Zehnte Vorlesung

[583] Wenn eine neue Wissenschaft in den Kreis der bekannten und geltenden eintritt, so wird sie in diesen selbst Punkte vorfinden, an die sich anschließt, an denen sie gleichsam erwartet ist. Die Ordnung, in welcher aus dem Ganzen möglicher Wissenschaften einzelne vor andern hervortreten und bearbeitet werden, wird nicht durchgängig die ihrer innern Abhängigkeit voneinander sein, und es kann eine dem unmittelbaren Bedürfnis näher liegende Wissenschaft geraume Zeit hindurch mit Fleiß bearbeitet, in manchen Richtungen selbst sehr ausgebildet sein, ehe sie bei allmählich strengeren Forderungen die Entdeckung macht, daß ihre Prämissen in einer andern bis jetzt noch nicht vorhandenen Wissenschaft liegen, daß eigentlich eine andere ihr hätte vorausgehen müssen, an die bis jetzt nicht gedacht worden. Wiederum kann keine neue Wissenschaft entstehen, ohne das Gebiet des menschlichen Wissens überhaupt zu erweitern, in den schon vorhandenen Mängel und Lücken auszufüllen. Hiernach gebührt es sich, daß jeder Wissenschaft, nachdem sie als eine mögliche begründet ist, zugleich ihre Stellung und ihr Wirkungskreis im ganzen der Wissenschaften, also ihr Verhältnis zu diesen überhaupt bestimmt werde. So wird es sich denn auch geziemen, wenn wir für die Philosophie der Mythologie die Seite aufzeigen, von welcher sie mit andern schon längere Zeit gesuchten oder in Bearbeitung begriffenen Wissenschaften zusammenhängt, und selbst fähig ist, erweiternd auf diese einzuwirken.

Zunächst nun ist durch die Begründung, welche die Philosophie der Mythologie erhalten, für das menschliche Wissen wenigstens[583] eine große Tatsache gewonnen, die Existenz eines theogonischen Prozesses im Bewußtsein der ursprünglichen Menschheit. Diese Tatsache schließt eine neue Welt auf, und kann nicht verfehlen, das menschliche Denken und Wissen in mehr als einem Sinn zu erweitern. Denn zunächst schon muß jeder fühlen, daß insbesondere kein sicherer Anfang der Geschichte ist, solange die Dunkelheit, welche die ersten Ereignisse bedeckt, nicht zerstreut, nicht die Punkte gefunden sind, an welche das große rätselhafte Gewebe, das wir Geschichte nennen, zuerst angelegt worden. Das erste Verhältnis hat die Philosophie der Mythologie also zur Geschichte; und schon das ist für nichts Geringes zu achten, daß wir durch sie in den Stand gesetzt worden, einen bis jetzt für die Wissenschaft völlig leeren Raum, die Vorzeit, in der nichts zu erkennen war, und der man höchstens durch leere Erfindungen, Einfälle oder willkürliche Annahmen einen Inhalt zu geben wußte, mit einer Folge reeller Ereignisse, mit einer lebensvollen Bewegung, einer wahren Geschichte zu erfüllen, die in ihrer Art nicht weniger als die insgemein so genannte reich an abwechselnden Vorfällen, an Szenen des Kriegs und des Friedens, an Kämpfen und Umstürzen ist. Die Tatsache kann insbesondere nicht ohne Einwirkung bleiben 1. auf die Philosophie der Geschichte, 2. auf alle diejenigen Teile der Geschichtsforschung, die irgendwie in dem Fall sind sich mit den ersten Anfängen der menschlichen Dinge zu beschäftigen.

Die erste Anregung zu einer Philosophie der Geschichte und der Name selbst kam wie vieles andere von den Franzosen, der Begriff aber wurde schon durch Herders berühmtes Werk über die erste Bedeutung hinausgeführt; die Naturphilosophie stellte gleich anfangs sich die Philosophie der Geschichte als anderen Hauptteil der Philosophie, wie sie damals sich ausdrückte, der angewandten Philosophie gegenüber1. Auch an formellen Erörterungen über den Begriff hat es in der nächstfolgenden Zeit nicht gefehlt. Die Idee einer Philosophie der Geschichte hat fortwährend große Gunst genossen: selbst an[584] Ausführungen hat es nicht gefehlt; dennoch finde ich nicht, daß man auch nur mit dem Begriff ins Reine gekommen.

Ich mache zunächst darauf aufmerksam, daß schon jene Zusammensetzung – Philosophie der Geschichte – die Geschichte als ein Ganzes erklärt. Ein Unbe schlossenes, nach allen Seiten Grenzenloses habe als solches kein Verhältnis zur Philosophie, wurde erst in der letzten Vorlesung ausgesprochen. Nun könnte man vor allem fragen, nach welcher der bisherigen Ansichten die Geschichte ein Abgeschlossenes und Geendetes sei. Gehört die Zukunft nicht auch zur Geschichte als Ganzes betrachtet? Findet sich aber irgendwo in dem, was sich bis jetzt für Philosophie der Geschichte gegeben hat, ein Gedanke, durch den ein wirklicher Schluß der Geschichte gegeben wäre, ich will nicht sagen ein befriedigender Schluß? Denn z.B. die Verwirklichung einer vollkommenen Rechtsverfassung, die vollkommene Entwicklung des Begriffs der Freiheit und alles dem Ähnliche ist in seiner Dürftigkeit zugleich zu bodenlos, als daß der Geist darin einen Ruhepunkt finden könnte. Ich frage, ob nur überhaupt an einen Schluß gedacht worden, und nicht alles vielmehr darauf hinausläuft, daß die Geschichte überhaupt keine wahre Zukunft hat, sondern alles ins Unendliche so fortgeht, da ein Fortschritt ohne Grenzen – aber eben darum zugleich sinnloser Fortschritt –, ein Fortgehen ohne Aufhören und ohne Absatz, bei dem etwas wahrhaft Neues und anderes anfinge, zu den Glaubensartikeln der gegenwärtigen Weisheit gehört. Da es jedoch von selbst sich versteht, daß was seinen Anfang nicht gefunden, auch sein Ende nicht finden kann, so wollen wir uns bloß auf die Vergangenheit beschränken und fragen, ob uns von dieser Seite die Geschichte ein Ganzes und Abgeschlossenes ist, und nicht vielmehr, nach allen bis jetzt stillschweigend oder ausdrücklich erklärten Ansichten, die Vergangenheit ebenso wie die Zukunft eine gleichmäßig ins Unendliche fortgehende, durch nichts in sich selbst unterschiedene und begrenzte Zeit sei.

