläschchen goß ich eine Lösung von Kali und sagte darauf, nachdem ich noch zwei Gläser mit diesen beiden verschiedenen Weinsorten vor mich hingestellt hatte82, zu ihm: »Man verfälscht verschiedene Lebensmittel, um sie besser erscheinen zu lassen als sie sind. Diese Verfälschungen täuschen das Auge und den Geschmack; aber sie sind schädlich und machen die verfälschte Sache ungeachtet ihres schönen Aussehens schlechter als sie vorher war.

Namentlich verfälscht man die Getränke und hauptsächlich die Weine, weil bei ihnen der Betrug schwerer zu erkennen ist und dem Betrüger einen größeren Gewinn einbringt.

Die Verfälschung der herben oder sauren Weine, geschieht durch Glätte; die Glätte ist aber ein Bleipräparat. Blei, welches mit Säuren verbunden ist, bildet ein sehr süßes Salz, das dem Geschmack die Säure des Weines weniger bemerkbar macht, aber gleichzeitig für diejenigen, welche ihn trinken, ein Gift ist. Es ist also von großer Wichtigkeit, daß man, ehe man verdächtigen Wein trinkt, sich davon überzeuge, ob er mit Glätte versetzt sei oder nicht. Und nun gib Obacht, wie ich es mache, um dies zu entdecken!

Der Saft der Weintraube enthält nicht nur einen brennbaren Weingeist, wie du aus dem Branntwein abnehmen kannst, den man daraus bereitet, sondern er enthält auch eine Säure, wie du aus dem Weinessig und Weinstein, welche man gleichfalls daraus gewinnt, erkennen kannst.

Diese Säure hat mit metallischen Substanzen Verwandtschaft, löst sie auf und bildet in Verbindung mit ihnen ein zusammengesetztes Salz. So ist zum Beispiel der Rost nichts anderes als Eisen, das durch die in der[324] Luft oder im Wasser enthaltene Säure aufgelöst ist, und ebenso ist der Grünspan durch Essig aufgelöstes Kupfer.

Aber diese nämliche Säure hat mit den alkalischen Substanzen noch mehr Verwandtschaft als mit den metallischen Substanzen, so daß vermittels der ersteren die Säure in den zusammengesetzten Salzen, deren ich soeben Erwähnung getan habe, gezwungen wird, sich von dem Metall, mit dem sie verbunden ist, zu lösen, um sich mit dem Alkali zu verbinden.

Jetzt setzt sich die metallische Substanz, nachdem sie von der Säure, die sie gebunden hatte, befreit ist, und macht die Flüssigkeit trübe.

Wenn also eine von diesen Weinsorten hier mit Glätte versetzt ist, so hält seine Säure die Glätte gebunden. Sobald ich nun aber von unserer alkalischen Flüssigkeit etwas hineingieße, so wird diese die Säure zwingen, ihre Beute wieder frei zu lassen; das Blei, welches nicht länger in ungebundenen Zustand verharrt, wird wieder als solches erscheinen, die Flüssigkeit trüben und endlich auf dem Boden des Glases einen Niederschlag bilden.

Ist jedoch in Wein weder Blei83 noch irgendein anderes Metall enthalten, so84 wird sich das Alkali ruhig mit der Säure verbinden; alles wird im aufgelöstem Zustand bleiben, und es wird sich kein Niederschlag bilden.«[325]

Hierauf goß ich etwas von meiner alkalischen Flüssigkeit nacheinander in die beiden Gläser; der dem Keller des Hausherrn entnommene Wein blieb hell und klar, der andere wurde dagegen auf der Stelle trübe, und nach Verlauf einer Stunde konnte man den Niederschlag des Bleies auf dem Boden des Glases deutlich gewahren.

»Hier kannst du es nun selber sehen,« fuhr ich fort, »dieser Wein ist natürlich und rein und man darf unbesorgt von ihm trinken, jener aber ist verfälscht und enthält Gift. Dies läßt sich eben vermittels der Kenntnisse nachweisen, nach deren Nutzen du mich fragst. Wer die Bereitung der Tinte versteht, vermag auch die verfälschten Weine zu erkennen.«

Ich war mit meinem Beispiel sehr zufrieden, und nichtsdestoweniger fiel es mir auf, daß es nicht den geringsten Eindruck auf den Jungen hervorgebracht hatte. Ich brauchte einige Zeit, um zu der Einsicht zu gelangen, daß ich doch nur eine Torheit begangen hatte; denn ganz abgesehen davon, daß es einem Kind im Alter von zwölf Jahren völlig unmöglich sein mußte, meiner weitläufigen Erklärung zu folgen, so konnte ihm auch der Nutzen dieser Erfahrung nicht zum Verständnis kommen, weil es beide Weinsorten gekostet, beide für gut befunden hatte und deshalb auch nicht imstande war, mit dem Worte Verfälschung, welches ich ihm so gut erklärt zu haben meinte, irgendeinen Begriff zu verbinden. Die anderen Wörter »ungesund« und »Gift« hatten für dasselbe ebenfalls keinen Sinn. Es befand sich dabei in dem Fall des erwähnten Kindes, welches die Geschichte von dem Arzt Philippus vortrug, und so wird es allen Kinder ergehen.

Das Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung, deren Verkettung wir nicht wahrnehmen, die Güter und die Uebel, von denen wir keine Vorstellung haben, die Bedürfnisse, welche wir noch nie empfunden haben, existieren für uns nicht. Es ist unmöglich, uns dazu zu vermögen, etwas zu[326] tun, was auf sie bezug hat. Im Alter von fünfzehn Jahren betrachtet man das Glück eines Weisen, wie mit dreißig Jahren die Herrlichkeit des Paradieses. Man hat von dem einen ebensowenig ein rechtes Verständnis wie von dem anderen, so wird man es sich auch wenig angelegen sein lassen, sie zu erwerben; ja sogar wenn man mit ihnen eine richtige Vorstellung verbände, würde man sich ihre Erlangung doch wenig Anstrengung kosten lassen, wenn man kein Verlangen nach ihnen hätte, wenn einem nicht das Gefühl sagte, daß sie ihm dienlich wären. Es ist leicht, in einem Kinde den Glauben zu erwecken, daß das worüber man es unterrichten will, nützlich sei; aber eine solche bloß äußerliche Ueberredung ist wertlos, man muß es zu überzeugen verstehen. Vergebens nötigt uns die ruhige Vernunft Beifall oder Tadel ab, zum handeln treibt uns erst die Leidenschaft; und wie kann man für Dinge, für welche noch kein Interesse in uns erwacht ist, in Leidenschaft geraten?

Lenkt daher die Aufmerksamkeit des Kindes nie auf etwas, was es nicht eingehen vermag. Solange ihm die Menschheit noch beinahe völlig fremd ist, könnt ihr es nicht auf dem Standpunkt des Mannes erheben, und deshalb müßt ihr ihm zuliebe den Mann auf dem Standpunkt der Kindheit stellen. Obwohl ihr das, was ihm in einem späteren Alter nützlich sein kann, nicht aus den Augen lassen dürft, so redet dennoch mit ihm nur von dem, dessen Nutzen es schon jetzt einsieht. Uebrigens nie Vergleichungen mit anderen Kindern, keine Rivalen, keine Nebenbuhler, nicht einmal im Laufen, sobald es mit Vernunft zu handeln beginnt! Hundertmal lieber ist es mir, daß es das, was es doch nur aus Eifersucht oder Eitelkeit lernen würde, gar nicht lernt. Ich werde nur alljährlich die Fortschritte andeuten, die es gemacht hat, und sie mit denen des folgenden Jahres vergleichen. Ich werde zu ihm sagen: »Du bist jetzt wieder um so und so viel Linien gewachsen; über diesem Graben konntest du springen, eine so große Last vermochtest[327] du zu tragen, einen Stein so weit zu werfen, eine so große Strecke in einem Atem zu laufen usw. Laß jetzt aber einmal sehen, was du nun zu leisten imstande bist.« Auf diese Weise sporne ich es an, ohne seine Eifersucht gegen jemand zu erregen. Es wird sich selbst übertreffen wollen, und das soll es. Ich vermag keinen Nachteil darin zu erblicken, daß es sein eigener Nebenbuhler sei.

Ich hasse die Bücher; sie lehren uns nur über Dinge reden, die man nicht versteht. Es wird erzählt, daß Hermes die Elemente der Wissenschaft auf Säulen eingegraben habe, um seine Entdeckungen vor einer neuen Sintflut zu schützen. Wenn er sie jedoch den Köpfen der Menschen richtig eingeprägt hätte, so würden sie sich durch mündliche Ueberlieferung erhalten haben. Gut vorbereitete Gehirne bilden die Monumente, auf welchen sich die menschlichen Kenntnisse am sichersten eingraben lassen.

Sollte denn kein Mittel vorhanden sein, die große Anzahl der in so vielen Büchern zerstreuten Lehren zusammenzustellen und so zu vereinen, daß sie einem gemeinsamen Zweck dienen, der leicht kenntlich und interessant zu verfolgen wäre und selbst dieses Alter anzuspornen vermöchte? Könnte man eine Lage ausfindig machen, in welcher alle natürlichen Bedürfnisse des Menschen in einer auch dem Geist eines Kindes wahrnehmbaren Weise klar hervorträten, und in welcher sich gleichzeitig die Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse nach und nach mit derselben Leichtigkeit entwickelten, so müßte man an einer lebendigen und ungekünstelten Schilderung dieses Zustandes, seine Einbildungskraft gleich zuerst zu üben suchen.

Feuriger Philosoph, ich sehe schon, wie die deinige sich entzündet. Doch gib dir keine vergebliche Mühe! Diese Lage ist schon gefunden, sie ist geschildert und, ohne dir unrecht zu tun, weit besser, als du selbst sie würdest zu schildern vermögen, wenigstens, mit mehr Wahrheit und Einfachheit. Müssen wir denn durchaus einmal Bücher[328] haben, nun, so gibt es eins, welches uns meinem Erachten nach die vorzüglichste Abhandlung über naturgemäße Erziehung an die Hand gibt. Dieses Buch soll mein Emil zuerst lesen; allein soll es lange Zeit hindurch seine ganze Bibliothek und stets einen hervorragenden Platz in derselben behalten. Es wird der Text sein, welchem alle unsere Unterhaltungen über naturwissenschaftliche Stoffe nur als Kommentar dienen sollen. Es wird bei unseren Fortschritten den Prüfstein unserer Urteilskraft abgeben und, solange unser Geschmack nicht verstorben ist, wird uns seine Lektüre beständig Unterhaltung gewähren. Und wie heißt nun dieses Wunder von Buch? Ist es Aristoteles? Ist es Plinius? Ist es Buffon? Nein, es ist Robinson Crusoe.

Robinson Crusoe, auf seiner Insel, allein, des Beistandes seiner Mitmenschen beraubt, von allen künstlichen Werkzeugen und Hilfsmitteln entblößt, und trotzdem für seinen Unterhalt und seine Erhaltung sorgend, ja, sich sogar eine Art Wohlbefinden verschaffend: das ist sicherlich ein Gegenstand, der jedem Alter Interesse einflößen muß und den man den Kindern durch tausenderlei Mittel anziehend machen kann. Hier finden wir die wüste Insel, auf die ich anfangs nur gleichnisweise hinwies, verwirklicht. Dieser Zustand ist, wie ich gern einräume, freilich nicht der des gesellschaftlichen Menschen und wird wahr scheinlich nicht der Zustand Emils werden, aber er soll ihm als Maßstab zur Beurteilung aller übrigen dienen. Das sicherste Mittel, sich über Vorurteile zu Erheben und sein Urteil von den wahren Verhältnissen der Dinge leiten zu lassen, besteht darin, daß man sich an die Stelle eines völlig auf sich allein angewiesenen Menschen versetzt und über alles so urteilt , wie dieser Mensch mit Rücksicht auf seinen eigenen Nutzen selbst darüber urteilen muß.

Dieser Roman, von allen nebensächlichen Zutaten befreit, mit Robinsons Schiffbruch in der nähe seiner Insel beginnend und mit der Ankunft des Schiffes, welches zu[329] seiner Rettung erscheint, schließend, wird Emil während des ganzen Zeitabschnittes, von welchem hier die Rede ist, zugleich Unterhaltung wie Belehrung verschaffen. Ich will, daß ihm der Kopf darüber schwindle, daß er sich unaufhörlich mit seinem Schloß, seinen Ziegen und Pflanzungen beschäftige; daß er nicht aus Büchern, sondern an den Dingen selbst, alles, was man in einem ähnlichen Fall wissen muß, bis ins einzelne lerne; daß er sich selbst für einen zweiten Robinson halte, daß er sich in Felle gekleidet, mit einer großen Mütze auf dem Kopf, einem furchtbaren Säbel an der Seite, kurz in dem ganzen grotesken Aufzug der Figur erblicke, nur den Sonnenschirm ausgenommen, dessen er nicht bedürfen wird. Ich will, daß er sich über die Maßregeln, die etwa er griffen werden könnten, wenn sich dieser oder jener Mangel bei ihm einstellte, beunruhige, daß er das Verfahren seines Helden prüfe und untersuche, ob derselbe nichts unterlassen habe und ob er nichts hätte besser machen können; daß er seine Fehler genau bemerke und sich dieselben zunutze mache, damit er in einer ähnlichen Lage nicht auch in dieselben verfalle; denn unzweifelhaft wird er sich mit dem Gedanken tragen, einst eine ähnliche Niederlassung zu gründen. Das ist das einzige richtige Luftschloß in diesem glücklichen Alter, in welchem man kein anderes Glück kennt Erlangung des durchaus Notwendigen und die Freiheit.

Was für eine Hilfsquelle eröffnet diese törichte Leidenschaft doch einem geschickten Manne, der es verstanden hat, sie nur hervorzurufen, um Nutzen aus ihr zu ziehen! Das Kind, voller Begierde, sich ein Magazin für seine Insel anzulegen, wird beim Lernen größeren Eifer entfalten als der Lehrer beim Unterrichten. Es wird alles, was nützlich ist, wissen wollen, aber auch nur dies wissen wollen. Ihr werdet jetzt nicht mehr nötig haben, es anzuleiten, sondern werdet es vielmehr beständig zurückhalten müssen. Laßt uns übrigens Eile anwenden, es auf dieser Insel einzurichten, solange[330] sich sein Glück noch darauf beschränkt, denn schon naht der Tag, wo es, wenn es überhaupt dort noch leben will, doch nicht allein wird auf ihr leben wollen, und wo Freitag, welcher ihm jetzt noch kein großes Interesse einflößt, ihm nicht mehr lange genügen wird.

Die Ausübung der natürlichen Künste, welche nur einen einzigen Menschen bedingt, führt uns dazu, uns auch mit den Künsten der Industrie bekannt zu machen, welche das Zusammenwirken mehrerer Hände erfordern. Erstere können durch Einsiedler, durch Wilde betrieben werden; letztere können dagegen nur der Gesellschaft ihre Entstehung verdanken und machen diese notwendig. Solange man nur das physische Bedürfnis kennt, ist sich jeder Mensch selbst genug, allein die Einführung des Ueberflüssigen erheischt unbedingt Teilung und Verteilung der Arbeit. Denn während ein Mensch, welcher für sich allein arbeitet, auch nur den Unterhalt für einen einzigen Menschen verdient, werden hundert Menschen, sobald sie ihre Arbeit gemeinschaftlich betreiben, einen Gewinn erzielen, der zum Unterhalt von zweihundert Personen ausreichend ist. Sobald sich also ein Teil der Menschen dem Müßiggang hingibt, muß die Vereinigung der arbeitenden Arme die Untätigkeit der Feiernden ersetzen.