Man unterscheidet zwar in der Vergangenheit allgemein: geschichtliche und vorgeschichtliche Zeit, und scheint auf diese Art einen Unterschied zu setzen. Aber die Frage ist, ob dieser Unterschied ein mehr als bloß zufälliger, ob beide[585] Zeiten wesentlich verschiedene, und nicht im Grunde doch nur eine und dieselbe Zeit sind, wobei also die vorgeschichtliche der geschichtlichen nicht zur wirklichen Begrenzung gereichen kann, denn dies könnte sie nur, wenn sie eine innerlich andere und verschiedene von dieser wäre. Aber ist nach den gewöhnlichen Begriffen in der vorgeschichtlichen Zeit wirklich etwas anderes als in der geschichtlichen? Keineswegs; der ganze Unterschied ist bloß der äußere und zufällige, daß wir von der geschichtlichen etwas wissen, von der vorgeschichtlichen nichts wissen; letztere ist nicht eigentlich die vorgeschichtliche, sondern bloß die vorhistorische. Kann es aber etwas Zufälligeres geben, als den Mangel oder das Vorhandensein schriftlicher und anderer Denkmäler, welche uns von den Begebenheiten einer Zeit auf glaubhafte und sichere Weise unterrichten? Gibt es doch selbst innerhalb der historisch genannten Zeit ganze Strecken, für die es uns angehörig beglaubigten Nachrichten fehlt. Und selbst darüber, welchen der vorhandenen Denkmäler historischer Wert zukomme, ist man nicht einerlei Meinung. Einige weigern sich, die mosaischen Bücher als historische Urkunden gelten zu lassen, während sie den ältesten Geschichtschreibern der Griechen, z.B. dem Herodotos, historisches Ansehen zuerkennen, andere auch diese nicht für vollgültig erachten, sondern mit D. Hume sagen: das erste Blatt des Thukydides sei das erste Blatt der wahren Historie. Eine wesentlich, eine innerlich differente Zeit wäre die vorgeschichtliche, wenn sie einen andern Inhalt hätte als die geschichtliche. Aber welchen Unterschied könnte man zwischen beiden in dieser Hinsicht aufstellen? Nach den bis jetzt gewöhnlichen Begriffen wüßte ich keinen, als etwa den, daß die Begebenheiten der vorgeschichtlichen Zeit unbedeutend seien, die der geschichtlichen aber bedeutend. Dies würde ungefähr auch daraus hervorgehen, daß nach einer beliebten Vergleichung, zu deren Erfindung freilich nicht viel gehörte, die erste Zeit des Menschengeschlechts als die Kindheit derselben angesehen wird. Allerdings auch die kleinen Begegnisse der Kindheit eines historischen Individuums werden der Vergessenheit übergeben. Die geschichtliche finge demnach mit den bedeutenden Begebenheiten an. Aber was heißt hier bedeutend,[586] was unbedeutend? Muß es uns doch vorkommen, daß jenes unbekannte Land, jenes der Historie unzugängliche Gebiet, in dem sich die letzten Quellen aller Geschichte verlieren, uns gerade die bedeutendsten, weil für die ganze Folge entscheidenden und bestimmenden Vorgänge verbirgt.

Weil zwischen der geschichtlichen und vorgeschichtlichen Zeit kein wahrer, nämlich innerer Unterschied ist, so ist es auch unmöglich, eine feste Grenze zwischen beiden zu ziehen. Niemand weiß zu sagen, wo die historische Zeit anfängt und die andere aufhört, und die Bearbeiter der allgemeinen Geschichte sind in sichtlicher Verlegenheit über den Punkt, bei dem sie anfangen sollen. Natürlich; denn die geschichtliche Zeit hat für sie eigentlich keinen Anfang, sondern geht im Grunde und der Sache nach ins völlig Unbestimmte zurück, es ist überall nur einerlei nirgends begrenzte noch irgendwo zu begrenzende Zeit.

Gewiß in einem solchen Unbeschlossenen, Unbeendeten kann sich die Vernunft nicht erkennen; demnach sind wir bis jetzt von nichts entfernter, als von einer wahren Philosophie der Geschichte. Es fehlt am Besten, nämlich am Anfang. Mit den leeren und wohlfeilen Formeln von Orientalismus und Okzidentalismus und ähnlichen, z.B. in der ersten Periode der Geschichte habe das Unendliche, in der zweiten das Endliche, in der dritten die Einheit beider geherrscht, oder überhaupt mit der bloßen Anwendung eines anderswoher genommenen Schemas auf die Geschichte – ein Verfahren, in das gerade derjenige philosophische Schriftsteller, der es am lautesten getadelt hatte, sowie er selbst ans Reelle kam und dem eigenen Erfindungsvermögen überlassen blieb, auf die gröblichste Weise verfiel – mit allem dergleichen ist nichts getan.

Durch die vorhergegangenen, auf einen ganz anderen Gegenstand gerichteten Untersuchungen hat indes auch die Zeit der Vergangenheit für uns eine andere Gestalt, oder vielmehr überhaupt erst eine Gestalt gewonnen. Es ist nicht mehr eine grenzenlose Zeit, in die sich die Vergangenheit verliert, es sind wirklich und innerlich voneinander verschiedene Zeiten, in die sich für uns die Geschichte absetzt und gliedert. Wie? dies mögen folgende Betrachtungen näher zeigen.[587]

Indem die geschichtliche Zeit bestimmt worden als die Zeit der vollbrachten Trennung der Völker (wie sie für jedes einzelne Volk mit dem Augenblick anfängt, wo es als dieses sich erklärt und entschieden hat), so ist – auch bloß äußerlich betrachtet – der Inhalt der vorgeschichtlichen ein anderer als der der geschichtlichen Zeit. Jene ist die Zeit der Völker-Scheidung oder Krisis, des Übergangs zur Trennung. Aber diese Krisis ist selbst wieder nur die äußere Erscheinung oder Folge eines innern Vorgangs. Der wahre Inhalt der vorgeschichtlichen Zeit ist die Entstehung der formell und materiell verschiedenen Götterlehren, also der Mythologie überhaupt, welche in der geschichtlichen Zeit schon ein Fertiges und Vorhandenes, also geschichtlich ein Vergangenes ist. Ihr Werden, d.h. ihr eigenes geschichtliches Dasein erfüllte die vorgeschichtliche Zeit. Ein umgekehrter Euemerismus ist die richtige Ansicht. Nicht wie Euemeros lehrte, enthält die Mythologie die Begebenheiten der ältesten Geschichte, sondern umgekehrt die Mythologie im Entstehen, also eigentlich der Prozeß, durch den sie entsteht – dieser ist der wahre und einzige Inhalt jener ältesten Geschichte; und wenn man die Frage aufwirft, wovon jene, gegen das Geräusch der späteren Zeit so stumm, so arm und leer an Ereignissen scheinende Zeit erfüllt war, so ist zu antworten: diese Zeit war erfüllt von jenen innern Vorgängen und Bewegungen des Bewußtseins, welche die Entstehung der mythologischen Systeme, der Götterlehren der Völker begleiteten oder zur Folge hatten, und deren letztes Resultat die Trennung der Menschheit in Völker war.

Demgemäß sind die geschichtliche und die vorgeschichtliche Zeit nicht mehr bloß relative Unterschiede einer und derselben Zeit, sie sind zwei wesentlich verschiedene und voneinander abgesetzte, sich gegenseitig ausschließende, aber eben darum auch begrenzende Zeiten. Denn es ist zwischen beiden der wesentliche Unterschied, daß in der vorgeschichtlichen das Bewußtsein der Menschheit einer innern Notwendigkeit, einem Prozeß unterworfen ist, der sie der äußeren wirklichen Welt gleichsam entrückt, während jedes Volk, das durch innere Entscheidung zum Volk geworden, durch[588] dieselbe Krisis auch aus dem Prozeß als solchem gesetzt und frei von ihm nun jener Folge von Taten und Handlungen sich überläßt, deren mehr äußerer, weltlicher und profaner Charakter sie zu historischen macht.

Die geschichtliche Zeit setzt sich also nicht in die vorgeschichtliche fort, sondern ist durch diese als eine völlig andere vielmehr abgeschnitten und begrenzt. Wir nennen sie eine völlig andere, nicht daß sie im weitesten Sinn nicht auch eine geschichtliche wäre, denn auch in ihr geschieht Großes, und sie ist voll von Ereignissen, nur einer ganz andern Art, und die unter einem ganz andern Gesetz stehen. In diesem Sinn haben wir sie die relativ vorgeschichtliche genannt.

Diese Zeit aber, von welcher die geschichtliche abgeschlossen und begrenzt ist, ist selbst auch wieder eine bestimmte, und also auch ihrerseits durch eine andere begrenzt. Diese andere oder vielmehr dritte Zeit kann nicht wieder eine irgendwie geschichtliche, also nur die absolut-vorgeschichtliche sein, die Zeit der vollkommenen geschichtlichen Unbeweglichkeit. Sie ist die Zeit der noch unzertrennten und einigen Menschheit, die, weil sie gegen die folgende sich nur als Moment, als reiner Ausgangspunkt verhält, inwiefern nämlich in ihr selbst keine wahre Sukzession von Begebenheiten, keine Folge von Zeiten, wie in den beiden andern ist, selbst nicht wieder einer Begrenzung bedarf. Es ist in ihr, sagte ich, keine wahre Sukzession von Zeiten: damit ist nicht gemeint, daß in ihr überall nichts vorfalle, wie ein gutmütiger Mann sich das gedeutet hat. Denn freilich auch in jener schlechthin vorgeschichtlichen Zeit ging die Sonne auf und unter, die Menschen legten sich schlafen und standen wieder auf, freieten und ließen sich freien, wurden geboren und starben. Aber darin ist kein Fortgang und also keine Geschichte, wie das Individuum, in dessen Leben gestern wie heute, heute wie gestern ist, dessen Dasein ein immer sich wiederholender Zirkel gleichförmiger Abwechslung ist, keine Geschichte hat. Eine wahre Aufeinanderfolge wird nicht durch Begebenheiten gebildet, die ohne Spur verschwinden und das Ganze in dem Zustand zurücklassen, in dem es zuvor war. Aus diesem Grunde also, weil in der absolut vorgeschichtlichen Zeit das[589] Ganze am Ende ist wie es im Anfang war, weil also in dieser Zeit selbst keine Folge von Zeiten mehr ist, weil sie, auch in diesem Sinne nur Eine, nämlich, wie wir uns ausdrückten, die schlechthin identische, also im Grunde zeitlose Zeit ist (vielleicht ist diese Gleichgültigkeit der vergehenden Zeit von der Erinnerung durch die unglaublich lange Lebensdauer der ältesten Geschlechter festgehalten); aus diesem Grunde, sage ich, bedarf sie selbst nicht wieder der Begrenzung durch eine andere, ihre Dauer ist gleichgültig, kürzer oder länger ist dasselbe; mit ihr ist daher nicht bloß eine Zeit, sondern die Zeit überhaupt begrenzt, sie selbst das Letzte, zu dem man in der Zeit zurückgehen kann. Über sie hinaus ist kein Schritt mehr als in das Übergeschichtliche, sie ist eine Zeit, aber die schon nicht mehr in sich selbst, die nur im Verhältnis zu dem Folgenden eine Zeit ist; in sich selbst ist sie keine, weil in ihr kein wahres Vor und Nach, weil sie eine Art Ewigkeit ist, wie auch der hebräische Ausdruck (olam), der für sie in der Genesis gebraucht ist, andeutet.

Es ist also nicht mehr eine wilde, unorganische, grenzenlose Zeit, in die uns die Geschichte verläuft; es ist ein Organismus, es ist ein System von Zeiten, in das sich uns die Geschichte unseres Geschlechtes einschließt; jedes Glied dieses Ganzen ist eine eigene selbständige Zeit, die durch eine nicht bloß vorhergegangene, sondern durch eine von ihr abgesetzte und wesentlich verschiedene begrenzt ist, bis auf die letzte, welche keiner Begrenzung mehr bedarf, weil in ihr keine Zeit (nämlich keine Folge von Zeiten) mehr, weil sie eine relative Ewigkeit ist. Diese Glieder sind:

absolut-vorgeschichtliche,

relativ-vorgeschichtliche,

geschichtliche Zeit.


Man kann Geschichte und Historie unterscheiden, jene ist die Folge der Ereignisse und Begebenheiten selbst, diese die Kunde derselben. Hieraus folgt, daß der Begriff der Geschichte weiter ist, als der Begriff der Historie. Insoferne ließe sich statt absolut-vorgeschichtliche einfach sagen vorgeschichtliche, statt[590] relativ-vorgeschichtliche vorhistorische Zeit, und die Folge wäre alsdann diese:

a) vorgeschichtliche,

b) vorhistorische,

c) historische Zeit.

Nur müßte man sich hüten zu denken, es sei zwischen den beiden letzten nur der zufällige Unterschied, der in dem Worte liegt, daß man von dieser Kunde hat, von jener nicht.

Mit einer grenzenlos fortgehenden geschichtlichen Zeit ist aller Willkür Tür und Tor geöffnet, Wahres von Falschem, Einsicht von beliebiger Annahme oder Einbildung gar nicht zu unterscheiden. Beispiele dafür ließen sich in der von uns beendeten Untersuchung selbst genug aufzeigen. Hermann z.B. leugnet, daß der Mythologie ein von den Menschen selbst erfundener Theismus habe vorausgehen können, und er legt großen Wert darauf, daß dies nicht habe so sein können. Derselbe aber hat nichts dagegen und nimmt vielmehr selbst an, daß ein solcher Theismus einige Jahrtausende später allerdings erfunden worden, es fehlte also nach seiner Meinung nur an der Zeit für eine solche Erfindung vor der Mythologie. Zugleich nun aber äußert ebenderselbe die Hoffnung, wie es bereits der Erdgeschichte infolge geologischer Forschungen (die er indes wahrscheinlicher aus Pfarrer Ballenstädts Urwelt als aus Cuvier kennen gelernt hat) ergangen sei, ebenso durch die Altertumsforschung die Menschengeschichte noch mit einer reichlichen Zugabe unbestimmt früher Äonen bereichert zu sehen2. Wer aber über eine so schöne Zeit zu verfügen hat, als Hermann sich mit der eben erwähnten Erklärung vorbehalten, dem kann es für keine mögliche Erfindung, die er der Urwelt sonst zuzuschreiben geneigt wäre, an Zeit fehlen. Hermann vermöchte also keinen zu widerlegen, der ein urweltliches Weisheitssystem annähme, von dem den wenigen Überlebenden eines früheren Menschengeschlechts, das von einer jener Katastrophen, die sich nach Hermanns Meinung in der Erdgeschichte von Zeit zu Zeit wiederholen, und dergleichen eine auch uns künftig bevorsteht3 ereilt, großenteils mit samt[591] seinem Wissen begraben worden wäre, nur Trümmer und sinnlose Bruchstücke geblieben wären, aus denen jetzt die Mythologie bestünde. Ist es wahrer Wissenschaft eigen und geziemend, alles soviel möglich mit bestimmten Grenzen zu umfangen und in die Schranken der Begreiflichkeit einzuschließen, ist dagegen mit einer für grenzenlos angenommenen Zeit keine Art willkürlicher Annahme auszuschließen; sind es nur barbarische Völker, die sich darin gefallen, Jahrtausende auf Jahrtausende zu häufen, und kann es ebenso nur eine barbarische Philosophie sein, die sich bestrebt, der Geschichte eine Ausdehnung ins Grenzenlose zu bewahren, so kann es dem wahre Wissenschaft Liebenden nur erwünscht sein, einen so bestimmten terminus a quo, einen solchen jeden weiteren Rückgang abschneidenden Begriff aufgestellt zu sehen, wie der unserer schlechthin vorgeschichtlichen Zeit ist.