Mit größter Sorgfalt müßt ihr euch bemühen, von dem Geist eures Zöglings alle Begriffe von sozialen Verhältnissen fernzuhalten, für die seine Fassungskraft noch nicht entwickelt genug ist. Nötigt euch indes die Verkettung der Kenntnisse, ihm die gegenseitige Abhängigkeit der Menschen voneinander nachzuweisen, so lenkt, anstatt ihm dieselbe von der moralischen Seite zu zeigen, seine ganze Aufmerksamkeit sofort auf die Industrie und die mechanischen Künste, durch welche sich die Menschen gegenseitig Nutzen schaffen. Während ihr ihn von Werkstatt zu Werkstatt führt, dürft ihr dabei niemals dulden, daß er irgendwelche Arbeit sehe, ohne selbst die Hand ans Werk zu legen, noch daß er aus[331] derselben scheide, ohne den Grund von allem, was hier gemacht wird, oder doch wenigstens von allem, was er beobachtet hat, vollkommen zu kennen. Deshalb müßt ihr auch selbst arbeiten und ihm auch überall mit gutem Beispiel vorangehen. Um ihn zum Meister zu machen, spielt überall den Lehrling, und seid überzeugt, daß er aus einer Stunde Arbeit mehr Lehren schöpfen wird als aus tagelangen Erläuterungen.

Der Wert welchen man den verschiedenen Künsten gewöhnlich beilegt, steht im umgekehrtem Verhältnis zu ihrem wirklichen Nutzen. Dieser Wert hängt sogar geradezu von der Unnützlichkeit derselben ab, und so muß es sein. Die nützliche Künste sind diejenigen, welche den geringsten Gewinn abwerfen, weil sich die Zahl der Arbeiter nach dem Bedürfnis der Menschen richtet, und weil die Arbeiten, die jedermann bedarf, notwendigerweise einen Preis behaupten müssen, den auch der Arme zu bezahlen vermag. Jene wichtigen Leute dagegen, die nicht Handwerker, sondern Künstler heißen, setzen, weil sie eben einzig und allein für die Müßiggänger und Reichen arbeiten, einen völlig willkürlichen Preis auf ihre Spielereien. Da der Wert dieser nichtigen Arbeiten nur in der Einbildung besteht, so bildet selbst ihr Preis einen Teil dieses Wertes, und man schätzt sie nach Maßgabe der darauf verwandten Kosten. Den Wert, den der Reiche darauf legt, wird nicht durch ihren Nutzen bestimmt, sondern durch den Umstand, daß der Arme sie nicht bezahlen kann. Nolo habere bona, nisi quibus populus inviderit. (Ich will nur Güter besitzen, um welche mich das Volk beneidet.)

Was wird aus euren Zöglingen werden, wenn ihr zugebt, daß sich dieses törichte Vorurteil in ihnen einnistet, wenn ihr dasselbe sogar begünstigt? wenn sie zum Beispiel sehen, daß ihr in den Laden eines Goldschmieds mit größerer Achtung eintretet als in die Werkstätte eines Schlossers? Welches Urteil werden sie sich über das wahre Verdienst[332] der Künste und den wirklichen Wert der Dinge bilden, wenn sie überall wahrnehmen, daß der Preis, den die Einbildung festsetzt, mit dem im Widerspruch steht der dem wirklichen Nutzen entspricht, und wenn sie dadurch zu der Einsicht gelangen, daß eine Sache desto mehr kostet, je weniger sie wert ist? In dem nämlichen Augenblick, wo ihr solche Ideen sich in ihrem Kopfe festsetzen laßt, könnt ihr nur gleich ihre weitere Erziehung aufgeben; wider euren Willen werden sie doch nur wie alle übrigen erzogen werden; ihr habt vierzehn Jahre Arbeit verloren.

Emil, der nur darauf sinnt, seine Insel gut auszustatten, wird die Dinge mit anderen Augen ansehen. Robinson würde dem Laden eines Zeugschmieds einen weit höheren Wert beigemessen haben als allen Schnurrpfeifereien des Saïde. Ersterer wäre ihm als ein sehr achtbarer Mann, letzterer als ein erbärmlicher Scharlatan erschienen.

»Mein Sohn ist bestimmt, einst in der Welt zu leben; er wird sich nicht unter Weisen, sondern unter Toren zu bewegen haben; er muß folglich ihre Torheiten kennen, da sie sich nur durch diese leiten lassen. Die wirkliche Kenntnis der Dinge kann unstreitig vorteilhaft sein, aber die Kenntnis der Menschen und ihrer Urteile hat einen noch ungleich höheren Wert. In der menschlichen Gesellschaft ist der Mensch einmal das wichtigste Werkzeug des Menschen, und der wird der Weiseste sein, welcher sich dieses Werkzeuges am besten zu bedienen versteht. Wozu kann es dienen, die Kinder mit der Idee einer nur imaginären Ordnung der Dinge bekannt zu machen, die der herkömmlichen, in welche sie wirklich eintreten und nach der sie sich richten müssen, völlig entgegengesetzt ist? Zunächst lehrt sie weise sein, und später könnt ihr sie dann auch lehren, sich ein richtiges Urteil zu bilden, in welchen Punkten die anderen Toren sind.«

Das sind die Scheingründe, durch welche sich die Afterweisheit der Väter bestimmen läßt, ihre Kinder zu Sklaven der Vorurteile, die sie ihnen selber erst einimpfen, und sogar[333] zu Spielbällen der unvernünftigen Menge zu machen, die sie als willenloses Werkzeug ihrer Leidenschaft zu brauchen gedenken. Wie vieles muß man vorher kennen lernen, bis man zur rechten Menschenkenntnis gelangt! Der Mensch ist das letzte Studium des Weisen, und ihr verlangt, es müsse bei Kindern das erste sein! Ehe ihr sie über unsere Empfindungen belehrt, müßt ihr sie befähigen, dieselben recht zu würdigen. Heißt das etwa eine Torheit kennen, wenn man sie für Vernunft hält? Um weise zu sein, muß man es von dem zu unterscheiden vermögen, was es nicht ist. Wie soll denn euer Kind die Menschen kennen, wenn es weder ihre Meinungen zu beurteilen noch ihre Irrtümer zu erkennen versteht? Es ist ein Unglück, die Gedanken der Menschen zu kennen, wenn man nicht weiß, ob diese Gedanken richtig oder falsch sind. Lehrt es deshalb zuerst, was die Dinge an sich sind; später könnt ihr es dann auch damit bekannt machen, was sie in ihren Augen sind. Nur auf diese Weise wird ihm ein Vergleich zwischen vorgefaßter Meinung und Wahrheit möglich sein, und wird es sich über den großen Haufen erheben können; denn sobald man die Vorurteile annimmt, kennt man sie eben nicht, und leitet das Volk nicht, wenn man ihm gleicht. Beginnt ihr indes damit, es über die öffentliche Meinung zu unterrichten, ehe ihr es angehalten habt, sie zu würdigen, so könnt ihr euch versichert halten, daß es diese was ihr auch immer dagegen tun mögt, annehmen wird, und daß ihr sie nie wieder werdet ausrotten können. Ich ziehe daraus den Schluß, daß man, um einen jungen Mann verständig zu machen, sein Urteil bilden muß, anstatt ihm das unsrige aufzudrängen.

Ihr seht, daß ich mit meinem Zögling bis jetzt noch nicht über die Menschen geredet habe; er hätte zu viel gesunde Vernunft besessen, um mich verstehen zu können. Seine Beziehungen zu seiner Gattung sind ihm noch nicht wahrnehmbar genug, um imstande zu sein, andere nach sich selbst zu beurteilen. Außer sich kennt er noch kein menschliches[334] Wesen; ja er ist sogar noch weit davon entfernt, sich selbst zu kennen. Wenn er aber auch wenige nur wenige Urteile über seine Person fällt, so sind dieselben dafür wenigstens immer richtig. Es ist ihm unbekannt, welche Stellung andere einnehmen, aber seine eigene kennt und behauptet er. Nicht durch die sozialen Gesetze, die er nicht kennen kann, haben wir ihn eingeschränkt, sondern durch die Fesseln der Notwendigkeit. Er ist bis jetzt fast nur noch ein physisches Wesen; wir wollen fortfahren, ihn als ein solches zu behandeln.

Emil soll alle Naturkörper und alle Arbeiten der Menschen nach ihren wahrnehmbaren Beziehungen auf seinen Nutzen, seine Sicherheit, seine Erhaltung und sein Wohlbefinden schätzen. Deshalb muß das Eisen in seinen Augen einen weit höheren Wert haben als das Gold, und das Glas einen höheren als der Diamant. Ebenso steht bei ihm ein Schuhmacher und ein Maurer in weit höherer Achtung als ein Lempereur, ein le Blanc und alle Juweliere Europas; vor allem ist ein Kuchenbäcker in seinen Augen eine höchst wichtige Persönlichkeit, und er würde keinen Anstand nehmen, die ganze Akademie der Wissenschaften für den geringsten Zuckerbäcker der Rue des Lombards dahinzugeben. Goldarbeiter, Graveure, Vergolder, Sticker sind nach seinem Dafürhalten nur Faulenzer, die mit völlig unnützen Spielereien die Zeit verlieren; selbst der Uhrmacherkunst legt er keinen sonderlichen Wert bei. Der glückliche Junge genießt die Zeit, ohne ihr Sklave zu sein; er wendet sie nützlich an, obwohl er ihren Wert nicht kennt. Das Schweigen der Leidenschaften, infolgedessen ihm die Zeit stets gleichmäßig verfließt, ersetzt ihm ein Kunstwerk, durch welches er sie nach Bedürfnis messen und einteilen kann.85 Als ich[335] von Emils Uhr redete, und ebenso als ich erzählte, er hätte geweint, stellte ich ihn mir um Nutzen zu stiften und mich verständlich zu machen, als ein gewöhnliches Kind vor; denn mein wirklicher Emil, der ein von allen übrigen so verschiedenes Kind ist, würde mir in seiner Beziehung als Beispiel dienen können.

Es gibt eine nicht weniger natürliche und außerdem noch vernünftigere Ordnung und Reihenfolge, bei welcher man die Künste nach ihren notwendigen Beziehungen zueinander betrachtet, indem man den unabhängigsten den ersten, und denjenigen, welche von einer größeren Anzahl anderer abhängen, den untersten Rang einräumt. Diese Ordnung, welche uns zu wichtigen Betrachtungen über die in der allgemeinen menschlichen Gesellschaft herrschende Veranlassung gibt, ist der vorigen ähnlich und muß sich dieselbe Verdrehung in der Schätzung der Menschen gefallen lassen, so daß also die Verarbeitung der Rohstoffe in den Händen solcher Gewerke liegt, denen dafür keine Ehre zuteil wird und die dadurch nur geringen Gewinn erzielen, während jede Handarbeit desto mehr Ehre und Gewinn einerntet, je mehr Hände daran beteiligt sind. Ich will hier nicht untersuchen, ob es wirklich wahr ist, daß der Gewerbefleiß bei den feineren Künsten, welche an diese Stoffe die letzte Feile legen, mehr Geschicklichkeit voraussetzt und eine höhere Belohnung verdiene als bei der ersten Bearbeitung, die sie zum Gebrauch der Menschen tauglich macht; aber so viel behaupte ich, daß die Kunst, deren Erzeugnisse am verbreitetsten und am unentbehrlichsten sind, unstreitig in jeder Beziehung die höchste Achtung verdient, und daß diejenige, welche am wenigsten auf die Unterstützung anderer Künste angewiesen ist, sie in noch höherem Grade verdient als die untergeordneten, weil sie freier und nahezu unabhängig ist. Dies sind die wahren Regeln zur Würdigung der Künste und des Gewerbefleißes, alles übrige beruht auf Willkür und ist von Vorurteilen abhängig.[336]

Die erste und ehrwürdigste aller Künste ist der Ackerbau: der Schmiedekunst würde ich den zweiten Rang, dem Zimmerhandwerk den dritten einräumen und so fort. Ein Kind, welches durch die allgemeinen Vorurteile noch nicht verführt ist, wird genau ebenso urteilen. Zu welchen wichtigen Betrachtungen in bezug auf diesen Punkt wird unser Emil nicht in seinem Robinson Veranlassung finden! Zu welchen Gedanken wird er angeregt werden, wenn er sieht, daß sich die Künste nur dadurch vervollkommnen, daß sie sich teilen und ihre Werkzeuge nach allen Richtungen hin bis ins Unendliche vervielfältigen? Er wird sich sagen: »In den Gründungen aller dieser Leute spricht sich eine große Torheit aus; fast scheint es, sie fürchteten sich, von ihren Armen und Fingern Gebrauch zu machen, so viel Werkzeuge klügeln sie aus, um jener entbehren zu können. Um eine einzige Kunst zu betreiben, sehen sie sich auf die Unterstützung tausend anderer angewiesen. Jeder einzelne Handwerker hat eine ganze Stadt nötig. Was meinen Kameraden und mich dagegen anlangt, so bieten wir alle unsere Geisteskräfte nur zur Erhöhung unserer Geschicklichkeit auf. Wir verfertigen uns Werkzeuge, welche wir überall bei uns tragen können. Alle diese Leute, welche hier in Paris stolz auf ihre Talente sind, würden auf unserer Insel nichts vermögen und gezwungen sein, bei uns erst in die Schule zu gehen.«

Lieber Leser, halte dich hier nicht dabei auf, dir die körperlichen Uebungen und die Geschicklichkeit der Hände unseres Zöglings zu betrachten, sondern bringe in Anschlag, welche Richtung wir seiner kindlichen Wißbegierde geben, berücksichtige seinen Verstand, seinen erfinderischen Geist, seine Voraussicht; überlege, was für einen Kopf wir aus ihm machen wollen. Bei allem, was er sieht, bei allem, was er tut, wird er stets alles bis ins kleinste wissen und den Grund von allem erfahren wollen. Er wird von Werkzeug zu Werkzeug bis auf das erste zurückgehen wollen.[337]

Nichts wird er auf bloße Voraussetzung hin annehmen. Er würde unweigerlich die Erwerbung von Kenntnissen ablehnen, die Vorkenntnisse voraussetzen, welche ihm fehlten. Wenn er eine Stahlfeder verfertigen sieht, so wird er wissen wollen, wie der Stahl aus dem Bergwerk gewonnen wird; sieht er, wie eine Kiste aus den einzelnen Stücken zusammengesetzt wird, so wird er wieder wissen wollen, wie der Baum gefällt worden ist; arbeitet er selbst, so wird er nicht unterlassen, sich bei jedem Werkzeug, dessen er sich bedient, zu fragen: »Wie müßte ich es anfangen, um mir, falls ich dieses Werkzeug nicht hätte, ein ähnliches zu machen, oder um ohne es auszukommen?«

Ein für den Lehrer schwer zu vermeidender Irrtum besteht übrigens darin, daß er bei solchen Beschäftigungen, für die er sich selbst in hohem Grad interessiert, nur zu häufig auch bei dem Kind die gleiche Vorliebe voraussetzt. Seid ja auf eurer Hut, daß es sich nicht etwa, während euch die Freude an der Arbeit mit fortreißt, inzwischen langweile, ohne daß es wagt, euch dies bemerkbar zu machen. Das Kind muß ganz bei der Sache, ihr aber müßt ganz bei ihm sein, müßt es beobachten, müßt es, ohne daß es auffällig wird, unablässig belauschen, alle seine Empfindungen im voraus ahnen und es von denen, die es nicht haben soll, ablenken, kurz, ihr müßt es derart beschäftigen, daß es nicht allein fühlt, es sei bei der Arbeit von Nutzen, sondern daß es auch an derselben Gefallen habe, weil es genau einsieht, wozu das, was es tut, dienlich ist.

Die Genossenschaft der Künste besteht in dem Austausch der gewerblichen Erzeugnisse, die Genossenschaft des Handels im Austausch der Waren und die der Banken im Austausch von Wertzeichen und Geld. Alle diese Ideen stehen miteinander im Einklang, und die Elementarbegriffe sind schon gewonnen. Den Grund zu alledem haben wir mit Hilfe des Gärtners Robert schon in Emils frühester Jugend gelegt. Jetzt bleibt uns nur noch übrig, diese nämlichen[338] Begriffe zu verallgemeinern und auf mehr Beispiele auszudehnen, um ihm den Handel an sich begreiflich zu machen. Wird er nun noch mit Einzelheiten aus der Naturgeschichte, die sich auf die einem jeden Lande eigentümlichen Produkte beziehen, und mit Einzelheiten aus dem Gebiet der Künste und Wissenschaften, welche die Schiffahrt betreffen, bekannt gemacht, schildert man ihm auch endlich noch die größeren oder geringeren Schwierigkeiten des Transportes, die durch die Lage der Länder, Meere, Flüsse usw. bedingt werden, so ist ihm damit ein völlig anschauliches Bild gegeben.