Nimmt man Geschichte im weitesten Sinn, so ist die Philosophie der Mythologie selbst der erste, also notwendigste und unumgänglichste Teil einer Philosophie der Geschichte. Es hilft nichts zu sagen, die Mythen enthalten keine Geschichte; als einst wirklich gewesene und entstandene sind sie selbst der Inhalt der ältesten Geschichte, und muß es doch, wenn man auch die Philosophie der Geschichte auf die geschichtliche Zeit beschränken will, als unmöglich erscheinen, ihr einen Anfang zu finden oder irgend einen sichern Schritt in ihr zu tun, wenn uns das, was diese (die geschichtliche Zeit) als Vergangenheit von sich selbst setzt, völlig verschlossen bleibt. Eine Philosophie der Geschichte, die der Geschichte keinen Anfang weiß, kann nur etwas völlig Bodenloses sein und verdient den Namen der Philosophie nicht. Was nun aber von der Geschichte im ganzen gilt, muß ebenso von jeder besondern geschichtlichen Forschung gelten.

In welcher Absicht immer unsere Untersuchungen bis in die Urzeiten unseres Geschlechts zurückgehen, sei es um die Anfänge desselben überhaupt, sei es die ersten Anfänge der Religion[592] und der bürgerlichen Gesellschaft oder der Wissenschaften und der Künste zu erforschen, immer stoßen wir zuletzt auf jenen dunkeln Raum, jenen chronos adêlos, der nur noch von der Mythologie eingenommen ist. Längst mußte es daher für alle mit jenen Fragen in Berührung kommende Wissenschaften die dringendste Forderung sein, daß diese Dunkelheit überwunden, jener Raum klar und deutlich erkennbar gemacht werde. Mittlerweile, und da man für jene das Herkommen des Menschengeschlechts betreffenden Fragen doch der Philosophie nicht entraten kann, hat auf alle Forschungen dieser Art eine seichte und schlechte Philosophie der Geschichte stillschweigend einen nur desto bestimmteren Einfluß geübt. Man erkennt diesen Einfluß an gewissen Axiomen, welche überall und beständig mit der größten Unbefangenheit, und als wäre etwas anderes nicht einmal denkbar, vorausgesetzt werden. Eines dieser Axiome ist, daß alle menschliche Wissenschaft, Kunst und Bildung von den armseligsten Anfängen habe ausgehen müssen. Diesem gemäß stellt ein bekannter, jetzt nicht mehr lebender Geschichtsforscher bei Gelegenheit der unterirdischen Tempel von Ellore und Mavalpuram in Indien die erbauliche Betrachtung an: »Schon die nackten Buschhottentotten machen Zeichnungen an den Wänden ihrer Höhlen, von da bis zu den indischen reichgeschmückten Tempeln, welche Stufen!« »und doch,« setzt der gelehrte Geschichtsforscher hinzu, »muß die Kunst auch diese betreten haben«4. Nach dieser Ansicht aber wäre vielmehr eine ägyptische, eine indische, eine griechische Kunst nie und zu keiner Zeit möglich gewesen. Erdichte man welche Zeiträume immer, und behalte sich vor, zu den erdichteten noch beliebige Jahrtausende hinzuzufügen: es ist der Natur der Sache nach unmöglich, daß die Kunst von solchen ganz nichtigen Anfängen je und in irgend einer angeblichen Zeit zu solcher Höhe gelangte; und gewiß hätte selbst der erwähnte Geschichtschreiber sich nicht darauf eingelassen, die Zeit zu bestimmen, in welcher die Kunst einen solchen Weg zurücklegen konnte. Er hätte ebensogut angeben können, wie viel Zeit nötig sei, damit etwas aus nichts entstehe.[593]

Man wird uns freilich einwenden, es lasse sich jenes Axiom nicht angreifen, ohne den großen und gleichsam für heilig gehaltenen Grundsatz von dem steten Fortschreiten des Menschengeschlechts anzutasten. Wo aber ein Fortschreiten ist, da ist ein Ausgangspunkt, ein Von-wo und ein Wohin. Aber jenes Fortschreiten geht nicht, wie man meint, vom Kleinen ins Große, vielmehr umgekehrt macht überall das Große, Gigantische den Anfang, und das organisch Gefaßte, ins Enge Gebrachte folgt erst nach. Homer ist von solcher Größe, daß keine spätere Zeit ihm Ähnliches hervorzubringen imstande war, dagegen würde auch eine Sophokleische Tragödie im homerischen Zeitalter eine Unmöglichkeit gewesen sein. Die Zeiten unterscheiden sich voneinander nicht durch bloßes Mehr oder Weniger sogenannter Kultur, ihre Unterschiede sind innere, sind Unterschiede wesentlich oder qualitativ verschiedener Prinzipien, die sich einander folgen, und deren jedes in seiner Zeit zur höchsten Ausbildung gelangen kann. Dieses ganze System, dem die Geschichte selbst aufs Klarste widerspricht, mit dem seihst seine Anhänger doch eigentlich nur in Gedanken sich tragen, das noch keiner von ihnen auszuführen vermocht oder auch nur auszuführen versucht hat, beruht zuletzt auf der nicht von Tatsachen, sondern von einer unvollkommenen Erforschung und Ergründung derselben sich herschreibenden Meinung, daß der Mensch und die Menschheit von Anfang an lediglich sich selbst überlassen war, daß sie blind, sine numine, und dem schnödesten Zufall preisgegeben, gleichsam tappend, ihren Weg gesucht habe. Dies ist, kann man sagen, allgemeine Meinung; denn die Offenbarungsgläubigen, welche jenes Leitende, jenes numen, in der göttlichen Offenbarung suchen, befinden sich teils in entschiedener Minorität, teils können sie jenes Leitende nur für einen sehr kleinen Teil des Menschengeschlechts nachweisen; und merkwürdig bleibt es immer, daß das Volk des wahren Gottes die Baumeister seiner Tempel bei den Phönikiern suchen mußte. Aber wodurch wurden diese andern Völker erzogen, wodurch bewahrt, sich in das völlig Sinnlose zu verlieren, wodurch zu der Größe gehoben, die wir ihren Konzeptionen nicht absprechen können? War es nicht bloßer Zufall, der die Babylonier, Phönikier, Ägypter den Weg zu[594] ihren kunstreichen und zum Teil erstaunenswerten Bauten finden ließ, so mußte hier etwas anderes ins Mittel treten, etwas anderes, aber doch der Offenbarung Analoges. Der geoffenbarten Religion steht in dem Heidentum nicht eine bloße Negation, sondern ein Positives anderer Art entgegen. Dieses Andere und doch Analoge war eben der mythologische Prozeß. Es sind positive, wirkliche Mächte, die in diesem walten. Auch dieser Prozeß ist eine Quelle von Eingebungen, und nur aus solchen Inspirationen lassen sich die zum Teil Ungeheuern Hervorbringungen jener Zeit begreifen. Werke wie die indischen und ägyptischen Monumente entstehen nicht wie Stalaktytenhöhlen durch die bloße Länge der Zeit; dieselbe Gewalt, die nach innen die zum Teil kolossalen Vorstellungen der Mythologie erschuf, brachte nach außen gewendet die kühnen, alle Maßstäbe der späteren Zeit übersteigenden Unternehmungen in der Kunst hervor Die Gewalt, die das menschliche Bewußtsein in den mythologischen Vorstellungen über die Schranken der Wirklichkeit erhob, war auch die erste Lehrmeisterin des Großen, Bedeutungsvollen in der Kunst, auch die Macht, welche die Menschheit über die untergeordneten, logisch allerdings vorauszudenkenden Stufen wie eine göttliche Hand hinweghob, und die noch den späteren Erzeugnissen des Altertums eine der neueren Zeit bis jetzt unerreichbar gebliebene Größe einhauchte. Denn solange wenigstens, als nicht ein erhöhtes und erweitertes Bewußtsein wieder ein Verhältnis zu den großen Kräften und Mächten gewonnen hat, in dem sich das Altertum von selbst befand, wird es immer geraten sein, sich an das zu halten, was Gefühl und feiner Sinn aus unmittelbarer Wirklichkeit zu schöpfen weiß. Man spricht zwar, wie von christlicher Philosophie, so auch von christlicher Kunst. Aber Kunst ist überall Kunst und als solche ihrer Natur nach und ursprünglich weltlich und heidnisch, und hat daher auch im Christentum nicht das Partikulare desselben, sondern jenes Universelle, d.h. das in ihm aufzusuchen, was seinen Zusammenhang mit dem Heidentum ausmacht. Einstweilen ist es als eine gute Wendung zu betrachten, wenn die Kunst aus den Gegenständen, welche die Offenbarung ihr darbietet, solche erwählt, die über das beschränkt Christliche[595] hinausgehen, Ereignisse, wie die Sprachenverwirrung, die Entstehung der Völker, die Zerstörung Jerusalems und andere, in denen nicht erst der Künstler den großen allgemeinen Zusammenhang hervorzuheben hat.

Obwohl ich bei diesem Gegenstand jetzt nicht eigentlich verweilen kann, will ich dennoch bemerken, daß die Philosophie der Mythologie, wie sie einen notwendigen Bezug auf die Philosophie der Geschichte hat, so auch für die Philosophie der Kunst eine nicht zu entbehrende Grundlage bildet. Denn es wird für diese unerläßlich, es wird sogar eine ihrer ersten Aufgaben sein, sich mit den Gegenständen der künstlerischen und dichterischen Darstellungen zu beschäftigen. Hier wird es unvermeidlich sein, eine aller bildenden und dichtenden Kunst vorausgehende, ursprünglich, nämlich auch den Stoff erfindende und erzeugende Poesie gleichsam zu fordern. Etwas aber, das sich als eine solche ursprüngliche, aller bewußten und förmlichen Poesie vorausgehende Ideenerzeugung ansehen läßt, findet sich eben nur in der Mythologie. Wenn es unstatthaft ist, sie selbst aus Dicht-Kunst entstehen zu lassen, so ist es darum nicht weniger offenbar, daß sie sich zu allen späteren freien Hervorbringungen als eine solche ursprüngliche Poesie verhält In jeder umfassenden Philosophie der Kunst wird daher ein Hauptabschnitt die Natur und Bedeutung, insoweit auch die Entstehung der Mythologie erörtern müssen, wie ich in meinen vor fünfzig Jähren gehaltenen Vorträgen über Philosophie der Kunst5 ein solches Kapitel in sie aufgenommen hatte, dessen Ideen in den späteren Untersuchungen über Mythologie häufig reproduziert wurden. Unstreitig steht unter den Ursachen, durch welche die griechische Kunst so außerordentlich begünstigt war, die Beschaffenheit der ihr eigentümlichen, als besonders der durch ihre Mythologie gegebenen Gegenstände oben an, die einerseits einer höheren Geschichte und anderen Ordnung der Dinge angehörten, als dieser bloß zufälligen und vergänglichen, welcher der neuere Dichter seine Gestalten zu entnehmen hat, von der andern Seite in einem inneren wesentlichen und bleibenden Bezug[596] zur Natur standen. Was vom Standpunkt der Kunst stets empfunden worden, die Notwendigkeit wirklicher Wesen, die zugleich Prinzipien, allgemeine und ewige Begriffe – nicht bloß bedeuten, sondern sind, davon hat die Philosophie erst die Möglichkeit zu zeigen. Das Heidentum ist uns innerlich fremd, aber auch mit dem unverstandenen Christentum ist zu der angedeuteten Kunsthöhe nicht zu gelangen. Es war zu früh, von einer christlichen Kunst zu reden, wenigstens unter den Inspirationen der einseitig romantischen Stimmung. Aber wie vieles andere hängt nicht eben davon ab, von dem verstandenen Christentum, und drängt nicht in der gegenwärtigen Verwirrung wissend oder unwissend alles dahin?

Jedes Kunstwerk steht um so höher, je mehr es zugleich den Eindruck einer gewissen Notwendigkeit seiner Existenz erweckt, aber nur der ewige und notwendige Inhalt hebt auch gewissermaßen die Zufälligkeit des Kunstwerks auf. Je mehr die an sich poetischen Gegenstände verschwinden, desto zufälliger wird auch die Poesie selbst; keiner Notwendigkeit sich bewußt, hat sie um so mehr das Bestreben, durch endloses Produzieren ihre Zufälligkeit zu verbergen, sich den Schein von Notwendigkeit zu geben. Den Eindruck der Zufälligkeit können wir auch bei den anspruchsvollsten Werken unserer Zeit nicht überwinden, während in den Werken des griechischen Altertums nicht bloß die Notwendigkeit, Wahrheit und Realität des Gegenstandes, sondern ebenso die Notwendigkeit, also die Wahrheit und Realität der Produktion sich ausspricht. Man kann bei diesen nicht, wie bei so manchen Werken einer späteren Kunst fragen: Warum, wozu ist es da? Das bloße Vervielfältigen der Hervorbringung kann ein bloßes Scheinleben nicht zum wirklichen erheben. Auch braucht man in einer solchen Zeit die Hervorbringung nicht noch eben besonders zu befördern, denn das Zufällige hat, wie gesagt, von selbst die Tendenz, als ein Notwendiges zu erscheinen, und darum die Neigung, sich ins Ungemessene und Grenzenlose zu vermehren, wie wir denn heutzutage in der Poesie, die von niemand gefördert wird, ein solches wahrhaft end- und zielloses Produzieren wahrnehmen können6. Byron sucht jene[597] höhere, an sich poetische Welt, er sucht zum Teil mit Gewalt in sie einzudringen, aber der Skeptizismus einer trostlosen Zeit, der auch sein Herz verödet hat, läßt ihn keinen Glauben an ihre Gestalten fassen.