Keine Genossenschaft kann ohne Austausch, kein Austausch ohne gemeinsames Maß und kein gemeinsames Maß ohne Gleichheit bestehen. Das erste Gesetz in jeder gesellschaftlichen Vereinigung muß deshalb irgendeine, auf dem allgemeinen Uebereinkommen beruhende oder konventionelle Gleichheit sein, gleichviel, ob in bezug auf die Menschen oder in bezug auf die Dinge.

Die konventionelle Gleichheit unter den Menschen, die sich von der natürlichen Gleichheit wesentlich unterscheidet, macht das positive Recht notwendig, d.h. Regierung und Gesetze. Die politischen Kenntnisse eines Knaben müssen klar und begrenzt sein. Deshalb darf er hinsichtlich der Regierung im allgemeinen nur über das belehrt werden, was sich auf das Eigentumsrecht, wovon er ja bereits einen gewissen Begriff hat, bezieht.

Die konventionelle Gleichheit unter den Dingen ist die Veranlassung zur Erfindung des Geldes gewesen, denn das Geld ist nur ein Begriff zur Vergleichung des Wertes verschiedenartiger Dinge, und in diesem Sinn ist das Geld das wahre Band der Gesellschaft. Indes kann alles als Geld dienen. Ehemals galt das Vieh als solches, und noch heutigestags spielen Muschelschalen bei mehreren Völkern die Rolle des Geldes. In Sparta schlug man aus Eisen Geld, in Schweden aus Kupfer; wir verwenden dazu Gold und Silber.[339]

Wegen der Leichtigkeit ihres Transports sind die Metalle allgemein als Tauschmittel gewählt worden, und um sich beim Tausch das jedesmalige Messen oder Abwägen zu ersparen, hat man sie zu Münzen ausgeprägt; denn in dem Gepräge der Münzen ist gleichsam nur eine Bescheinigung ausgesprochen, daß das in vorliegender Form ausgeprägte Stück das vereinbarte Gewicht wirklich besitzt. Das Münzrecht steht nur dem Fürsten zu, da er allein zu verlangen das Recht hat, daß sein Zeugnis unter einem ganzen Volke keinem Zweifel unterliegt.

Auch der Beschränkteste wird den Nutzen dieser Erfindung einsehen, wenn er ihm in der angegebenen Weise erklärt wird. Es ist außerordentlich schwierig, Dinge von ganz verschiedener Natur, zum Beispiel Tuch und Getreide, unmittelbar miteinander zu vergleichen; sobald man jedoch ein gemeinsames Maß, wie das Geld, gefunden hat, so fällt es dem Fabrikanten wie dem Landmann leicht, den Wert der Gegenstände, die sie eintauschen wollen, nach diesem gemeinsamen Maße zu berechnen. Kostet eine gewisse Ellenzahl Tuch eine gewisse Summe Geldes, und gilt wiederum eine bestimmte Quantität Getreide ebensoviel, so läßt sich daraus der Schluß ziehen, daß der Kaufmann, welcher dies Getreide für sein Tuch in Empfang nimmt, einen dem wirklichen Wert entsprechenden Tausch macht. Vermittels des Geldes werden auf diese Weise die verschiedenartigsten Güter meßbare Größen und können miteinander verglichen werden.

Ueber diesen Punkt geht jedoch nicht hinaus, und laßt euch namentlich nicht auf eine Auseinandersetzung der moralischen Wirkungen dieser Einrichtung ein. Bei jeder Sache ist es von Belang, erst ihren Gebrauch zu erklären, ehe man auf ihren Mißbrauch aufmerksam macht. Wenn ihr im Sinn habt, den Kindern zu erläutern, wie die Wertzeichen die Ursache gewesen sind, daß den Sachen selber eine geringere Beachtung geschenkt wird, wie das Geld die[340] Schuld an allen wunderlichen Einbildungen trägt, wie die an Geld reichen Länder an allem übrigen arm sein müssen, so würdet ihr diese Kinder nicht allein als Philosophen, sondern auch als Weise behandeln, und euch zutrauen, ihnen Dinge faßlich zu machen, die sogar wenige Philosophen verstanden haben.

Auf welche Fülle interessanter Gegenstände läßt sich doch die Wißbegierde eines Zöglings lenken, ohne daß man Gefahr läuft, die wirklichen und materiellen Verhältnisse, die ihm verständlich sind, verlassen oder gestatten zu müssen, daß sich in seinem Geist auch nur eine einzige verworrene Vorstellung bilde! Die Kunst des Lehrers muß sich darin zeigen, daß er sich bei seinen Betrachtungen niemals in unwesentlichen Kleinigkeiten erschöpft, sondern daß er seinen Schüler beständig in den Mittelpunkt großer Verhältnisse versetzt, von denen er einst Kenntnis haben muß, um sich über gute und schlechte Einrichtungen der bürgerlichen Gesellschaft ein richtiges Urteil bilden zu können. Dem Lehrer darf auch die Kunst nicht fehlen, die Gespräche, mit denen er das Kind unterhält, der Geistesrichtung anzupassen, die er ihm gegeben hat. Manche Frage, die die Aufmerksamkeit eines anderen nicht einmal oberflächlich berührt haben würde, wird meinen Emil ein halbes Jahr quälen.

Wir haben von einer reichen Familie eine Einladung zu Tische erhalten. Derselben Folge leistend, finden wir Vorbereitungen zu einem Festmahl, viel Gäste, eine zahlreiche Dienerschaft, eine Menge Schüsseln, elegantes und feines Tafelgerät. Alle diese Anstalten, um uns durch ein glänzendes Fest Freude und Genuß zu bereiten, haben etwas Berauschendes, das jemandem, welcher an dergleichen nicht gewöhnt ist, wohl zu Kopfe steigen kann. Ich sehe voraus, welche Wirkung dies alles auf meinen jungen Zögling ausüben wird. Während sich nun die Mahlzeit in die Länge zieht, während ein Gang nach dem anderen folgt, während rings an der Tafel tausenderlei lärmende Gespräche geführt[341] werden, nähere ich mich seinem Ohr und sage leise zu ihm: »Was denkst du wohl? Durch wie viele Hände mag dies alles, was du auf der Tafel siehst, gegangen sein, ehe es dieselbe schmücken konnte?« Welch eine Menge von Ideen rufe ich durch diese wenigen Worte in ihm wach! Augenblicklich sind alle nebelhaften Dünste seiner begeisterten Aufregung verscheucht. Er grübelt, denkt nach, berechnet und wird unruhig. Während die Philosophen, die sich durch den Wein und vielleicht auch durch ihre Nachbarinnen aufgeräumt fühlen, allerlei Narrheiten schwatzen und sich wie Kinder benehmen, bleibt er, in philosophische Betrachtungen versenkt, ganz still an seinem Platze sitzen. Er legt mir Fragen vor, deren Beantwortung ich jedoch ablehne, indem ich ihn auf spätere Zeit verweise. Er wird ungeduldig, vergißt Essen und Trinken und sehnt sich nach Aufhebung der Tafel, um sich mit mir in aller Ruhe aussprechen zu können. Was für ein Gegenstand für seine Wißbegierde! Was für ein Stoff für seine Belehrung! Was wird er bei seinem gesunden Urteil, das noch nichts zu verderben imstande war, über den Luxus denken, wenn er sich davon überzeugen wird, daß alle Weltgegenden dazu haben beisteuern müssen, daß zwanzig Millionen Hände vielleicht lange daran gearbeitet haben, daß es vielleicht Tausenden von Menschen das Leben gekostet hat, und dies alles nur, damit ihm des Mittags darauf mit großer Pracht das aufgetafelt werden konnte, was er am Abend dem geheimen Gemach wieder übergeben wird.

Bemüht euch mit aller Sorgfalt, die geheimen Folgerungen in Erfahrung zu bringen, welche er in seinem Herzen aus allen diesen Beobachtungen zieht. Habt ihr mit weniger Treue über ihn gewacht, als ich voraussetze, so kann er sich leicht versucht fühlen, seinen Gedanken eine ganz andere Richtung zu geben, und sich für eine sehr wichtige Persönlichkeit in der Welt zu halten, wenn er sieht, wieviel Mühe auf die Bereitung seiner Mahlzeit verwandt[342] wurde. Seht ihr solche Schlußfolgerungen voraus, so könnt ihr leicht verhindern, daß er sie zieht, oder ihren Eindruck wenigstens sofort wieder verwischen. Da er sich die Dinge bis jetzt nur durch den materiellen Genuß anzueignen weiß, so vermag er über ihre Angemessenheit oder Unangemessenheit für ihn auch nur nach ihren sinnlich wahrnehmbaren Eindrücken zu urteilen. Der Vergleich eines einfachen ländlichen Mahles, welchem als Vorbereitung Leibesübungen vorangegangen sind und das im Hunger, in der Freiheit und in der Freude seine Würze gefunden hat, mit seinem so prächtigen und steifen Festmahl wird hinreichen, um ihm das Gefühl einzuflößen, daß es, da ihm der ganze Verlauf des prächtigen Festes keinen wirklichen Vorteil gebracht hat und sein Magen von dem Tisch des Landmanns mit ebenso großer Befriedigung wie von der Tafel des reichen Mannes scheidet, an dieser nicht mehr als an jenem gibt, was er in Wahrheit sein nennen könnte.

Suchen wir uns einmal klarzumachen, was ein Erzieher in einem ähnlichen Fall seinem Zögling sagen könnte. »Rufe dir die beiden Mahlzeiten noch einmal recht deutlich ins Gedächtnis zurück und entscheide bei dir selbst, welcher du mit größerem Vergnügen beigewohnt hast. Bei welcher hast du mehr Frohsinn bemerkt? Bei welcher hast du mit größerem Appetit gegessen, heiterer getrunken und herzlicher gelacht? Welche hat am längsten gedauert, ohne daß je Langweile eintrat und ohne daß sie durch immer andere Gänge erst gleichsam wieder erneuert werden mußte? Und nun laß auch folgenden Unterschied nicht außer acht: Dieses Schwarzbrot, das dir stets so gut mundet, kommt von dem Korn, welches jener Landmann selbst geerntet hat; sein trüber und herber, aber den Durst löschender und gesunder Wein ist ein Gewächs seines eigenen Weinberges; das leinene Tischzeug hat sein eigener Hanf geliefert, den seine Frau, seine Töchter, seine Mägde im Winter selbst gesponnen haben. Keine anderen Hände als die seiner Familie[343] haben zu den Vorbereitungen für diese Mahlzeit beigetragen. Die nächste Mühle und der benachbarte Marktflecken bilden für ihn die Grenzen des Weltalls. Kannst du wohl in Wahrheit behaupten, daß du von allem dem, was darüber hinaus die entfernten Länder und die zahlreichen Menschenhände auf die andere Tafel geliefert haben, einen wirklichen Genuß gehabt hast? Wenn also durch dies alles deine Mahlzeit nicht wesentlich besser geworden ist, was für einen Gewinn hast du dann diesem Ueberfluß zu verdanken? Was hat dir denn so ganz besonders dabei gefallen? Und wärst du nun,« könnte der Erzieher auch noch hinzufügen, »der Herr des Hauses selbst gewesen, so würde dir alles noch weit fremder geblieben sein, denn die Bemühung, mit deinen Genüssen vor den Augen der Gäste rechten Prunk zu treiben, würde dir schließlich den eigenen Genuß geraubt haben. Du hättest die Mühe, und jene das Vergnügen gehabt.«

Diese Rede mag zwar sehr schön sein, aber meinem Emil gegenüber ist sie wertlos, da sie seine Fassungskraft übersteigt, und er sich auch seine Betrachtungen nicht vorschreiben läßt. Führt deshalb ihm gegenüber eine einfachere Sprache. Nachdem er nach diesen beiden Richtungen hin in die Tafelgenüsse eingeweiht ist, werde ich ihn eines Morgens fragen: »Wo wollen wir heute unser Mittagbrot einnehmen? Vor diesem wahren Silberberg, der drei Vierteile der ganzen Tafel bedeckt, und diesen Beeten von Papierblumen, die man beim Nachtisch auf spiegelhellem Glase aufträgt, unter diesen Frauen mit den gewaltigen Reifröcken, die dich nur als Spielpuppe behandeln und dir vorreden, du habest von Dingen geredet, welche du gar nicht einmal kennst, oder lieber im Dorf, zwei Meilen von hier, bei jenen guten Leuten, die uns immer mit so großer Freude aufnehmen und uns so gute Sahne vorsetzen?« Emils Wahl ist nicht zweifelhaft, denn er ist weder schwatzhaft noch eitel. Aller Zwang ist ihm verhaßt, und alle Künsteleien unserer Kochkunst sind ihm zuwider. Aber stets ist[344] er zu einem Ausflug auf das Land bereit, und von gutem Obst, gutem Gemüse, guter Sahne und guten Leuten hält er ungemein viel.86 Wie von selbst wird sich ihm unterwegs der Gedanke aufdrängen: »Ich sehe ein, daß die vielen Leute welche sich solche Mahlzeiten große Mühe und zahlreiche Ungelegenheiten kosten lassen, sich ganz umsonst abplagen, oder daß sie es dabei nicht auf unser Vergnügen absehen.«

Meine Beispiele, die vielleicht für einen Fall gut sein mögen, werden für tausend andere geradezu schlecht sein. Hat man jedoch den Geist derselben erfaßt, so wird man sie je nach Bedürfnis sehr wohl umzuändern verstehen. Ihre Wahl ist durch die Kenntnis der Individualität eines jeden einzelnen Kindes bedingt, und diese Kenntnis hängt von der Gelegenheit ab, die demselben dargeboten wird, sich zu zeigen. Man darf sich nicht dem Wahn hingeben, daß wir imstande wären, in einem Zeitraum von drei bis vier Jahren, die diese Periode in Anspruch nimmt, auch dem begabtesten Kinde nur einen Begriff von allen Künsten und allen Naturwissenschaften zu geben, der ihm die Fähigkeit verleihen könnte, diese einst selbst zu erlernen; indem wir jedoch auf diese Weise alle Gegenstände, die es notwendig wissen muß, an ihm vorüberführen, setzen wir es[345] in den Stand, seinen Geschmack und sein Talent zu entwickeln, die ersten Schritte nach dem Gegenstand, auf den sich seine Neigung richtet, zu tun, und uns den Weg zu zeigen, den wir ihm eröffnen müssen, um der Natur behilflich zu sein.

Ein anderer Vorteil dieses Zusammenhangs eingeschränkter, aber richtiger Begriffe liegt darin, daß wir dem Kind ihre Verbindungen und Beziehungen zueinander nachzuweisen vermögen, daß wir ihnen allen den ihnen zukommenden Platz in seiner Wertschätzung einräumen und dadurch vorbeugen, daß sich in ihm etwa ähnliche Vorurteile festsetzen, wie sie die meisten Menschen für diejenigen Talente hegen, die sie besonders pflegen, und von denen sie gegen diejenigen erfüllt sind, die sie vernachlässigen. Wer die Ordnung des Ganzen völlig überschaut, kennt auch die Stelle, die jeder einzelne Teil einzunehmen hat; wer dagegen einen Teil völlig überschaut und aus dem Grunde kennt, kann zwar ein sehr gelehrter Mann sein, ersterer ist dafür aber ein Mann von gesundem Urteil, und ihr eingedenk sein, daß wir nicht sowohl auf die Erwerbung der Wissenschaft als auf die eines gesunden Urteils ausgehen.