Schriftsteller von Geist und Wissen haben den Gegensatz des Altertums und der neueren Zeit schon längst hervorgehoben, aber mehr, um die sogenannte romantische Poesie geltend zu machen, als um in die wahre Tiefe der alten Zeit einzudringen. Wenn es aber keine bloße Redensart ist, von dem Altertum als einer eigenen Welt zu sprechen, so wird man ihm auch ein eigenes Prinzip zugestehen, man wird die Gedanken dahin erweitern müssen, anzuerkennen, daß das rätselvolle Altertum, und zwar je höher wir in dasselbe hinaufsteigen desto bestimmter, einem andern Gesetz und andern Mächten Untertan war, als von denen die gegenwärtige Zeit beherrscht wird. Eine Psychologie, die bloß von den Verhältnissen der Gegenwart hergenommen ist und vielleicht selbst dieser nur oberflächliche Beobachtungen zu entnehmen gewußt hat, ist so wenig gemacht, Erscheinungen und Ereignisse der Vorzeit zu erklären, als sich die mechanischen Gesetze, die in der einmal gewordenen und erstarrten Natur gelten, auf die Zeit des ursprünglichen Werdens und des ersten lebendigen Entstehens übertragen lassen. Das Kürzeste freilich, diese Erscheinungen als bloße Mythen ein für allemal in das Gebiet des Unwirklichen zu verweisen, sich an den begründetsten Tatsachen, zumal des religiösen Lebens der Alten, mit seichten Hypothesen vorbeizuschleichen.

Der theogonische Prozeß, in den sich die Menschheit mit dem ersten wirklichen Bewußtsein verwickelt, ist wesentlich ein religiöser Prozeß. Ist die ermittelte Tatsache von dieser Seite vorzüglich wichtig für die Geschichte der Religion, so kann sie auch nicht ohne mächtige Einwirkung bleiben auf die Philosophie der Religion.

Es ist eine schöne Eigentümlichkeit der Deutschen, daß sie[598] sich so eifrig und anhaltend um diese Wissen schaft bemüht haben; ist dieselbe ihres Begriffs, Umfangs und Inhalts darum nicht mehr, vielleicht sogar weniger sicher als manche andere, so möchte dies, abgesehen davon, daß es der Natur der Sache nach in keiner Wissenschaft so viele Dilettanten gibt, also auch in keiner so leicht gepfuscht wird, als in der Religionswissenschaft, zum Teil davon herkommen, daß sie sich stets in zu großer Abhängigkeit von dem Gang der allgemeinen Philosophie gehalten, deren Bewegungen sie unselbständig in sich wiederholte, indes es ihr wohl möglich gewesen wäre, einen von der Philosophie unabhängigen Inhalt zu gewinnen, und so selbst erweiternd auf diese zurückzuwirken.

Eine solche Möglichkeit möchte ihr nun wirklich gegeben sein durch das Resultat unserer Untersuchung über Mythologie, in der eine von Philosophie und Vernunft gleich wie von Offenbarung unabhängige Religion nachgewiesen worden. Denn angenommen, daß es seine Richtigkeit hätte mit einem Ausspruch G. Hermanns, den wir als einen klar und entschieden sich aussprechenden Mann immer gern wieder anführen; angenommen, daß es keine andere Religion gebe, als entweder von angeblicher Offenbarung sich herschreibend, oder die sogenannte natürliche, welche aber nur philosophische sei, ein Ausspruch, dessen Meinung ist, daß es nur philosophische Religion gebe: so wüßten wir in der Tat nicht, wie sich Religionsphilosophie als besondere Wissenschaft (die sie doch sein soll) unterscheiden und behaupten könnte; denn für die bloß philosophische Religion wäre unstreitig schon durch die Allgemeine Philosophie gesorgt, und der Religionsphilosophie, wenn sie nicht auf jeden objektiven Inhalt verzichtete, bliebe daher nichts, als einen Teil oder ein Kapitel der Allgemeinen Philosophie in sich zu wiederholen.

Jenem Ausspruch entgegen haben wir nun, und zwar ohne irgendwie selbst von einer Philosophie auszugeben, infolge bloß geschichtlich begründeter Schlüsse gezeigt, daß es außer den beiden dort allein einander entgegengestellten Religionen, eine von beiden unabhängige, die mythologische Religion gibt. Wir haben noch außerdem und insbesondere gezeigt, daß sie selbst der Zeit nach jeder Offenbarung (wenn man eine solche annimmt)[599] vorausgeht, ja diese selbst erst vermittelt, demnach unwidersprechlich die erste Form ist, in der Religion überhaupt existiert, für eine gewisse Zeit die allgemeine Religion, die Religion des Menschengeschlechts ist, gegen welche die Offenbarung, so früh sie auch auftritt, dennoch nur eine partielle Erscheinung ist, beschränkt auf ein besonderes Geschlecht, und Jahrtausende lang einem schwach glimmenden Lichte vergleichbar, unfähig die ihm widerstrebende Verfinsterung zu durchbrechen. Wir haben sodann ferner dargetan, daß die Mythologie, als die unvordenkliche, insofern auch allem Denken zuvorkommende Religion des Menschengeschlechts, nur begreiflich ist aus dem natürlich Gott-Setzenden des Bewußtseins, das aus diesem Verhältnis nicht heraustreten kann, ohne einem notwendigen Prozeß anheimzufallen, durch den es in die ursprüngliche Stellung zurückgeführt wird. Als entstanden aus einem solchen Verhältnis kann die Mythologie nur die natürlich sich erzeugende Religion sein, und sollte darum auch allein die natürliche genannt werden, nicht aber sollte die rationale oder philosophische diesen Namen erhalten, wie bis jetzt darum geschehen, weil man alles, wobei keine Offenbarung mitwirkt, natürlich nannte, und der Offenbarung nur die Vernunft entgegenzusetzen wußte.

Diese Bestimmung der mythologischen als der natürlichen Religion hat hier tiefere Bedeutung als was jetzt so allgemein gesagt wird: die Mythologie sei die Naturreligion, womit die meisten nur sagen wollen: sie sei die Religion des Menschen, der sich nicht über das Geschöpf zum Schöpfer erheben könne oder die Natur vergöttert habe (Erklärungen, deren Unzulänglichkeit hinlänglich gezeigt worden); einige aber verstehen unter Naturreligion sogar nur die erste Stufe der mythologischen, die nämlich, wo, wie sie sagen, der Begriff der Religion, also Gott als der Gegenstand dieses Begriffs, noch ganz von der Natur zugedeckt, in sie versenkt sei. Was diese Erklärung betrifft, so haben wir bei Gelegenheit der notitia insita gezeigt, daß die Mythologie nicht aus der bloßen, wenn auch etwa als notwendig vorgestellten Verwirklichung eines Begriffs entstehen konnte, da sie vielmehr auf einem wirklichen, realen Verhältnis des menschlichen Wesens zu Gott beruhen muß, aus[600] welchem allein ein vom menschlichen Denken unabhängiger Prozeß entstehen kann, der infolge dieses Ursprungs ein der Menschheit natürlicher zu nennen ist. In diesem Sinn also ist uns die mythologische die natürliche Religion.

Wir könnten sie ebensowohl die wild wachsende nennen, wie der große Apostel der Heiden das Heidentum den wilden Ölbaum nennt7 das Judentum, als auf Offenbarung gegründet, den zahmen, oder einfach die wilde Religion, in dem Sinn, wie man im Deutschen das natürliche Feuer des Himmels das Wildfeuer, natürlich warme Bäder Wildbäder genannt hat.