Wie dem auch immer sein mag, meine Methode ist von meinen Beispielen unabhängig; sie stützt sich auf das Maß der Fähigkeiten des Menschen in seinen verschiedenen Lebensperioden und auf die Wahl der Beschäftigungen, die diesen Fähigkeiten angemessen sind. Ich glaube, es würde sich auch leicht eine andere Methode auffinden lassen, mit der man scheinbar noch günstigere Erfolge erzielen könnte; allein wenn sie sich weniger nach der Individualität, dem Alter und dem Geschlecht richtete, so bezweifle ich, daß sie gleiche Resultate aufzuweisen vermöchte.

Beim Beginn dieser zweiten Periode haben wir uns um uns aus uns selbst heraus zu versetzen, den bedeutenden Ueberschuß unserer Kräfte über unsere Bedürfnisse zunutze[346] gemacht. Wir haben uns bis zum Himmel emporgeschwungen, haben die Erde ausgemessen, haben uns mit den Gesetzen der Natur bekannt gemacht, mit einem Wort, wir haben unsere ganze Insel durchstreift. Jetzt halten wir wieder bei uns selber Einkehr, wir nähern uns unmerklich unserer eigenen Wohnung. Ein Glück für uns, wenn wir sie bei unserem Eintritt nicht schon im Besitze des Feindes finden, der uns bedroht und sich rüstet, sich ihrer zu bemächtigen!

Was bleibt uns nach der sorgfältigen Beobachtung unserer ganzen Umgebung nun noch zu tun übrig? Daß wir alles, was wir uns davon aneignen können, richtig anwenden lernen, und zum Besten unseres Wohlseins Vorteil aus unserer Wißbegierde ziehen. Bisher haben wir uns mit Werkzeugen jeglicher Art versehen, ohne eigentlich zu wissen, welche wir davon nötig haben werden. Obgleich die unsrigen vielleicht für uns selbst unnütz sind, können doch andere sie vorteilhaft verwenden, während umgekehrt wir vielleicht die ihrigen gebrauchen können. Wir würden deshalb bei einem Tausch alle unsere Rech nung finden. Um indes auf einen solchen einzugehen, müssen wir unsere gegenseitigen Bedürfnisse kennen, muß jeder wissen, wie viel für ihn Brauchbares andere besitzen, und was er ihnen seinerseits dafür zu bieten imstande ist. Stellen wir uns zehn Menschen vor, von denen jeder zehn verschiedene Bedürfnisse hat. Um sich nun das Nötige zu verschaffen, muß sich jeder von ihnen auf zehn verschiedene Arbeiten verstehen. In Anbetracht der Verschiedenheit ihrer Anlagen wird aber bei dem einen diese, bei dem anderen jene Arbeit unvollkommen ausfallen. Trotz ihrer verschiedenen Befähigung werden sie sämtlich die nämlichen Arbeiten vornehmen und infolgedessen schlecht bedient sein. Nun laßt uns aus diesen zehn Menschen eine Gesellschaft bilden. Jeder treibe, nicht nur für sich selbst, sondern auch für die neun übrigen, diejenige Beschäftigung, für die er die meiste[347] Befähigung zeigt. Auf diese Weise wird jeder von den Talenten der anderen denselben Vorteil haben, als ob er sie alle selbst besäße. Jeder wird außerdem das seinige durch die unausgesetzte Uebung verwollkommnen, und so wird es dahin kommen, daß die zehn Personen, nachdem sie selbst vollständig mit allem versehen sind, noch einen Ueberschuß für andere übrigbehalten werden. Auf diesem Prinzip beruhen augenscheinlich alle unsere Institutionen. Es gehört nicht zu der Aufgabe, die ich mir gestellt habe, hier die weiteren Folgen zu untersuchen; dies habe ich bereits in einer anderen Schrift getan.87

Nach diesem Prinzip würde ein Mensch, der sich in den Sinn kommen ließe, sich als ein isoliertes Wesen zu betrachten, sich an gar nichts anschließen, und um sich selbst zu genügen, nur ein elendes Wesen sein können. Ja, es wäre ihm sogar unmöglich, sein Dasein zu erhalten; denn da er die ganze Erde schon verteilt fände und außer seinem Körper nichts sein Eigen nennen könnte, wo sollte er wohl seinen nötigen Unterhalt hernehmen? Sobald wir aus dem Naturzustand heraustreten, zwingen wir dadurch auch unseresgleichen, ihn ebenfalls aufzugeben. Gegen den Willen der anderen kann niemand in demselben verharren; und schon das Verlangen, darin zu bleiben, trotzdem es keine Möglichkeit gibt, so sein Leben zu erhalten, käme einem tatsächlichen Verlassen desselben gleich. Denn das erste Gesetz der Natur ist die Sorge der Selbsterhaltung.

So bilden sich nach und nach im Geiste des Kindes die Vorstellungen von den sozialen Verhältnissen, sogar ehe es noch wirklich ein tätiges Mitglied der Gesellschaft sein kann. Emil begreift recht wohl, daß er, wenn er Werkzeuge zu seinem eigenen Gebrauch erhalten will, auch solche haben muß, die andere gebrauchen können, durch deren Eintausch er dann imstande ist, die ihm notwendigen Dinge, welche[348] sich im Besitz jener befinden, zu erlangen. Mit Leichtigkeit kann ich ihn dahin bringen, daß er die Notwendigkeit eines solchen Austausches einsieht und sich in den Stand setzt, Vorteil daraus zu ziehen.

»Gnädiger Herr, ich muß leben,« sagte ein unglückseliger satirischer Schriftsteller zu einem Minister, der ihm das Ehrlose dieser Beschäftigung vorhielt. »Ich sehe die Notwendigkeit davon nicht ein,« lautete die kalte Antwort des Staatsmannes. So ausgezeichnet diese Antwort auch im Mund eines Ministers klingt, so barbarisch und unrichtig würde sie doch in dem Mund eines jeden anderen gewesen sein. Jeder Mensch muß leben. Gegen diesen Satz, der für jeden mehr oder weniger Beweiskraft haben wird, je nachdem er mehr oder weniger menschlich gesinnt ist, scheint mir derjenige, der ihn auf sich selbst anwendet, nichts entgegnen zu können. Gegen so viele Dinge die Natur uns auch Widerwillen eingeflößt hat, so zeigt dieser sich doch gegen nichts stärker als gegen den Tod. Daraus folgt, daß sie uns, sobald wir kein anderes Mittel mehr besitzen, unser Leben zu fristen, alles gestattet. Die Grundsätze die dem Tugendhaften gebieten, sein Leben gering zu schätzen und es der Pflicht zu opfern, sind von dieser ursprünglichen Einfachheit weit entfernt. Glücklich die Völker, bei denen man ohne Anstrengung gut und ohne Tugend gerecht sein kann! Sollte es aber in der Welt irgendeinen Staat geben, der so erbärmlich wäre, daß niemand, ohne böse zu handeln, darin leben könnte, und dessen Bürger notgedrungen Spitzbuben wären, so sollte in demselben nicht der Missetäter, sondern derjenige gehängt werden, der die Schuld trüge, daß er es werden müßte.

Sobald Emil wissen wird, was das Leben ist, wird es meine erste Sorge sein, ihn in der Kunst zu unterrichten, es zu erhalten. Bis jetzt habe ich zwischen den Ständen, Rangstufen und Glücksgütern noch keinen Unterschied gemacht, und denke auch in der Folge ebenso zu verfahren,[349] weil der Mensch ja in jedem Stande doch immer nur Mensch ist und bleibt, weil der Reiche keinen größeren Magen und keine bessere Verdauung als der Arme hat, weil der Herr keinen längeren und stärkeren Arm als der Knecht besitzt, weil ein Großer an Stellung und Würden darum noch um keine Haupteslänge über dem Mann aus dem Volke hervorragt, und weil endlich, da sich die natürlichen Bedürfnisse überall gleich zeigen, auch die Mittel zu ihrer Befriedigung überall gleich sein müssen. Die Erziehung des Menschen stehe mit dem in Einklang, was der Mensch ist, und nicht mit dem was er nicht ist. Begreift ihr denn nicht, daß ihr ihn dadurch, daß ihr nur darauf ausgeht, ihr einseitig für einen einzigen Stand zu bilden, für jeden anderen unbrauchbar macht, und daß ihr, sobald ihm das launische Glück den Rücken kehrt, nur daran gearbeitet habt, ihn erst recht unglücklich zu machen? Gibt es etwas Lächerlicheres als einen vornehmen Herrn, der verarmt ist und sich auch in seinem Elend von den Vorurteilen seiner Geburt nicht lossagen kann? Gibt es etwas Verächtlicheres als einen zum Bettler herabgesunkenen Reichen, der sich in Erinnerung der Verachtung, unter der die Armut zu seufzen hat, als den Elendesten der Menschen fühlt? Dem ersteren bleibt kein anderer Ausweg übrig, als ein offenkundiger Dieb zu werden, der letztere wird sich mit der Rolle eines kriechenden Dieners trösten, und dies alles unter der Devise des schönen Wortes: »Ich muß leben.«

Ihr verlaßt euch auf die augenblicklich bestehende gesellschaftliche Ordnung, ohne zu berücksichtigen, daß diese Ordnung unvermeidlichen Revolutionen ausgesetzt ist, und daß ihr euch in der Unmöglichkeit befindet, diejenige, welche über eure Kinder hereinbrechen kann, vorherzusehen oder zu verhindern. Der Große wird klein, der Reiche wird arm, der Monarch wird Untertan. Sind diese Schicksalsschläge etwa so selten, daß ihr zuversichtlich darauf rechnen könnt, von ihnen verschont zu werden? Wir nähern uns sichtlich[350] einer Krisis und dem Jahrhundert der Revolutionen.88 Wer kann euch dafür bürgen, was dann aus euch werden wird? Was Menschen geschaffen haben, können Menschen auch wieder zerstören. Unauslöschlich sind nur die Charaktere welche die Natur ihren Schöpfungen aufprägt, und sie schafft weder Fürsten noch Reiche noch vornehme Herren. Was wird dann dieser Satrap, den ihr nur zur Pracht und Herrlichkeit erzogen habt, in seiner Niedrigkeit beginnen? Was wird das Los dieses Generalpächters, der nur vom Golde zu leben versteht, in seiner Armut sein? Was wird, von allem entblößt, das Ende jenes schwelgerischen Schwachkopfes sein, der mit sich selbst nichts anzufangen weiß und beständig sein ganzes Wesen in etwas ihm völlig Fremdartiges versenkt? Glücklich alsdann derjenige, welcher den Mut besitzt, willig aus dem Stand, der ihm den Rücken wendet, herauszutreten und dem Schicksal zum Trotz ein echter Mensch zu bleiben! Möge man jenen König, der, wenn er besiegt werden sollte, sich in trotzigem Mut unter den Trümmern seines Thrones begraben lassen will, immerhin rühmen und erheben, ich kann ihm nur meine Verachtung zollen; ich erkenne, daß seine Existenz nur an seine Krone geknüpft ist, und daß er nichts ist, wenn er nicht König ist. Wer sie aber verliert und auf sie zu verzichten weiß, der ist alsdann über die Krone erhaben. Von dem Rang des Königs, den ein Feigling, ein Elender, ein Narr ebensowohl wie ein anderer einnehmen kann, steigt er zum Rang des Menschen empor, dem nur wenige Ehre zu machen wissen. Alsdann triumphiert er über das Schicksal, er trotzt demselben, er verdankt alles nur sich allein; und wenn ihm[351] nichts geblieben wäre, was er aufweisen könnte, als sein eigenes Selbst, so ist er deshalb doch keine Null; er zählt mit, er ist ein Etwas. Fürwahr, hundertmal lieber ist mir jener König von Syrakus, der Schulmeister wurde, und der bekannte König von Mazedonien, der in Rom sein Leben als Schreiber kümmerlich fristete, als ein unglücklicher Tarquin, der nicht weiß, was er anfangen soll, wenn ihm die Herrschaft genommen ist, oder als jener Erbe dreier Königreiche,89 der als ein Spielball eines jeden, welcher sich herausnimmt, seines Elendes zu spotten, von Hof zu Hof irrt, überall Hilfe sucht und überall mit beleidigender Kälte aufgenommen wird, weil er nichts als einen Beruf gelernt hat, dessen Ausübung nicht mehr in seiner Gewalt liegt.

Der Mensch und der Bürger, wer er auch immer sei, vermag der Gesellschaft kein anderes Gut als Mitgift und Einlage zu überbringen als sich selbst; alle seine übrigen Güter sind ohnehin schon ihr Eigentum. Besitzt ein Mensch Reichtum, so braucht er sich zwar keinen Genuß davon zu verschaffen, tut er es aber, so genießt ihn die Gesellschaft gleichzeitig mit. Im ersteren Fall entzieht er anderen das, dessen er sich selber beraubt, und im zweiten gibt er ihnen nichts. Solange er also nur mit seinen äußeren Gütern bezahlt, hat er der Gesellschaft noch immer die volle Schuld zu entrichten. »Aber,« wendet vielleicht jemand ein, »mein Vater hat ja damals, als er das Vermögen erwarb, der Gesellschaft Dienste geleistet... « Es mag sein, indes hat er nur seine Schuld abgetragen, nicht die deinige. Du schuldest gerade deswegen, weil du bei deiner Geburt begünstigt worden bist, den anderen mehr, als wenn du in dürftigen Verhältnissen geboren wärest. Es liegt eine Unbilligkeit darin, daß das, was ein Mensch für die Gesellschaft[352] getan hat, einen anderen von seiner Schuld, die er ihr zu entrichten hat, entbinden soll. Denn da jeder verpflichtet, sich ganz und gar und in jeder Beziehung in den Dienst der Gesellschaft zu stellen, so kann er auch nur seine eigene Schuld abtragen, und kein Vater vermag auf seinen Sohn das Recht zu vererben, seinen Nebenmenschen nutzlos zu sein. Das tut er jedoch in der Tat, wenn er, nach deiner Behauptung, ihm seine Reichtümer, die den Beweis und den Lohn seiner Arbeit bilden, hinterläßt. Wer im Müßiggang verzehrt, was er nicht selbst erworben hat, verübt geradezu einen Diebstahl, und ein Rentner, den der Staat für sein untätiges Leben in der Form von Zinsen bezahlt, ist in meinen Augen kaum von einem Straßenräuber verschieden, der auf Kosten der Reisenden lebt. Dem außerhalb der Gesellschaft stehenden, isolierten Menschen steht, da er gegen niemanden Verpflichtungen zu erfüllen hat, deshalb auch das Recht zu, ganz nach seinem Gefallen zu leben; allein innerhalb der Gesellschaft, wo er notwendigerweise auf Kosten der anderen lebt, muß er ihnen durch seine Arbeit einen Ersatz für seinen Unterhalt gewähren. Hierin darf keine Ausnahme stattfinden. Arbeiten ist demzufolge eine unerläßliche Pflicht des sich in der Gesellschaft bewegenden Menschen. Ob reich oder arm, ob mächtig oder schwach, jeder müßige Bürger ist ein Spitzbube.

Von allen Beschäftigungen nun, welche dem Menschen seinen Unterhalt verschaffen können, ist die Handarbeit diejenige, welche sich dem Naturzustand am meisten nähert; unter allen Ständen kann deshalb auch der Stand des Handwerkers als derjenige bezeichnet werden, der vom Glückswechsel und von den Menschen am unabhängigsten ist. Der Handwerker hängt lediglich von seiner Arbeit ab. Er ist frei, in demselben Grade frei, in welchem der Landmann Sklave ist, denn letzterer ist an die Scholle gebunden und der Ertrag seines Feldes ist zum Teil fremder Willkür anheimgegeben. Der Feind, der Fürst, ein mächtiger Nachbar,[353] ein Prozeß ist imstande, ihm diese Feld zu entreißen; vermittels desselben kann man ihm auf tausenderlei Weise Verdruß verursachen; aber überall, wo man darauf aufgeht, den Handwerker zu belästigen, ist sein Ränzel bald geschnürt; seine Arme kann man ihm nicht nehmen, die nimmt er mit und geht seiner Wege. Dennoch ist und bleibt der Ackerbau die erste Beschäftigung des Menschen; sie ist die ehrenvollste, die nützlichste und folglich auch die edelste von allen, die er betreiben kann. Ich brauche Emil nicht erst aufzufordern: »Lerne den Ackerbau«; er kennt ihn schon. Alle ländlichen Arbeiten sind ihm von Grund aus bekannt. Mit ihnen hat er sich zuerst beschäftigt, zu ihnen kehrt er unaufhörlich wieder zurück. Ich brauche deshalb nur zu ihm zu sagen: »Bebaue das Erbe deiner Väter. Aber was sollst du wohl anfangen, wenn du nun einst dieses Erbe verlierst, oder wenn dir gar keins gefällt? Dann lerne ein Handwerk!«

»Mein Sohn soll ein Handwerk lernen? Mein Sohn ein Handwerker! Mein Herr, wo denken Sie hin?« – Meine Gedanken gehen weiter als die Ihrigen, gnädige Frau, die Sie seiner Erziehung die Beschränkung auflegen wollen, daß er nie etwas anderes werden kann als ein Lord, ein Marquis, ein Fürst und eines Tages vielleicht trotzdem weniger als nichts. Ich dagegen will ihn zu einem unverlierbaren Rang erheben, zu einem Range, der ihn zu allen Zeiten ehrt. Meine Erziehung soll ihn zum Menschen machen, und was Sie auch sagen mögen, mit diesem Titel wird er weniger seinesgleichen haben, als mit allen denjenigen, die er von Ihnen ererbt.

Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig. Es handelt sich weniger darum, ein Handwerk zur praktischen Ausübung desselben zu erlernen, als vielmehr darum, die Vorurteile zu besiegen, die das Handwerk mit Geringschätzung behandeln. Sollte jemand einwenden, du werdest nie gezwungen werden, des Lebensunterhalts willen zur Arbeit[354] zu greifen, nun, dann um so schlimmer, um so schlimmer für dich. Doch darauf kommt es auch nicht an. Arbeite also nicht aus Not, arbeite um des Ruhmes willen! Laß dich zum Stande des Handwerkes herab, um über deinen eigenen erhaben zu sein! Um dir das Glück und die Verhältnisse zu unterwerfen, mußt du dich zuerst von ihnen unabhängig machen; um durch die Vorurteile dereinst eine Herrschaft auszuüben, mußt du jene zuerst selbst beherrschen.

Seid eingedenk, daß ich keineswegs ein Talent von euch verlange; ich verlange ein Handwerk, ein wirkliches Handwerk, eine rein mechanische Kunstfertigkeit, bei welcher die Hände mehr arbeiten als der Kopf, und die zwar nicht zu Vermögen führt, bei welcher man aber Vermögen füglich entbehren kann. In Häusern, die in keiner Weise der Gefahr ausgesetzt waren, daß je Brotmangel in ihnen eintreten könnte, habe ich Väter kennen gelernt, welche in ihrer Vorsicht so weit gingen, daß sie Sorge trugen, ihre Kinder nicht nur in den gewöhnlichen Fächern unterrichten zu lassen, sondern sie auch mit solchen Kenntnissen auszustatten, die ihnen die Befähigung gaben, sich ihren Lebensunterhalt, es mochte kommen wie es wolle, selbst zu verdienen. Diese vorsorglichen Väter bilden sich ein, viel zu tun; allein eigentlich ist damit doch noch nichts getan, weil die Hilfsquellen, die sie ihren Kindern zugänglich machen wollen, ebenfalls unter dem Einfluß des nämlichen Glückswechsels stehen, über welchen sie diese erheben wollen. Daher kann es kommen, daß derjenige, welcher mit all diesen schönen Talenten ausgestattet ist, ebensogut im Elend umkommen kann, als wenn er sie gar nicht besäße, sobald er sich nicht in der günstigen Lage befindet, von ihnen auch Gebrauch machen zu können.

Wenn es auf Ränke und Schliche ankommt, so ist dabei kein Unterschied, ob man sich ihrer bedient, um sich in seinem Ueberfluß zu erhalten, oder ob man sich im Schoße des Elends auf dieselben stützt, um das wieder zu gewinnen,[355] was jemanden instand setzen kann, seine frühere Stellung wieder zu erringen. Wenn du dich einer Kunst widmest, deren Erfolg von dem Rufe des Künstlers abhängt, wenn du nach einer Lebensstellung strebst, die man nur durch Gunst zu erhalten vermag, was kann dir das alles nützen, sobald du voller Ekel über das Treiben der Welt die Mittel verschmähst, ohne welche man nun einmal nicht imstande ist, seinen Zweck zu erreichen? Du hast Politik und die monarchischen Institutionen studiert; damit kann man es freilich weit bringen; aber was sollen dir diese Kenntnisse helfen, wenn du dir nicht den Zutritt zu den Ministern, den Hofdamen, den Vorstehern der Staatsbehörden zu eröffnen verstehst, wenn du nicht in das Geheimnis, ihnen zu gefallen, eingeweiht bist, wenn sie nicht sämtlich in dir den Schelm finden, der für sie paßt? Du bist Baumeister oder Maler. Gut. Aber dein Talent muß doch erst bekannt werden. Meinst du etwa, du könntest dies ohne weiteres schon dadurch erreichen, daß du nur ein Werk öffentlich ausstellst? O nein, auf diesem Wege geht das nicht. Man muß ein Mitglied der Akademie sein, es darf einem selbst in dieser Stellung nicht an Gönnern fehlen, um nur in irgendeinem Winkel an der Wand auch nur ein dunkles Plätzchen zu erhalten. Stehe von deinem Lineal oder Pinsel auf! Nimm dir einen Wagen und fahre von Tür zu Tür: das ist die Straße, die zum Ruhme führt. Dabei darfst du aber auch nicht vergessen, daß vor den Portalen aller dieser glänzenden Häuser Schweizer oder Portiers stehen, die nur auf die Zeichensprache eingeübt sind und ihre Ohren in den Händen haben. Willst du deine Kenntnisse an den Mann bringen und Lehrer der Geographie, der Mathematik, der Sprachen, der Musik oder des Zeichnens werden, so mußt du selbst hierzu erst Schüler finden und dich folglich auf Empfehlungen verlassen können. Sei überzeugt, daß weit mehr darauf ankommt, ein Scharlatan zu sein, als ein geschickter Lehrer. Ich sage dir vorher,[356] daß du, wenn du keine andere Kunst als die deinige verstehst, immer für einen Ignoranten gelten wirst.

Du wirst also begreifen, wie wenig verläßlich alle diese so glänzend erscheinenden Hilfsquellen sind, und wie viele andere erst wieder hinzutreten müssen, um aus ihnen Nutzen ziehen zu können. Vor allem aber bedenke, was in dieser entehrenden Erniedrigung aus dir werden soll? Das Scheitern deiner Pläne wird dich entwürdigen, ohne dich zu belehren. Wie willst du, der du jetzt mehr als je der Spielball der öffentlichen Meinung bist, dich über die Vorurteile erheben, von denen die Entscheidung deines Schicksals abhängt? Wie willst du Gemeinheit und Laster verachten, die dir zu deinem Unterhalt unbedingt nötig sind? Hingest du früher vom Reichtum ab, so hängst du jetzt von den Reichen ab. Du hast deine Sklaverei nur schlimmer gemacht und zu ihrer schon so drückenden Last noch die Schwere deines Elends hinzugewälzt. Mit einem Wort: du bist arm, ohne frei zu sein; dies ist der elendeste Zustand, in den ein Mensch geraten kann.

Wenn du jedoch, statt zur Fristung deines Lebens zu solchen hohen Kenntnissen deine Zuflucht zu nehmen, die nur die Aufgabe haben, die Seele, aber nicht den Leib zu nähren, in der Not lieber auf die Geschicklichkeit deiner Hände und auf den Ertrag deiner Arbeit vertraust, so verschwinden alle Schwierigkeiten und du hast nicht nötig, dich durch Anwendung unerlaubter Kunstgriffe zu beflecken. Diese Hilfsquelle steht dir jeden Augenblick zu Diensten. Deine Rechtschaffenheit und der dir vorangehende gute Ruf sind dir dann auf deinem Lebenswege kein Hindernis mehr. Du brauchst dich dann vor den Großen nicht mehr feig und lügnerisch, vor den Schelmen fügsam und kriechend und vor jedermann als ein verächtlicher Augendiener zu zeigen, brauchst nicht mehr zu borgen und zu stehlen, was für den Besitzlosen ziemlich gleichbedeutende Begriffe sind. Fremde Urteile kümmern dich nicht; du brauchst niemandem den[357] Hof zu machen, keinem Einfaltspinsel Schmeicheleien zu sagen, keinen Schweizer zu erweichen, keine Buhlerin zu bestechen und, was noch schlimmer ist, heuchlerisch ihre Tugenden zu rühmen. Ob Schurken das Staatsschiff lenken, wird dich wenig kümmern: alles das wird dich nicht hindern, in deiner Zurückgezogenheit als ein rechtschaffener Mann zu leben und dein sicheres Brot zu haben. Du trittst in die erste beste Werkstätte des Handwerks ein, welches du gelernt hast. »Meister, mir fehlt Arbeit!« – »Setzt Euch an die Arbeit, Geselle!« Ehe noch die Mittagstunde herangerückt ist, hast du dein Mittagessen verdient; und bist du fleißig und mäßig, so wirst du, ehe acht Tage verstrichen sind, so viel zurückgelegt haben, daß du weitere acht Tage davon leben kannst, und dabei ist dein Leben in Freiheit, Gesundheit, Wahrheit, Arbeitsamkeit und Rechtschaffenheit verflossen. Das kann man nicht nennen, seine Zeit verlieren, sondern auskaufen.

Ich bestehe darauf, daß Emil ein Handwerk lerne. Aber doch wenigstens ein anständiges Handwerk, werdet ihr sagen. Was denkt ihr euch bei diesem Wort? Ist nicht jedes dem Gemeinwesen nützliche Handwerk ein anständiges? Ich will nicht, daß er ein Sticker, ein Vergolder, ein Lackierer werde wie Lockes Gentleman; auch soll er sich weder der Musik noch der Schauspielkunst noch der Schriftstellerei90widmen. Mit Ausnahme dieser und ähnlicher Berufsarten soll ihm die Wahl vollkommen freistehen; ich werde ihm in keiner Weise hinderlich entgegentreten. Es ist mir lieber, daß er ein Schuster wird als ein Dichter, daß er die Straßen pflastert, als daß er Porzellanblumen macht. Aber, werdet[358] ihr fragen, sind denn die Polizisten, die Spione, die Henker nicht auch nützliche Leute? Wenn sie es nicht sind, so liegt die Schuld nur an den Regierungen. Doch ich will noch weitergehen, will mein Unrecht gestehen. Es genügt noch nicht, bloß einen nützlichen Beruf zu wählen; derselbe darf auch von denen, die ihn betreiben, niemals gehässige und mit der Menschlichkeit unvereinbare Eigenschaften der Seele beanspruchen. Ich halte deshalb meinen ersten Ausdruck fest und sage: Laßt uns ein anständiges Handwerk wählen; laßt uns aber dabei nie vergessen, daß es nichts Anständiges gibt, was nicht zu gleicher Zeit nützlich ist.

Ein berühmter Schriftsteller dieses Jahrhunderts,91dessen Werke voll großer Entwürfe und kleiner Ansichten sind, hatte, wie alle Priester seines Glaubens, das Gelübde abgelegt, keine eigene Frau zu haben. Da er jedoch in bezug auf den Ehebruch eine weit größere Gewissenhaftigkeit bewies als die übrigen, so suchte er sich, wie man sich erzählt, dadurch zu helfen, daß er sich immer hübsche Mägde hielt, mit welchen er nach bestem Vermögen das Unrecht wieder gutmachte, das er dem menschlichen Geschlecht durch sein unbesonnenes Gelübde zugefügt hatte. Er hielt es für die Pflicht eines jeden Bürgers, dem Vaterlande Bürger zu geben; und mit dem Tribut, den er ihm in dieser Weise entrichtete, bevölkerte er die Klasse der Handwerker. Sobald diese Kinder das entsprechende Alter erreicht hatten, ließ er sie sämtlich nach eigener Wahl ein Handwerk lernen. Lediglich die müßigen, nichtigen oder der Mode unterworfenen Gewerbe, wie zum Beispiel das des Perückenmachers, das niemals notwendig ist und das, solange die Natur nicht müde wird, uns Haare zu schenken, mit einem Male ganz unnütz werden kann, schloß er dabei aus.

In dieser Handlungsweise spricht sich der Geist aus, der uns bei der Wahl eines Handwerks für Emil leiten muß;[359] oder vielmehr, es steht nicht uns zu, diese Wahl zu treffen, sondern ihm allein, denn da sich infolge der Grundsätze, die wir ihm eingeflößt haben, in ihm eine natürliche Betrachtung für alles Unnütze erhält, so wird er seine Zeit niemals mit völlig wert-und nutzlosen Arbeiten verschwenden wollen, und er kennt keinen anderen Wert der Dinge als ihren wirklichen Nutzen. Er kann seine Wahl nur auf ein Handwerk richten, das Robinson auf seiner Insel Nutzen bringen könnte.

Wenn man die Erzeugnisse der Natur und der Kunst vor den Augen des Kindes vorüberziehen läßt, wenn man seine Neugier erregt und beobachtet, wohin dieselbe es führt, so hat man den Vorteil, dabei seine Geschmacksrichtung, seine Neigung, seinen Hang studieren zu können und den ersten Funken seines Genies hervorleuchten zu sehen, wenn sich dasselbe in einer bestimmten Richtung geltend macht. Ein gewöhnlicher Fehler, vor dem man sich jedoch sorgfältig hüten muß, besteht darin, daß man eine durch bloßen Zufall hervorgerufene Leistung dem übersprudelnden Talente zuschreibt, und den Nachahmungstrieb, welchen der Mensch mit dem Affen teilt und welcher beide maschinenmäßig antreibt, alles, was sie tun sehen, ebenfalls zu tun, ohne sich deutlich bewußt zu sein, wozu es nützt, für eine ausgesprochenen Neigung zu dieser oder jener Kunst hält. Die Welt wimmelt von Handwerkern und namentlich Künstlern, welchen zu der Kunst, die sie betreiben, alle natürliche Anlage fehlt, zu der man sie jedoch schon von frühester Jugend auf angehalten hat, sei es nun, daß man sich dazu durch besondere Gründe bestimmen ließ, oder auch durch einen ihnen angeborenen augenscheinlichen Eifer getäuscht wurde, welcher sie indes ebensogut zu jeder anderen Kunst, wenn sie dieselbe zu gleicher Zeit hätten ausüben sehen, getrieben haben würde. Mancher hört einen Tambour und sieht sich im Geiste schon als General; ein anderer sieht bauen und will deshalb Baumeister werden. Jeder fühlt sich zu dem[360] Berufe hingezogen, den er ausüben sieht, sobald er ihn für einen anständigen hält.