Keine Tatsache aber ist isoliert; jede neu enthüllte läßt andere schon bekannte, aber vielleicht nicht erkannte, in einem neuen Licht erscheinen. Kein wahrer Anfang ist ohne Folge und Fortgang, die natürliche Religion zieht von selbst und schon des Gegensatzes wegen die geoffenbarte nach sich. So haben wir es auch früher bereits gefunden. Die blindentstehende Religion kann voraussetzungslos sein, die geoffenbarte, in der ein Wille, eine Absicht ist, verlangt einen Grund, und kann daher nur an der zweiten Stelle sein. Hat man die mythologische als eine von aller Vernunft unabhängige Religion anerkennen müssen, so wird man dasselbe in bezug auf die geoffenbarte zu tun um so weniger sich weigern können, als die Annahme bei dieser jedenfalls schon eine vermittelte ist; die anerkannte Realität der einen hat die Realität der andern zur Folge, oder macht sie wenigstens begreiflich. Wird die geoffenbarte als die übernatürliche erklärt, so wird sie durch das Verhältnis zur natürlichen selbst gewissermaßen natürlich, wogegen dann freilich der ganz unvermittelte Supernaturalismus nur als unnatürlich erscheinen kann.

Mit Voraussetzung der natürlichen ändert sich also die ganze Stellung der geoffenbarten Religion; sie ist nicht mehr die einzige von Vernunft und Philosophie unabhängige Religion, und nennt man die Denkart, welche kein anderes als rationales Verhältnis des Bewußtseins zu Gott begreift, Rationalismus, so steht diesem nicht zuerst die geoffenbarte, sondern die natürliche entgegen.[601]

Schon überhaupt kann in einem Ganzen zusammengehöriger Begriffe kein einzelner richtig bestimmt werden, solange einer fehlt oder nicht richtig bestimmt ist. Die geoffenbarte Religion ist in der geschichtlichen Folge erst die zweite, also bereits vermittelte Form der realen, d.h. von der Vernunft unabhängigen Religion. Diese Unabhängigkeit hat sie mit der natürlichen gemein, ihre Differenz von der philosophischen ist daher nur ihre generische, nicht wie man bisher angenommen ihre spezifische; kein Begriff aber kann nach seiner bloß generischen Differenz vollkommen bestimmt werden. Der geoffenbarten und der natürlichen ist gemein, nicht durch Wissenschaft, sondern durch einen realen Vorgang entstanden zu sein; ihr spezifischer Unterschied ist das Natürliche des Hergangs in der einen, das Übernatürliche in der andern. Dieses Übernatürliche wird aber durch seine Beziehung auf das Natürliche begreiflich. Die Hauptsache ist, daß es nicht in der bloßen Vorstellung bestehe. Nun gibt sich das Christentum selbst für Befreiung von der blinden Macht des Heidentums, und die Realität einer Befreiung wird nach der Wirklichkeit und der Macht dessen geschätzt, wovon sie befreit. Wäre das Heidentum nichts Wirkliches, so könnte auch das Christentum nichts Wirkliches sein. Umgekehrt, ist der Prozeß, dem der Mensch infolge seines Heraustretens aus dem ursprünglichen Verhältnis unterworfen worden, ist der mythologische Prozeß nicht etwas bloß Vorgestelltes, sondern etwas, das sich wirklich ereignet, so kann es auch nicht durch etwas, was bloß in der Vorstellung ist, durch eine Lehre, es kann nur durch einen wirklichen Vorgang, durch eine von menschlicher Vorstellung unabhängige, ja sie übertreffende Tat aufgehoben werden; denn dem Prozeß kann nur Tat entgegenstehen; und diese Tat wird der Inhalt des Christentums sein.

Den christlichen Theologen hat sich ihre ganze Wissenschaft fast in die sogenannte Apologetik aufgelöst, mit der sie aber noch nicht zustande gekommen, und die sie immer wieder von vorn anfangen, zum Beweis, daß sie den Punkt nicht gefunden, wo sich in unserer Zeit der Hebel mit Erfolg ansetzen ließe. Dieser Punkt kann nur in der Voraussetzung aller Offenbarung, der blind entstandenen Religion liegen. Aber auch wenn sie[602] ganz darauf verzichteten, von der kleinmütigen Defensive, auf die sie zurückgeworfen sind, wieder zur aggressiven Verteidigung überzugehen, würde die Verteidigung im Einzelnen leichter überwindliche Schwierigkeiten antreffen, wenn sie bemerken wollten, daß die Offenbarung auch ihre materiellen Voraussetzungen in der natürlichen Religion hat. Den Stoff, in dem sie sich auswirkt, schafft sie sich nicht, sie findet ihn unabhängig von sich vor. Ihre formelle Bedeutung ist, Überwindung der bloß natürlichen, unfreien Religion zu sein; aber eben darum hat sie diese in sich, wie das Aufhebende das Aufgehobene in sich hat. Für unfromm oder unchristlich wird die Behauptung dieser materiellen Identität nicht gelten können, wenn man weiß, wie entschieden ebendieselbe gerade von der rechtgläubigsten Ansicht ehemals anerkannt worden. War es verstattet, im Heidentum Entstellungen geoffenbarter Wahrheiten zu sehen, so kann es unmöglich verwehrt sein, umgekehrt in dem Christentum das zurechtgestellte Heidentum zu erblicken. Wer wüßte aber nicht außerdem, wie vieles in dem Christentum solchen, die nur von Vernunftreligion wissen wollen, als heidnisches Element erschienen ist, das nach ihrer Meinung aus dem reinen, d.h. vernunftmäßigen Christentum ausgemerzt werden sollte? Zeigte sich doch die Verwandtschaft schon in dem gemeinschaftlichen äußeren Schicksal beider, daß man beide (Mythologie und Offenbarung) durch eine ganz gleiche Unterscheidung von Form und Inhalt, von Wesentlichem und bloß zeitgemäßer Einkleidung zu rationalisieren, d.h. auf einen vernünftigen oder den meisten vernünftig scheinenden Sinn zurückzubringen suchte. Aber eben mit dem ausgestoßenen Heidnischen wäre auch alle Realität aus dem Christentum hinweggenommen. Das Letzte ist allerdings das Verhältnis zum Vater und Anbetung desselben im Geist und in der Wahrheit, in diesem Resultat verschwindet alles Heidnische, d.h. alles was nicht im Verhältnis zu Gott in seiner Wahrheit ist; aber dieses Resultat hat ohne seine Voraussetzungen selbst keine empirische Wahrheit. Wer mich siehet, siehet den Vater, sagt Christus, aber er setzt hinzu: Ich bin der Weg, und: Niemand kommt zum Vater als durch mich.

Lassen wir endlich noch einen allgemeinen Grundsatz entscheiden.[603] Dieser ist, daß wirkliche Religion von wirklicher nicht verschieden sein kann. Sind nun natürliche und geoffenbarte beide wirkliche Religion, so kann dem letzten Inhalt nach zwischen beiden keine Verschiedenheit sein; beide müssen dieselben Elemente enthalten, nur ihre Bedeutung wird eine andere sein in dieser, eine andere in jener, und da der Unterschied beider nur ist, daß die eine die natürlich, die andere die göttlich gesetzte Religion ist, so werden dieselben Prinzipien, die in jener bloß natürliche sind, in dieser die Bedeutung göttlicher annehmen. Ohne Präexistenz ist Christus nicht Christus. Er existierte als natürliche Potenz, ehe er als göttliche Persönlichkeit erschien. Er war in der Welt (en tô kosmô ên), können wir auch in dieser Beziehung von ihm sagen. Er war kosmische Potenz, wenn auch für sich selbst nicht ohne Gott, wie der Apostel zu ehemaligen Heiden sagt: ihr wart ohne Gott (ihr hattet kein unmittelbares Verhältnis zu Gott), ihr wart in der Welt (in dem was nicht Gott ist, im Reich der kosmischen Mächte)8. Denn dieselben Potenzen, in deren Einheit Gott Ist und sich offenbart – eben diese in ihrer Disjunktion und im Prozeß sind außergöttliche, bloß natürliche Mächte, in denen Gott zwar nicht überall nicht, aber doch nicht nach seiner Gottheit, also nicht nach seiner Wahrheit ist. Denn in seinem göttlichen Selbst ist er Einer und kann weder Mehrere sein noch in einen Prozeß eingehen. Es kommt die Zeit, sagt Christus in der früher schon angeführten Stelle, und ist schon jetzt, nämlich dem Anfang nach, daß die wahrhaftigen Anbeter werden den Vater anbeten im Geist und in der Wahrheit; also bis zu dieser Zeit beten auch die Juden den Vater nicht im Geiste an, der Zugang zu ihm in seiner Wahrheit wurde beiden eröffnet, denen die nah und denen die fern waren9; denen die unter dem Gesetz der Offenbarung ebensowohl als denen die unter dem bloß natürlichen Gesetz standen; woraus denn erhellt, daß auch in der Offenbarung etwas war, wodurch das Bewußtsein von dem Gott im Geist abgehalten war, und[604] daß Christus in seiner Erscheinung eben darum das Ende der Offenbarung ist, weil er dieses Gott Entfremdende hinwegnimmt.