Ich habe einen Diener gekannt, der seinen Herrn einmal malen und zeichnen sah und sich nun in den Kopf setzte, ein Maler und Zeichner zu werden. Von dem Augenblick an, wo dieser Entschluß in ihm zur Reise gekommen war, nahm er den Bleistift, welchen er nur weglegte, um sofort nach dem Pinsel zu langen, den er wohl sein Leben lang nicht wieder weglegen wird. Ohne Unterricht und ohne Kenntnis der ersten Regeln begann er alles zu zeichnen, was ihm unter die Hände geriet. Drei volle Jahre saß er wie angekettet über seinen Sudeleien; nur sein Dienst konnte ihn auf Augenblicke davon losreißen, und die geringen Fortschritte, die er bei seinen mittelmäßigen Anlagen machte, vermochten ihn nicht zu entmutigen. Ich habe gesehen, wie er in einem glühend heißen Sommer sechs Monate lang in einem kleinen nach Süden zu gelegenen Vorzimmer, wo man beim bloßen Durchgehen ersticken zu müssen glaubte, den ganzen Tag auf seinem Stuhl saß oder vielmehr angeschmiedet war. Seine Beschäftigung bestand darin einen vor ihm stehenden Globus wieder und wieder abzuzeichnen und mit unüberwindlicher Hartnäckigkeit stets neue Versuche zu machen, bis ihm die kugelförmige Figur zu seiner Zufriedenheit gelungen war. Durch Unterstützung seines Herrn und unter Leitung eines Künstlers ist er endlich so weit gekommen, die Livree ausziehen und von seinem Pinsel leben zu können. Bis zu einer gewissen Grenze ist Beharrlichkeit imstande, das Talent zu ersetzen, diese Grenze hat er erreicht und wird sie nie überschreiten. Die Ausdauer und der Eifer dieses ehrlichen Menschen sind jedenfalls anerkennenswert; seinem Fleiße, seiner Treue und seinen Sitten wird nie die Achtung versagt werden, aber er wird es nie weiter als zum Schildermaler bringen. Wer würde durch seinen Eifer nicht getäuscht worden sein und ihn nicht für ein wahres Talent gehalten haben? Aber es ist doch[361] ein großer Unterschied, ob man an einer Arbeit nur Gefallen findet, oder ob man auch Fähig keit zu derselben besitzt. Es sind feinere Beobachtungen, als man im allgemeinen annimmt, dazu nötig, um sich von dem wahren Genie und der wahren Neigung eines Kindes zu überzeugen, welches weit häufiger seine Wünsche als seine Anlagen zu zeigen pflegt. Leider beurteilt man es immer nur nach den ersteren, weil man letztere nicht zu studieren versteht. Ich wünschte, daß ein Mann, dem es nicht an der nötigen Beobachtungsgabe fehlte, uns eine Abhandlung über die Kunst, die Kinder zu beobachten schriebe. Diese Kunst ist wahrlich wissenswert; aber die Väter und die Lehrer sind noch nicht einmal mit ihren Anfangsgründen bekannt.

Aber vielleicht legen wir der Wahl eines Handwerks eine allzu große Wichtigkeit bei. Da es sich hier ja nur um eine Handarbeit handelt, fällt meinem Emil diese Wahl nicht schwer. Dazu kommt, daß er infolge der Uebungen, mit denen wir ihn bis jetzt beschäftigt haben, seine Lehrzeit schon zur Hälfte zurückgelegt hat. Was für Ansprüche erhebt ihr an ihn? Er ist zu allem geschickt. Er versteht mit Spaten und Hacke umzugehen, weiß mit der Drehbank, dem Hammer, dem Hobel, der Feile Bescheid, ist mit den Werkzeugen aller Handwerke vertraut. Jetzt ist nur noch nötig, daß er eins derselben so leicht und sicher gebrauchen lerne, daß er es mit tüchtigen Arbeitern, die sich desselben bedienen, an Gewandtheit aufnehmen kann; und gerade in diesem Punkt hat er vor ihnen allen durch seinen gewandten Körper und seine geschmeidigen Glieder, die ihn befähigen, ohne Mühe jede Stellung anzunehmen und ohne Anstrengung jegliche Bewegung längere Zeit aushalten zu können, einen großen Vorteil voraus. Damit noch nicht genug, sind auch seine Organe scharf und gehörig ausgebildet; die ganze Mechanik der Künste ist ihm schon bekannt. Zur Meisterschaft gebricht es ihm nur an der Fertigkeit, und diese ist lediglich eine Sache der Zeit. Auf welches der[362] Handwerke, unter welchen uns noch die Wahl freisteht, wird er nun so viel Zeit verwenden, daß er sich darin die nötige Geschicklichkeit erwirbt? Das ist die einzige Frage, um die es sich noch handelt.

Gebt dem Mann ein Handwerk, welches seinem Geschlecht geziemt, und dem Jüngling ein solches, welches seinem Alter ansteht. Jede sitzende, an das Zimmer fesselnde Berufstätigkeit, die den Körper verweichlicht und entkräftet, spricht ihm nicht an und ist ihm nicht dienlich. Nie wird ein Knabe aus eigenem Antrieb das Gewerbe eines Schneiders ergreifen. Man muß alle Kunst aufbieten, um das Geschlecht, welches die Natur nicht zu dieser Frauenarbeit92bestimmt hat, zur Wahl derselben bewegen. Nadel und Degen sollten nicht von denselben Händen geführt werden dürfen. Wäre ich Monarch, so würde ich das Nähen und sämtliche Nadelarbeiten nur den Weibern und den Lahmen gestatten, die auf eine ähnliche Beschäftigung wie jene angewiesen sind. Hätte die Annahme auch eine Berechtigung, daß Verschnittene ein notwendiges Uebel wären, so verdenke ich es doch den Orientalen im höchsten Grade, daß sie sich solche erst auf künstlichem Wege verschaffen. Weshalb begnügen sie sich nicht mit denen, welche die Natur hervorgebracht hat, mit dieser großen Schar elender Männer, denen sie gleichsam ein verstümmeltes Herz mitgegeben hat? Sie würden sie nicht einmal alle gebrauchen können. Jeder schwächliche, verweichlichte, zaghafte Mann ist von der Natur zu einer sitzenden Lebensweise verurteilt. Er ist dazu geschaffen, um mit Weibern und in weiblicher Weise zu leben. Wenn ein jeder den Beruf treibt, für den er sich besonders eignet, so habe ich gewiß nichts dagegen einzuwenden; und wenn es denn einmal durchaus wirkliche Verschnittene geben soll, so verwende man für diesen Stand solche Männer,[363] welche ihr Geschlecht entehren, indem sie sich Beschäftigungen hingeben, die sich für Männer nicht schicken. Die Wahl, die sie hinsichtlich ihres Berufes treffen, verrät einen Irrtum der Natur; verbessert diesen Irrtum auf die eine oder die andere Weise, und ihr werdet dadurch nur Gutes stiften.

Ich verbiete meinem Zögling die ungesunden, aber keineswegs die beschwerlichen, ja nicht einmal die gefährlichen Gewerbe. Letztere üben Kraft und Mut gleichzeitig. Sie taugen lediglich für Männer; die Frauen wollen mit ihnen nichts zu schaffen haben. Weshalb schämen sich die Männer nicht, sich in Berufszweige einzudrängen, die nur für die Frauen bestimmt sind?


Luctantur pauca, comedunt coliphia paucae.

Vos lanam trahitis, calathisque peracta refertis

Vellera...93


In Italien sieht man keine Frauen in den Läden; und man kann sich in der Tat nichts Traurigeres vorstellen als den Anblick, welchen die Straßen dieses Landes denjenigen darbieten, welche an das Straßenleben Frankreichs und Englands gewöhnt sind. Als ich sah, wie die Modehändler den Damen Bänder, Kopfputz, Haarnetze und Seidenschnüre verkauften, erschien mir in den groben Fäusten, die dazu geschaffen sind, den Blasebalg zu ziehen und auf den Amboß zu hämmern, dieser zierliche Putz sehr lächerlich. Ich sagte mir: Zur Vergeltung sollten sich die Frauen in diesem Land auf den Verkauf von Schwertern und anderen Waffen legen. Jeder sollte doch nur die Waffen seines Geschlechtes anfertigen und verkaufen. Um sie zu kennen, muß man sie brauchen.

Junger Mann, drücke deinen Arbeiten den Stempel der Manneshand auf! Lerne mit starkem Arme Beil und Säge regieren, einen Balken behauen, einen Giebel besteigen, ein Haus richten, Trag- und Zugbalken befestigen, und dann[364] rufe deiner Schwester zu, sie möge kommen, um dir bei deiner Arbeit zu helfen, wie sie ja auch von dir verlangt hat, du solltest ihr bei ihren Stickarbeiten Hilfe leisten.

Ich fühle recht wohl, daß ich meinen freundlichen Zeitgenossen in meinen Forderungen zu weit gehe. Aber ich lasse mich bisweilen durch die Konsequenzen fortreißen. Schämt sich irgendein Mann, er mag sein, wer er wolle, im Schurzfell mit dem Hobel in der Hand öffentlich zu arbeiten, so erblicke ich in ihm nichts als einen Sklaven der Meinung, der auch erröten würde, eine gute Handlung zu tun, sobald es Mode würde, ehrliche Leute zu verlachen. Trotzdem wollen wir dem Vorurteil der Väter in allen Stücken die dem Urteil der Kinder nicht nachteilig sein können, nachgeben. Es ist durchaus nicht notwendig, daß man, um seine Achtung gegen alle nützlichen Gewerbe zu beweisen, sie nun auch alle praktisch ausübt; es genügt, daß man keines derselben unter seiner Würde halte. Weshalb sollten wir uns, wenn die Wahl in unserer Hand steht und nichts anderes bestimmend auf uns einwirkt, bei unserer Wahl unter den Beschäftigungen gleichen Ranges nicht von der Annehmlichkeit derselben sowie von unserer Lust und Neigung leiten lassen? Die Metallarbeiten sind nützlich, sogar die nützlichsten von allen; gleichwohl beabsichtige ich nicht, falls mich nicht ein besonderer Grund dazu veranlassen sollte, einen Hufschmied, Schlosser oder Grobschmied aus eurem Sohn zu machen; ich möchte ihn nicht in der Gestalt eines Zyklopen in seiner Schmiede sehen. Ebensowenig gedenke ich einen Maurer und noch weniger einen Schuhmacher aus ihm zu machen. Allerdings ist die Betreibung aller dieser Professionen eine Notwendigkeit; wem aber die Wahl freisteht, der muß auf die Sauberkeit Rücksicht nehmen, denn diese kann man gewiß kein Vorurteil nennen; über diesen Punkt entscheiden die Sinne. Endlich würde ich meine Wahl auch nicht auf eines dieser gedankenlosen Gewerbe lenken, in welchen die Arbeiter, wie zum Beispiel[365] Weber, Strumpfwirker und Steinbauer, ohne allen Kunstsinn und fast wie Automaten, immer nur die nämlichen Arbeiten vornehmen und an ihnen ihre Hände üben. Wozu nützt es, für diese Geschäfte mit Vernunft begabte Wesen zu verwenden? Bei ihnen ist der Arbeiter nur eine Maschine, der eine andere in Bewegung setzt.

Alles wohlerwogen, würde es meinen Wünschen am meisten entsprechen, wenn mein Zögling Gefallen am Tischlerhandwerk fände. Es ist reinlich und nützlich, läßt sich im Hause betreiben, hält den Körper in hinreichender Bewegung und erfordert von dem Arbeiter Geschicklichkeit und Kunstsinn; denn obgleich die Form der anzufertigenden Gegenstände von dem künftigen Gebrauche derselben abhängt, so sind doch Eleganz und Geschmack nicht ausgeschlossen.

Sollte sich zufällig der Geist eines Zöglings in entschiedener Weise den spekulativen Wissenschaften zuwenden, so würde ich es nicht tadelnswert finden, wenn ihr ihn für einen seinen Neigungen entsprechenden Beruf bestimmtet; laßt ihn zum Beispiel die Verfertigung von mathematischen Instrumenten, Brillen, Teleskopen usw. lernen.

Wenn Emil sein Handwerk lernt, so werde ich es mit ihm zusammen lernen, denn ich bin überzeugt, daß er nur das, was wir gemeinschaftlich betreiben, gründlich lernen wird. Wir werden deshalb beide in die Lehre treten und keineswegs Anspruch darauf machen, als Herren behandelt zu werden, sondern wir wollen im Gegenteil als Lehrlinge gelten, die es nicht der Kurzweil halber sind. Und weshalb sollten wir es nicht wirklich in vollem Ernste sein? Der Zar Peter war Schiffszimmermann und diente in seinem eigenen Heer als Tambour. Meint ihr, dieser Fürst könne sich mit euch an Geburt und Verdienst nicht messen? Es ist selbstverständlich, daß ich dies nicht etwa gegen Emil äußere; an euch wende ich mich, wer ihr auch sein möget.[366]

Leider können wir nicht unsere ganze Zeit an der Hobelbank zubringen. Wir sind ja nicht allein Tischlerlehrlinge, sondern auch Lehrling für das ganze menschliche Leben; und gerade die Lehrlingsschaft für diesen letzten Beruf ist schwieriger und zeitraubender als die erstere. Wie werden wir es also anfangen? Wollen wir uns etwa täglich eine Stunde lang einen Meister der Hobelkunst annehmen, in derselben Weise, wie man sich einen Tanzlehrer hält? Nein; dann würden wir nicht Lehrlinge, sondern Schüler sein; und unser Ehrgeiz besteht nicht sowohl darin, das Tischlerhandwerk zu erlernen, als vielmehr darin, uns zum Stande des Tischlers zu erheben. Meiner Ansicht nach müßten wir jede Woche wenigstens ein-oder zweimal den ganzen Tag bei dem Meister zubringen, ebenso früh wie er aufstehen, uns noch vor ihm zur Arbeit einfinden, an seinem Tisch essen und nach seiner Anleitung arbeiten. Hätten wir dann die Ehre gehabt, mit seiner Familie zu Abend zu essen, so könnten wir, wenn wir wollten, nach Hause zurückkehren, um auf unserem harten Lager der Ruhe zu pflegen. Auf diese Weile lernt man mehrere Gewerbe auf einmal und bildet sich in den Handarbeiten aus, ohne daß die andere Lehrlingsschaft darunter zu leiden hat.

Laßt uns recht handeln und dabei einfach bleiben; seien wir auf der Hut, durch Bekämpfung der Eitelkeit derselben nicht neue Nahrung zuzuführen. Man erzählt sich, daß der Großherr nach einer alten Sitte des ottomanischen Herrscherhauses verpflichtet ist, mit eigenen Händen mechanische Arbeiten zu machen, und es ist männiglich bekannt, daß die Werke einer kaiserlichen Hand Meisterwerke sind. Er verteilt diese Meisterwerke deshalb unter Entfaltung einer festlichen Pracht, an die Großen der Hohen Pforte, und sie werden natürlich nach dem Rang ihres Verfertigers bezahlt. Das Schlimme, was ich hierin erblicke, beruht nicht darin, daß der ganze Akt doch nur auf eine Gelderpressung ausläuft, denn diese hat im Gegenteil ihre gute Seite. Indem[367] der Fürst seine Großen zwingt, das, was sie dem Volke geraubt haben, mit ihm zu teilen, sieht er sich weniger in die Lage versetzt, das Volk unmittelbar plündern zu müssen. Diese Erleichterung muß notwendig mit dem Despotismus verbunden sein, weil ohne sie diese entsetzliche Regierungsform gar nicht bestehen könnte. Das wirklich Schlimme einer solchen Sitte liegt in der hohen Vorstellung von seinem eigenen Verdienst, die sich dadurch in diesem armseligen Menschen festsetzt. Wie der König Midas sieht er alles, was er berührt, sich in Gold verwandeln, aber er gewahrt die langen Ohren nicht, die ihm dabei wachsen. Um dafür zu sorgen, daß sie unserem Emil hübsch kurz bleiben, laßt uns seine Hände vor diesem Talent, welches so reiche Schätze abwirft, bewahren. Der Preis seiner Arbeiten soll nicht in Rücksicht auf die Person des Verfertigers, sondern auf die Güte des Werks bestimmt werden. Wir wollen niemals dulden, daß man an das seinige einen anderen Maßstab lege, als an die Arbeiten bewährter Meister. Um ihrer selbst willen soll seine Arbeit geschätzt werden, und nicht deswegen, weil sie von ihm herrührt. Hat er etwas gut gemacht, so sagt ehrlich: »Das ist eine gute Arbeit,« setzt aber nie hinzu: »Wer hat sie gemacht?« Sagt er etwa selbst mit stolzer und selbstzufriedener Miene: »Ich habe sie angefertigt,« so fügt kalt hinzu: »Ob du oder ein anderer, das ist gleichgültig, es bleibt immer eine gute Arbeit.«

Gute Mutter, schütze dich namentlich gegen die Lügen, die man für dich in Bereitschaft hält. Ist dein Sohn kenntnisreich, so mißtraue allem, was er weiß. Hat er das Unglück, in Paris erzogen zu werden, und außerdem noch Reichtümer zu besitzen, so ist er verloren. So viele geschickte Künstler es daselbst auch geben mag, so wird er doch alle ihre Talente besitzen; fern von ihnen werden sie indes plötzlich versiegen. Diese Hauptstadt wimmelt von Dilettanten und besonders von Dilettantinnen, die ihre Werke anfertigen, wie Guillaume seine Farben erfand.[368] Unter den Männern sind mir nur drei rühmliche Ausnahmen bekannt, obwohl es deren auch noch mehr geben kann, unter den Frauen jedoch kenne ich keine einzige, hege auch Zweifel, daß es eine gibt. Im allgemeinen erwirbt man sich einen Namen in den Künsten in derselben Weise, wie in der gelehrten Welt. Man wird Künstler und Kunstrichter, wie man Doktor der Rechte und Bürgermeister wird.

Würde man es also einmal als einen unanfechtbaren Satz gelten lassen, daß es schön sei, ein Handwerk zu verstehen, so würden eure Kinder gar bald ein solches betreiben, ohne es je gelernt zu haben. Sie würden es zum Meister bringen, wie man es in Zürich zum Ratsherrn bringt. Mit all diesen äußeren Rücksichten soll mein Emil verschont bleiben – kein Schein, immer nur Tatsachen! Man rede nicht von dem was er weiß, sondern lasse ihn im stillen lernen. Er mache fortwährend sein Meisterwerk und erhalte doch nicht die Meisterwürde; nicht durch den Titel, sondern durch die Arbeit zeige er, daß er ein Arbeiter ist.

Bin ich imstande gewesen, mich bis hierher verständlich zu machen, so muß man eingesehen haben, wie ich meinem Zögling neben der Gewöhnung an körperliche Uebung und Handarbeit unmerklich zugleich Geschmack an Ueberlegung und Nachdenken einflöße, um in ihm der Trägheit, in die er infolge seiner Gleichgültigkeit gegen die Urteile der Menschen und der noch ungestörten Ruhe seiner Leidenschaften verfallen könnte, ein Gegengewicht zu geben. Er muß arbeiten wie ein Bauer und denken wie ein Philosoph, damit er nicht das müßige Leben eines Wilden führe. Das große Geheimnis der Erziehung beruht darauf, daß man es so einzurichten versteht, daß sich die körperlichen und geistigen Uebungen stets gegenseitig zur Erholung dienen.

Hüten wir uns jedoch, solche Belehrung, welche einen reiferen Verstand voraussetzt, zu früh zu erteilen. Emil wird noch nicht lange Handwerker sein, so wird ihm auch schon die Ungleichheit der Stände auffallen, die er anfangs[369] kaum bemerkt hatte. Nach den Grundsätzen, die ich ihm nach Maßgabe seiner Fassungskraft eingepflanzt habe, wird er auch mich einer Prüfung unterwerfen wollen. Da er alles ausschließlich von mir erhält und in seiner Lage eine Aehnlichkeit mit der der Armen erblickt, so wird er wissen wollen, weshalb sich die meinige so wesentlich davon unterscheidet. Ganz unversehens wird er vielleicht recht verfängliche Fragen an mich richten. »Sie sind reich, Sie haben es mir selbst gesagt, und ich nehme es auch wahr. Ein Reicher muß, weil er Mensch ist, ebenfalls für die Gesellschaft arbeiten. Aber was tun Sie denn für sie?« Was würde wohl einer unserer jetzigen so beliebten Erzieher darauf antworten? Ich weiß es nicht. Vielleicht würde er die Torheit so weit treiben, das Kind auf die Sorgfalt hinzuweisen, die er ihm widmet. Was mich jedoch anlangt, so reißt mich die Werkstätte aus der Verlegenheit. »Ei, lieber Emil, das ist eine vortreffliche Frage, ich verspreche dir, daß du eine Antwort von mir erhalten sollst, sobald du selbst eine dir genügende gefunden hast. Inzwischen werde ich es mir angelegen sein lassen, dir und den Armen alles, was ich zu viel habe, zu geben und wöchentlich einen Tisch oder eine Bank zu machen, um für das Ganze nicht völlig nutzlos zu sein.«

Damit sind wir nun wieder auf uns selbst zurückgekommen. Unser Kind ist, noch unmittelbar vor dem Augenblick, wo es aus der Kindheit heraustreten soll, zu seiner eigenen Person zurückgekehrt. Mehr als je fühlt es die Notwendigkeit, mit welcher es an die Dinge gefesselt ist. Nachdem wir zuerst seinen Körper und seine Sinne geübt haben, sind wir zur Uebung seines Verstandes und seiner Urteilskraft übergegangen. Schließlich haben wir den Gebrauch seiner Glieder mit dem seiner Geisteskräfte verbunden. Wir haben ein handelndes und denkendes Wesen aus ihm gebildet. Zur Vollendung des Menschen bleibt uns nur noch übrig, auch ein liebendes und fühlendes Wesen aus ihm zu machen,[370] das heißt seine Vernunft durch das Gefühl zu vervollkommnen. Bevor wir jedoch in diese neue Lebensperiode eintreten, wollen wir noch einen Rückblick auf diejenige werfen, aus der wir jetzt scheiden, und uns darüber möglichst klar zu werden suchen, wie weit wir gelangt sind.

Anfangs hatte unser Zögling nur sinnliche Wahrnehmungen, jetzt hat er Begriffe; zuerst nahm er nur wahr, jetzt urteilt er. Denn aus der Vergleichung mehrerer aufeinanderfolgender oder gleichzeitiger Wahrnehmungen und aus dem Urteil, welches man sich darüber bildet, geht eine Art gemischter oder zusammengesetzter Wahrnehmung hervor, welche ich Idee oder Begriff nenne.

Die Art und Weise der Bildung der Begriffe verleiht nun dem menschlichen Geiste seinen besonderen Charakter. Derjenige Geist, welcher seine Ideen lediglich nach wirklichen Verhältnissen bildet, ist ein gründlicher Geist, während derjenige, welcher sich schon mit scheinbaren Verhältnissen befriedigt, ein oberflächlicher Geist ist; wer die Verhältnisse so auffaßt wie sie sind, ist ein klarer, und wer sie unrichtig auffaßt, ein unklarer Kopf; wer eingebildete Verhältnisse, die weder in der Wirklichkeit existieren noch eine Wahrscheinlichkeit für sich haben, erdichtet, ist ein Narr, und wer gar keine Vergleichungen anstellt, ein Schwachkopf. Das größere oder geringere Geschick in der Vergleichung der Ideen und im Auffinden der Verhältnisse bildet Menschen von höherem oder niedrigerem Geiste.

Die einfachen Begriffe sind weiter nichts als verglichene Sinneswahrnehmungen. Bei den einfachen Sinneswahrnehmungen kommen ebensogut Urteile vor, als bei den zusammengesetzten, welche ich einfache Begriffe nenne. Bei den Sinneswahrnehmungen tritt das Urteil rein passiv auf; es beschränkt sich auf die Bestätigung, daß man das, was man wahrnimmt, wirklich wahrnimmt. Bei dem Begriffe oder der Idee verhält sich das Urteil dagegen aktiv; es stellt zusammen, es vergleicht, es bestimmt Verhältnisse, welche[371] der Sinn nicht bestimmt. Darin besteht der ganze Unterschied, aber er ist freilich groß. Die Natur täuscht uns nie, die Täuschung geht stets von uns selber aus.94

Ich bin Zeuge, wie man einem achtjährigen Kinde Gefrorenes vorsetzt; es führt den Löffel nach dem Mund, ohne zu wissen, was man ihm gereicht hat, und von der Kälte empfindlich berührt, schreit es: »Ach, ich habe mich verbrannt!« Es wird ein sehr lebhafter Eindruck auf dieselbe ausgeübt; und da es keinen lebhafteren als den durch die Hitze des Feuers verursachten kennt, so meint es, diese zu empfinden. Dessenungeachtet täuscht es sich; der plötzliche Kälteschauer erregt ihm Schrecken; aber es verbrennt sich nicht. Außerdem haben auch beide Empfindungen keine Aehnlichkeit miteinander, denn wer beide schon wahrgenommen hat, wird sie gewiß nicht miteinander verwechseln. Nicht also die Empfindung hat die Täuschung hervorgerufen, sondern das Urteil, welches das Kind über dieselbe fällt.

Eine ähnliche Erfahrung macht derjenige, welcher zum erstenmal einen Spiegel oder einen optischen Apparat sieht, welcher mitten im Winter oder Sommer in einen tiefen[372] Keller hinabsteigt, welcher seine Hand, wenn sie sehr heiß oder sehr kalt ist, in laues Wasser taucht, oder eine kleine Kugel zwischen zwei gekreuzten Fingern rollt. Begnügt er sich, das, was er wirklich wahrnimmt, wirklich empfindet, zu sagen, so ist, da sich sein Urteil rein passiv verhält, eine Täuschung eine Unmöglichkeit. Läßt er sich bei seinem Urteil dagegen durch den Schein leiten, so ist dasselbe aktiv; er vergleicht und stellt durch Schlüsse Verhältnisse fest, die er nicht wahrnimmt. Dann täuscht er sich oder kann sich wenigstens täuschen. Es gehört Erfahrung dazu, um den Irrtum zu verbessern oder ihm vorzubeugen.

Zeigt ihr des Nachts eurem Zögling Wolken, die zwischen ihm und dem Monde vorüberziehen, so wird er sich dem Wahn hingeben, daß sich der Mond nach der den Wolken entgegengesetzten Seite bewege, während ihm diese stillzustehen scheinen. Diese Annahme bildet sich in ihm durch einen voreiligen Schluß, weil er aus Erfahrung weiß, daß die kleineren Körper gewöhnlich eine spätere Bewegung als die großen haben, und weil ihm die Wolken größer als der Mond vorkommen, dessen Entfernung er nicht richtig zu schätzen vermag. Betrachtet er dagegen von einem auf den Wellen dahintreibenden Boot aus das etwas entfernte Ufer, so verfällt er in den entgegengesetzten Irrtum und glaubt eine Bewegung des Landes wahrzunehmen, weil er seine eigene Bewegung nicht merkt und folglich das Boot, das Meer oder den Fluß und die ganze Gegend, so weit er sie zu überschauen imstande ist, für ein unbewegliches Ganzes hält, von dem ihm das Ufer, das er an sich vorüberziehen sieht, nur ein Teil zu sein scheint.

Erblickt ein Kind zum erstenmal einen bis zur Hälfte ins Wasser getauchten Stock, so zeigt er sich seinem Auge zerbrochen. Die sinnliche Wahrnehmung ist vollkommen richtig und, selbst wenn wir uns den Grund dieser Erscheinung nicht erklären könnten, würde sie nicht aufhören, es zu sein. Fragt ihr es deshalb, was es sieht, so antwortet[373] es: »Einen zerbrochenen Stock,« und es sagt die volle Wahrheit, denn es hat in der Tat den Eindruck eines zerbrochenen Stock erhalten. Geht es jedoch, durch sein Urteil irregeleitet, weiter und fügt es seiner Behauptung, es nehme einen zerbrochenen Stock wahr, auch noch die Behauptung hinzu, daß derselbe es in Wirklichkeit sei, dann sagt es etwas durchaus Falsches. Und weshalb? Weil das Urteil dann aktiv auftritt und das Kind nicht mehr nach der sinnlichen Wahrnehmung, sondern infolge eines Schlusses urteilt und etwas behauptet, wovon es keinen sinnlichen Eindruck empfangen hat, nämlich daß das durch einen Sinn hervorgerufene Urteil auch noch die Bestätigung eines anderen Sinnes erhalten werde.

Da alle unsere Irrtümer lediglich aus unseren Urteilen hervorgehen, so ist so viel klar, daß, brauchten wir niemals zu urteilen, wir auch nicht zu lernen nötig hätten. Wir würden uns dann niemals in dem Fall befinden, uns zu täuschen und in unserer Unwissenheit jedenfalls glücklicher sein, als wir bei unserem Wissen je sein können. Wer wollte leugnen, daß die Gelehrten wirklich tausenderlei Wahrheiten kennen, welche die Laien in der Wissenschaft niemals kennen lernen werden? Sind die Gelehrten aber deshalb schon der Wahrheit näher? Gerade im Gegenteil; je weiter sie fortschreiten, desto mehr entfernen sie sich nur von ihr, weil die Eitelkeit, Urteile zu fällen, die Zunahme ihrer Einsichten weit überflügelt, und mit jeder Wahrheit, die sie finden, hundert falsche Urteile Hand in Hand gehen. Mit unumstößlicher Gewißheit kann nachgewiesen werden, daß die gelehrten Gesellschaften Europas nur Brutstätten der Lüge sind, und sicherlich gibt es in der Akademie der Wissenschaft mehr Irrtümer als bei dem ganzen Stamm der Huronen.

Da die Menschen desto mehr Irrtümern ausgesetzt sind, eine je höhere Wissensstufe sie einnehmen, so besteht das einzige Mittel, den Irrtum zu vermeiden, in der Unwissenheit.[374] Urteilt nie, so werdet ihr euch auch nie irren. Diese Lehre gibt uns sowohl die Natur wie die Vernunft. Mit Ausnahme einer äußerst geringen Anzahl unmittelbarer und sich uns sehr fühlbar machender Beziehungen, in denen wir zur Außenwelt stehen, erfüllt uns von Natur eine tiefe Gleichgültigkeit gegen alles übrige. Ein Wilder würde keinen Fuß in Bewegung setzen, um den Gang der vollkommensten Maschine und alle Wunder der Elektrizität anzusehen. »Was kümmert mich das?« Diesen Ausruf hört man so häufig aus dem Munde der Ungelehrten, und doch würde er sich im Munde der Gelehrten am allerbesten ausnehmen.

Unglücklicherweise paßt dies Wort nicht mehr auf unsere Verhältnisse. Seitdem wir von allem abhängen, ist uns auch alles wichtig; mit unseren Bedürfnissen muß sich auch notwendig unsere Wißbegierde erweitern. Aus diesem Grund schreibe ich dem Philosophen eine sehr große und dem Wilden gar keine Wißbegierde zu. Letzterer bedarf niemandes, ersterer der ganzen Welt, und namentlich der Bewunderer.

Man wird mir entgegenhalten, daß ich mich damit von der Natur lossage; aber dies bestreite ich. Die Natur wählt und verwendet ihre Hilfsmittel nicht in planloser Weise, sondern nach dem eintretenden Bedürfnis. Nun ändern sich aber die Bedürfnisse der Menschen nach ihrer Lebensstellung. Ein großer Unterschied macht sich zwischen einem naturgemäß im Naturzustand und einem naturgemäß in gesellschaftlichen Verhältnissen lebenden Menschen bemerkbar. Emil ist kein Wilder, der seinen Aufenthaltsort in den Wüsten suchen muß; er ist vielmehr ein Wilder, der bestimmt ist, in den Städten zu wohnen. In ihnen muß er seines Lebens Notdurst und Nahrung zu finden wissen, von ihren Einwohnern muß er Nutzen ziehen, und er ist gezwungen, wenn auch nicht wie sie, doch wenigstens mit ihnen zu leben.[375]

Da er nun inmitten so vieler neuen Verhältnisse, zu denen er in eine Art Abhängigkeit geraten wird, er mag wollen oder nicht, Urteile fällen muß, so ist es unsere Pflicht, ihn richtig urteilen zu lehren.