So viel also über das Verhältnis der geoffenbarten zu der natürlichen Religion. Ist nun aber das bisher Entwickelte folgerecht entwickelt, so begreifen Sie von selbst, daß für die philosophische Religion in dieser geschichtlichen Folge keine Stelle als erst die dritte übrig bleibt. Was müßte diese sein? Wenden wir den schon ausgesprochenen Grundsatz auch auf sie an, kann wirkliche Religion von wirklicher wesentlich und dem Inhalte nach nicht verschieden sein, so könnte die philosophische wirklich Religion nur sein, wenn sie die Faktoren der wirklichen Religion, wie sie in der natürlichen und geoffenbarten Religion sind, nicht weniger als diese in sich hätte: nur in der Art, wie sie dieselben enthielte, könnte ihr Unterschied von jener liegen, und dieser Unterschied würde ferner kein anderer sein können, als daß die Prinzipien, welche in jener als unbegriffene wirken, in ihr als begriffene und verstandene wären. Die philosophische Religion, weit entfernt durch ihre Stellung zur Aufhebung der vorausgegangenen berechtigt zu sein, würde also durch eben diese Stellung die Aufgabe und durch ihren Inhalt die Mittel haben, jene von der Vernunft unabhängigen Religionen, und zwar als solche, demnach in ihrer ganzen Wahrheit und Eigentlichkeit, zu begreifen.

Und nun sehen Sie wohl: gerade eine solche philosophische Religion wäre uns nötig, um das, was wir in der Mythologie als wirklich zu erkennen uns gedrungen sehen, auch als möglich, und demnach philosophisch zu begreifen, und so zu einer Philosophie der Mythologie zu gelangen. Aber diese philosophische Religion existiert nicht, und wenn sie, wie wohl niemand in Abrede ziehen wird, nur das letzte Erzeugnis und der höchste Ausdruck der vollendeten Philosophie selbst sein könnte, so dürfen wir wohl fragen, wo die Philosophie sich finde, die imstande wäre, begreiflich zu machen, d.h. als möglich darzutun, was wir in der Mythologie, und mittelbar auch in der Offenbarung, erkannten – ein reales Verhältnis des menschlichen Bewußtseins zu Gott, während die Philosophie nur von[605] Vernunftreligion und nur von einem rationalen Verhältnis zu Gott weiß und alle religiöse Entwicklung nur als eine Entwicklung in der Idee ansieht, wohin auch Hermanns Ausspruch gehört: daß es nur philosophische Religion gebe. Wir geben diese Bemerkung über das Verhältnis unserer Ansicht zu der geltenden Philosophie zu, aber wir können in dieser keinen entscheidenden Einwand gegen die Richtigkeit unserer früheren Entwicklung oder die Wahrheit ihres Resultats erkennen. Denn wir sind bei dieser ganzen Untersuchung von keiner vorgefaßten Ansicht, am wenigsten von einer Philosophie ausgegangen, das Ergebnis ist daher ein unabhängig von aller Philosophie gefundenes und feststehendes. Wir haben die Mythologie an keinem andern Punkte aufgenommen, als an dem jeder sie findet. Nicht Philosophie war uns der Maßstab, nach dem wir die sich darbietenden Ansichten verwarfen oder annahmen. Jede Erklärungsweise, auch die von aller Philosophie entfernteste, war uns willkommen, wenn sie nur wirklich erklärte. Nur stufenweise, infolge einer für jeden offen daliegenden, rein geschichtlichen Entwicklung, erreichten wir unser Resultat, indem wir voraussetzten, es werde auch für diesen Gegenstand gelten, was Baco in bezug auf die Philosophie gezeigt hatte: durch sukzessive Ausschließung des erweislich Irrigen und Reinigung des zugrunde liegenden Wahren von dem anklebenden Falschen, werde das Wahre endlich auf einen so engen Raum eingeschlossen, daß man gewissermaßen genötigt sei, es zu erkennen und es auszusprechen. Nicht sowohl demnach eklektisch, als auf dem Wege einer fortschreitenden, alles geschichtlich Undenkbare allmählich entfernenden Kritik, sind wir zu dem Punkt gelangt, wo nur diese Ansicht der Mythologie übrig blieb, welche philosophisch zu begreifen jetzt erst unsere Aufgabe sein wird.

Aber allerdings – bei der Abhängigkeit, in welcher die meisten von ihren philosophischen Begriffen und ihrem Begreifungsvermögen überhaupt stehen, ist zu erwarten, daß viele in der ihnen geläufigen Philosophie Gründe finden, sich die ausgesprochene Ansicht nicht gefallen zu lassen. Dies berechtigt sie nicht, ihr unmittelbar zu widersprechen, denn diese Ansicht ist ja selbst bloßes Resultat; wollen sie widersprechen, so müssen[606] sie in den früheren Schlüssen etwas finden, das einen Widerspruch begründet, und auch dieses dürfte keine bloße Nebensache, irgend eine Einzelheit sein (denn wie leicht ist da, wo so vieles und Verschiedenes berührt sein will, in einem solchen zu fehlen), es müßte etwas sein, das nicht hinweggenommen werden könnte, ohne das ganze Gewebe unserer Schlüsse aufzulösen.

Unabhängig von jeder Philosophie wie unsere Ansicht der Mythologie ist, kann ihr auch nicht widersprochen weiden, weil sie sich mit irgend einer philosophischen Ansicht (wäre sie auch die fast allgemein geltende) nicht verträgt, und wenn keine vorhandene Philosophie der Erscheinung gewachsen ist, so ist es nicht die einmal dastehende und unwidersprechlich erkannte Erscheinung, die sich auf das Maß irgend einer gegebenen Philosophie müßte zurückbringen lassen, sondern umgekehrt darf die tatsächlich begründete Ansicht, deren unausbleibliche Wirkung auf einzelne philosophische Wissenschaften wir gezeigt haben, sich die Kraft zuschreiben, auch die Philosophie und das philosophische Bewußtsein selbst zu erweitern, oder zu einer Erweiterung über ihre gegenwärtigen Schränken zu bestimmen.[607]

Quelle:
Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Werke. Band 3, Leipzig 1907, S. 583-608,611.
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