Als die beste Methode, richtig urteilen zu lernen, kann die empfohlen werden, welche es sich zu ihrer Hauptaufgabe macht, unsere Erfahrungen zu vereinfachen, ja darauf ausgeht, dieselben ganz entbehrlich zu machen, ohne uns einem Irrtum auszusetzen. Daraus folgt, daß wir, nachdem wir längere Zeit hindurch die Eindrücke des einen Sinnes durch einen anderen Sinn berechtigt haben, nun auch noch lernen müssen, die Eindrücke eines jeden Sinnes durch sich selbst zu berichtigen, ohne erst nötig zu haben, einen anderen Sinn zu Hilfe zu nehmen. Dann wird jeder sinnliche Eindruck für uns zu einem Begriff werden, und dieser Begriff wird stets mit der Wahrheit in Einklang stehen. Zu dieser Art gehören die Erfahrungen, welche ich dieser dritten Periode des menschlichen Lebens zu verschaffen gesucht habe.

Diese Methode verlangt eine Geduld und Umsicht, deren nur wenige Lehrer fähig sind, ohne welche indes der Schüler niemals urteilen lernen wird. Wenn ihr euch zum Beispiel, sobald sich derselbe durch den Anschein, als ob der Stock zerbrochen sei, täuschen läßt, sogleich beeilt, denselben aus dem Wasser zu ziehen, um ihn von seinem Irrtum zu überführen, so werdet ihr ihm den freilich benehmen, aber was werdet ihr ihn dadurch lehren? Nichts, als was er bald von selbst gelernt haben würde. Das ist wahrlich nicht die richtige Verfahrungsweise! Es handelt sich weniger darum, ihn mit einer Wahrheit bekannt zu machen, als vielmehr ihm zu zeigen, welches Verfahren er einschlagen müsse, um stets die Wahrheit zu finden. Um ihn gründlich zu belehren, muß man ihn nicht so bald aus seinem Irrtum reißen. Nehmt euch an Emil und mir ein Beispiel.

Erstlich wird jedes auf die herkömmliche Weise erzogene Kind nicht verfehlen, auf die zweite der vorausgesetzten[376] beiden Fragen sofort bejahend zu antworten. »Sicherlich,« wird es sagen, »ist das ein zerbrochener Stock.« Ich hege starken Zweifel, daß mir Emil die nämliche Antwort erteilen wird. Da er die Notwendigkeit nicht einsieht, gelehrt zu sein oder zu scheinen, so übereilt er sich mit seinem Urteil nie; er urteilt nur nach erlangter Gewißheit und ist weit entfernt, sie in dem vorliegenden Fall zu haben, da ihm nur zu wohl bekannt ist, wie leicht wir Gefahr laufen, uns bei unseren Urteilen zu täuschen, sobald wir uns bloß auf den Augenschein verlassen, und wäre es auch nur in bezug auf die Perspektive.

Da er ferner aus Erfahrung weiß, daß auch meine unbedeutendsten Fragen regelmäßig einen ganz bestimmten Zweck haben, wenn er ihm auch nicht sogleich deutlich ist, so liegt es gar nicht in seiner Gewohnheit, unbesonnen darauf zu antworten. Im Gegenteil setzt er Mißtrauen in sich, überlegt reiflich und prüft, bevor er antwortet, meine Fragen mit größter Sorgfalt. Niemals gibt er mir eine Antwort, die ihn nicht selbst befriedigt, und er ist schwer zufriedenzustellen. Wir ereifern uns am Ende auch beide nicht so sehr darum, durchaus die Wahrheit wissen zu wollen, sondern es kommt uns weit mehr darauf an, uns vom Irrtum fernzuhalten. Wir würden uns weit unangenehmer berührt fühlen, wenn wir uns mit einem nicht genügenden Grund zufrieden geben wollten, als wenn wir gar keinen fänden. »Ich weiß nicht« ist ein Ausdruck, welchen wir beide so oft im Munde führen und so oft wiederholen, daß weder dem einen noch dem anderen seine Anwendung sauer wird. Ob ihm indes eine unüberlegte Antwort entschlüpfen möge, oder ob er sie durch unser bequemes »Ich weiß nicht« zu vermeiden suche, immer wird meine Erwiderung gleich lauten: »Laß uns zusehen, laß uns untersuchen.«

Jener bis zur Hälfte ins Wasser getauchte Stock hat eine senkrechte Richtung. Wieviel haben wir doch, um zu[377] erfahren, ob er wirklich zerbrochen ist, wie es scheint, erst noch zu tun, bevor wir ihn aus dem Wasser ziehen oder auch nur mit der Hand berühren!

1. Zunächst betrachten wir uns den Stock von allen Seiten und machen die Wahrnehmung, daß der Bruch jeder unserer Stellungen folgt. Der Grund dieser Veränderung liegt also ausschließlich in unserem Auge, und doch sind die Blicke nicht imstande, Körper in Bewegung zu setzen.

2. Darauf blicken wir in senkrechter Richtung auf das Ende des Stockes herab, welches aus dem Wasser hervorragt. Nun sieht er nicht mehr gebrochen aus; das unserem Auge zunächstliegende Ende deckt das untere genau.95 Hat denn unser Auge etwa den Stock wieder gerade gerichtet?

3. Wir bringen die Oberfläche des Wassers in Bewegung. Sofort nehmen wir wahr, daß der Stock in mehrere Stücke zerbricht, sich im Zickzack hin und her bewegt und den Wellenbewegungen des Wassers folgt. Reicht demnach schon die Bewegung, in die wir das Wasser setzten, hin, den Stock zu zerbrechen, zu erweichen und in einen flüssigen Zustand zu verwandeln?

4. Endlich lassen wir das Wasser abfließen und sehen, wie sich der Stock in dem Maße, in welchem das Wasser sinkt, nach und nach gerade richtet. Ist dies nicht mehr als nötig ist, um die Tatsache aufzuklären und sich daraus die Lehre von der Brechung des Lichtes zu entwickeln? Es beruht also nicht auf Wahrheit, daß das Gesicht uns täusche, da wir uns nur auf das Auge zu verlassen brauchen, um die Irrtümer zu berichtigen, deren Schuld wir ihm zuschreiben.[378]

Angenommen, das Kind wäre zu beschränkt, um das Resultat dieser Beobachtungen begreifen zu können – gut, dann müßten wir zur Unterstützung des Gesichts auch noch das Gefühl aufbieten. Laßt den Stock, anstatt ihn aus dem Wasser zu ziehen, in seiner gegenwärtigen Stellung, und das Kind fahre nun mit der Hand von einem Ende bis zum anderen an ihm hinab. Nirgends wird es einen Winkel bemerken; der Stock ist also nicht zerbrochen.

Ihr werdet mir einwenden, daß es sich hierbei schon nicht allein um Urteile handle, sondern um förmliche Schlußfolgerungen. Ja, ich gebe es zu; aber seht ihr nicht ein, daß, sobald der Geist einmal bis zu den Ideen gelangt ist, jedes Urteil eine Schlußfolgerung ist? Das Sichbewußtwerden jeder Sinneswahrnehmung ist ein Satz, ein Urteil. Folglich schließt man auch, sobald man eine Sinneswahrnehmung mit einer anderen vergleicht. Die Kunst zu urteilen und die Kunst zu schließen sind genau dasselbe.

Nach meinem Willen soll Emil die Dioptrik an diesem Stabe lernen, oder er soll nie mit ihr bekannt gemacht werden. Er wird weder Insekten seziert noch die Sonnenflecken gezählt haben; er wird weder wissen, was ein Mikroskop noch was ein Teleskop ist. Eure hochgelahrten Zöglinge werden ihn wegen seiner Unwissenheit auslachen. Sie werden keineswegs unrecht haben, denn ich verlange, daß er diese Instrumente, ehe er sich ihrer bedient, selbst erfinde, und ihr könnt euch wohl vorstellen, daß dies Zeit erfordert.

Hierin ist der Geist meiner ganzen Methode während dieser Periode zusammengefaßt. Wenn das Kind eine kleine Kugel zwischen zwei kreuzweise übereinandergelegten Fingern rollen läßt und dabei deren zwei zu fühlen glaubt, so werde ich ihm nicht eher gestatten, daß es sich mit seinen Augen überführt, bis es sich mit Schlüssen überzeugt hat, daß es wirklich nur eine Kugel ist.

Diese Erklärungen werden, wie ich denke, genügen, um die Fortschritte, die mein Zögling bisher in seiner geistigen[379] Entwicklung gemacht hat, sowie den Weg, auf welchem er sie erreicht hat, deutlich zu bezeichnen. Aber ihr seid vielleicht über die Menge der Gegenstände, die ich an ihm vorübergeführt habe, erschrocken; ihr hegt vielleicht Besorgnis, daß ich seinen Geist unter dieser Menge von Kenntnissen erdrücke. Es verhält sich gerade umgekehrt. Ich lehre ihn weit mehr die Kunst, sich ohne sie zu behelfen, als sich dieselben anzueignen. Ich zeige ihm den Weg der Wissenschaft, der zwar bequem zur Wahrheit führt, der aber lang, unendlich lang ist und auf dem sich nur langsam fortkommen läßt. Ich lasse ihn die ersten Schritte tun, damit er den Eingang kennen lerne, aber ich erlaube ihm nicht, allzuweit vorzudringen.

Gezwungen, seine Kenntnisse sich selbst zu erwerben, stützt er sich auf seine eigene Vernunft und nicht auf die eines anderen, denn um dem Vorurteil kein Zugeständnis zu machen, darf er auch der Autorität keinen Einfluß gestatten. Für den größten Teil unserer Irrtümer tragen nicht wir die Schuld, sondern andere. Diese unausgesetzte Uebung muß eine Stärke des Geistes hervorbringen, die derjenigen ähnlich ist, welche der Körper durch Arbeit und Anstrengung erlangt. Dazu tritt noch der Vorteil, daß man nur nach Maßgabe seiner Kräfte fortschreitet. Wie der Körper hält auch der Geist nur so viel aus, als er auszuhalten vermag. Eignet sich der Verstand die Dinge an, bevor sie Eigentum des Gedächtnisses werden, so gehört ihm auch alles, was er daraus herleitet. Ueberladet man sich dagegen das Gedächtnis mit unverstandenem Wissen, so setzt man sich der Gefahr aus, nie daraus eine Frucht zu gewinnen, die unser bleibendes Eigentum werden könnte.

Emil besitzt wenig Kenntnisse, aber diejenigen, welche er besitzt, sind wirklich sein Eigen; er weiß nichts halb. Unter dem wenigen, was er weiß und zwar gründlich weiß, ist das wichtigste, daß es vieles gibt, was ihm unbekannt ist, was er aber später vielleicht wissen kann; daß es noch[380] weit mehr gibt, was andere Leute wissen, und was er in seinem ganzen Leben nicht kennen lernen wird, und daß es endlich noch eine unendliche Menge von anderen Dingen gibt, die nie ein Mensch wissen wird. Er hat einen universellen Geist, nicht was seine Einsichten, wohl aber was seine Fähigkeit anlangt, sich solche zu erwerben, ferner einen offenen, klugen, für alles bereiten und, wie Montaigne sagt, wenn auch nicht unterrichteten, so doch unterrichtsfähigen Geist. Für mich ist es völlig ausreichend, daß er bei allem, was er tut, das »Wozu nützt es«, und bei allem, was er glaubt, das »Warum« zu finden weiß. Denn noch einmal, ich gehe nicht darauf aus, ihm die Wissenschaft selbst, sondern nur die Kunst beizubringen, sich diese nach Bedürfnis zu erwerben, sie nach ihrem wahren Wert zu schätzen und ihm eine solche Liebe zur Wahrheit einzuflößen, daß er sie höher achtet als alles übrige. Bei dieser Methode macht man freilich nur langsame Fortschritte, tut dafür aber auch nie einen unnützen Schritt und ist nie genötigt, wieder zurückschreiten zu müssen.

Emil besitzt nur Naturkenntnisse und zwar rein physische, Geschichte kennt er nicht einmal dem Namen nach, und ebensowenig weiß er, was Metaphysik oder Moral ist. Obwohl er die wesentlichen Beziehungen des Menschen zu den Dingen kennt, sind ihm doch die moralischen Beziehungen des Menschen zum Menschen völlig unbekannt. Auf die Verallgemeinerung und Abstraktion der Begriffe versteht er sich nur wenig. Er macht die Beobachtung, daß gewisse Körper gemeinsame Eigenschaften haben, ohne über diese Eigenschaften an sich Schlüsse zu ziehen. Er kennt vermittels der geometrischen Figuren den abstrakten Raum und vermittels der algebraischen Zeichen die abstrakte Größe. Diese Figuren und diese Zeichen sind die Träger seiner Abstraktionen; auf ihnen fußen seine Sinne. Er bestrebt sich, die Dinge nicht ihrem Wesen nach kennen zu lernen, sondern nur in bezug auf die Verhältnisse, die sein Interesse erregen.[381] Was ihm fremd ist, schätzt er nur nach der Beziehung desselben auf ihn selbst; aber diese Schätzung ist genau und sicher; phantastische oder vorurteilsvolle Anschauungen finden darin keine Stelle. Auf das, was ihm nützlich ist, legt er den höchsten Wert, und da er von dieser Art zu schätzen nie abgeht, so läßt er sich auch durch die öffentliche Meinung nie bestimmen.

Emil ist arbeitsam, mäßig, geduldig, stark und mutig. Seine Einbildungskraft, die bis jetzt noch in keiner Weise erhitzt ist, vergrößert ihm nie die Gefahren. Er ist gegen die meisten Uebel unempfindlich und weiß mit Standhaftigkeit zu leiden, weil er nicht gelernt hat, wider das Schicksal anzukämpfen. Was den Tod anlangt, so weiß er noch nicht recht, was derselbe ist; indes gewöhnt, sich ohne Widerstand dem Gesetz der Notwendigkeit zu unterwerfen, wird er, falls ihm der Tod nahte, ohne Seufzen und Sträuben sterben, und das ist alles, was die Natur in diesem von allen verabscheuten Augenblick zuläßt. Frei zu leben und sich so wenig wie möglich von menschlichen Dingen fesseln zu lassen, ist das beste Mittel, sterben zu lernen.

Mit einem Wort, Emil besitzt von der Tugend alles, was auf ihn selbst bezug hat. Um sich auch die gesellschaftlichen Tugenden zu erwerben, fehlt ihm lediglich die Kenntnis der Verhältnisse, welche dieselben notwendig machen. Folglich fehlen ihm einzig und allein solche Einsichten, zu deren Aufnahme sein Geist die nötige Fähigkeit besitzt.

Er betrachtet sich ohne Rücksicht auf andere und ist ganz damit einverstanden, wenn sich andere nicht um ihn kümmern. Er verlangt von niemandem etwas und glaubt auch nicht gegen irgend jemanden Verpflichtungen zu haben. Er steht allein in der menschlichen Gesellschaft da, und rechnet nur auf sich allein. Und er ist auch mehr als jeder andere berechtigt, auf sich selbst zu zählen, denn er ist alles was man in seinem Alter sein kann. Er hat keine Irrtümer, oder wenigstens nur solche, die wir Menschen nun einmal[382] von uns nicht fernhalten können. Er hat keine Fehler, oder doch nur solche, vor welchen kein Mensch sich hüten kann. Er besitzt einen gesunden Körper, gewandte Glieder, einen gesunden und vorurteilslosen Geist, ein freies und leidenschaftliches Herz. Die Eigenliebe, die erste und natürlichste aller Leidenschaften, hat sich noch kaum in ihm geregt. Ohne jemandes Ruhe zu stören, hat er so zufrieden, glücklich und frei gelebt, wie es die Natur nur immer zuließ. Glaubt ihr, daß ein Kind, welches sein fünfzehntes Jahr in dieser Weise erreicht hat, die vorhergehenden Jahre verloren habe?


Ende des ersten Bandes.[383]

Quelle:
Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung. Band 2, Leipzig [o.J.].
Lizenz:

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Horribilicribrifax

Horribilicribrifax

Das 1663 erschienene Scherzspiel schildert verwickelte Liebeshändel und Verwechselungen voller Prahlerei und Feigheit um den Helden Don Horribilicribrifax von Donnerkeil auf Wüsthausen. Schließlich finden sich die Paare doch und Diener Florian freut sich: »Hochzeiten über Hochzeiten! Was werde ich Marcepan bekommen!«

74 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon