Allgemeine Anmerkung zu dem ganzen System

[304] Wenn der Leser, welcher unserem Gang bis hierher aufmerksam gefolgt ist, den Zusammenhang des Ganzen nun nochmals sich überlegt, so wird er ohne Zweifel folgende Bemerkungen machen:

Daß das ganze System zwischen zwei Extreme fällt, deren eines durch die intellektuelle, das andere durch die ästhetische Anschauung bezeichnet ist. Was die intellektuelle Anschauung für den Philosophen ist, das ist die ästhetische für sein Objekt. Die erste, da sie bloß zum Behuf der besonderen Richtung des Geistes, welche er im Philosophieren nimmt, notwendig ist, kommt im gemeinen Bewußtsein überhaupt nicht vor; die andere, da sie nichts anderes als die allgemeingültig oder objektiv gewordene intellektuelle ist, kann wenigstens in jedem Bewußtsein vorkommen. Es läßt sich aber eben daraus auch einsehen, daß und warum Philosophie als Philosophie nie allgemeingültig werden kann. Das eine, welchem die absolute Objektivität gegeben ist, ist die Kunst. Nehmt, kann man sagen, der Kunst die Objektivität, so hört sie auf zu sein, was sie ist, und wird Philosophie; gebt der Philosophie die Objektivität, so hört sie auf Philosophie zu sein, und wird Kunst. – Die Philosophie erreicht zwar das Höchste, aber sie bringt bis zu diesem Punkt nur gleichsam ein Bruchstück des Menschen. Die Kunst bringt den ganzen Menschen, wie er ist, dahin, nämlich zur Erkenntnis des Höchsten, und darauf beruht der ewige Unterschied und das Wunder der Kunst.[304]

Daß ferner der ganze Zusammenhang der Transzendental-Philosophie nur auf einem fortwährenden Potenzieren der Selbstanschauung beruhe, von der ersten, einfachsten im Selbstbewußtsein, bis zur höchsten, der ästhetischen.

Folgende Potenzen sind es, welche das Objekt der Philosophie durchläuft, um das ganze Gebäude des Selbstbewußtseins hervorzubringen.

Der Akt des Selbstbewußtseins, in welchem zuerst jenes absolut Identische sich trennt, ist nichts anderes als ein Akt der Selbstanschauung überhaupt. Es kann also durch diesen Akt noch nichts Bestimmtes in das Ich gesetzt sein, da eben erst durch denselben alle Bestimmtheit überhaupt gesetzt wird. In diesem ersten Akt wird jenes Identische zuerst Subjekt und Objekt zugleich, d.h. es wird überhaupt zum Ich – nicht für sich selbst, wohl aber für die philosophierende Reflexion.

(Was das Identische abstrahiert von und gleichsam vor diesem Akt sei, kann gar nicht gefragt werden. Denn es ist das, was nur durch das Selbstbewußtsein sich offenbaren und von diesem Akt überall nicht sich trennen kann.)

Die zweite Selbstanschauung ist die, vermöge welcher das Ich jene in das Objektive seiner Tätigkeit gesetzte Bestimmtheit anschaut, welches in der Empfindung geschieht. In dieser Anschauung ist das Ich Objekt für sich selbst, da es im vorhergehenden Objekt und Subjekt nur für den Philosophen war.

In der dritten Selbstanschauung wird das Ich auch als empfindend sich zum Objekt, d.h. auch das bisher Subjektive im Ich wird zum Objektiven geschlagen; alles im Ich ist also jetzt objektiv, oder das Ich ist ganz objektiv, und als objektiv Subjekt und Objekt zugleich.

Von diesem Moment des Bewußtseins wird daher nichts anderes zurückbleiben können, als was nach entstandenem Bewußtsein als das absolut-Objektive vorgefunden wird (die Außenwelt). – In dieser Anschauung, welche schon eine potenzierte, eben deswegen produktive ist, ist außer der objektiven und subjektiven Tätigkeit, welche beide hier objektiv sind, noch die dritte, die eigentlich anschauende, oder ideelle, dieselbe, welche[305] nachher als die bewußte zum Vorschein kommt, enthalten, welche aber, da sie nur die dritte aus jenen beiden ist, auch nicht von ihnen sich trennen, noch ihnen entgegengesetzt sein kann. – In dieser Anschauung ist also schon eine bewußte Tätigkeit mit begriffen, oder das bewußtlose Objektive ist bestimmt durch eine bewußte Tätigkeit, nur daß diese nicht als solche unterschieden wird.

Die folgende Anschauung wird die sein, vermöge welcher das Ich sich selbst als produktiv anschaut. Da nun aber das Ich jetzt bloß objektiv ist, so wird auch diese Anschauung bloß objektiv, d.h. abermals bewußtlos, sein. Es ist in dieser Anschauung zwar eine ideelle Tätigkeit, welche jene anschauende, gleichfalls ideelle, in der vorhergehenden Anschauung mitbegriffene, zum Objekt hat; die anschauende Tätigkeit ist also hier eine ideelle der zweiten Potenz, d.h. eine zweckmäßige Tätigkeit, aber eine bewußtlos zweckmäßige. Was von dieser Anschauung im Bewußtsein zurückbleibt, wird also zwar als zweckmäßiges, aber nicht als zweckmäßig hervorgebrachtes Produkt erscheinen. Ein solches ist die Organisation in ihrer ganzen Ausdehnung.

Durch diese vier Stufen ist das Ich als Intelligenz vollendet. Es ist offenbar, daß bis zu diesem Punkt die Natur mit dem Ich ganz gleichen Schritt hält, daß also der Natur ohne Zweifel nur das Letzte fehlt, wodurch alle jene Anschauungen für dieselbe Bedeutung erlangen, die sie für das Ich haben. Was aber dieses Letzte sei, wird aus dem Folgenden erhellen.

Wenn das Ich fortführe bloß objektiv zu sein, so könnte sich die Selbstanschauung immerhin ins Unendliche potenzieren, aber dadurch würde doch nur die Reihe von Produkten in der Natur verlängert, nimmermehr aber das Bewußtsein entstehen. Das Bewußtsein ist bloß dadurch möglich, daß jenes bloß Objektive im Ich dem Ich selbst objektiv werde. Aber davon kann der Grund nicht im Ich selbst liegen. Denn das Ich ist mit jenem bloß Objektiven absolut identisch. Er kann also nur außer dem Ich liegen, welches durch fortwährende Begrenzung allmählich zur Intelligenz, und sogar bis zur Individualität eingeschränkt ist. Aber außer dem Individuum, d.h. unabhängig von ihm, ist nur[306] die Intelligenz selbst. Aber die Intelligenz selbst muß (nach dem abgeleiteten Mechanismus), wo sie ist, zur Individualität sich beschränken. Der gesuchte Grund außer dem Individuum kann also nur in einem andern Individuum liegen.

Das absolut Objektive kann dem Ich selbst nur durch Einwirkung anderer Vernunftwesen zum Objekt werden. Aber in diesen muß schon die Absicht jener Einwirkung gelegen haben. Also wird die Freiheit in der Natur immer schon vorausgesetzt (die Natur bringt sie nicht hervor), und wo sie nicht als Erstes schon ist, kann sie nicht entstehen. Hier wird also offenbar, daß, obgleich die Natur bis zu diesem Punkt der Intelligenz völlig gleich ist, und dieselben Potenzen mit ihr durchläuft, die Freiheit doch, wenn sie ist (daß sie aber ist, läßt sich theoretisch nicht beweisen), über der Natur (natura prior) sein muß.

Eine neue Stufenfolge von Handlungen, die durch die Natur nicht möglich sind, sondern sie hinter sich zurücklassen, beginnt also mit diesem Punkt.

Das absolut-Objektive oder die Gesetzmäßigkeit des Anschauens wird dem leb selbst zum Objekt. Aber das Anschauen wird dem Anschauenden zum Objekt nur durch das Wollen. Das Objektive im Wollen ist das Anschauen selbst, oder die reine Gesetzmäßigkeit der Natur; das Subjektive eine ideelle, auf jene Gesetzmäßigkeit an sich gerichtete Tätigkeit, der Akt, in welchem dieses geschieht, ist der absolute Willensakt.

Dem Ich wird der absolute Willensakt selbst wieder zum Objekt dadurch, daß ihm das Objektive, auf ein Äußeres Gerichtete im Wollen, als Naturtrieb, das Subjektive, auf die Gesetzmäßigkeit an sich Gerichtete, als absoluter Wille, d.h. als kategorischer Imperativ, zum Objekt wird. Aber dies ist wiederum nicht möglich ohne eine Tätigkeit, welche über beiden ist. Diese Tätigkeit ist die Willkür, oder die mit Bewußtsein freie Tätigkeit.

Wenn nun aber auch diese mit Bewußtsein freie Tätigkeit, welche im Handeln der objektiven entgegengesetzt ist, ob sie gleich mit ihr Eins werden soll, in ihrer ursprünglichen Identität mit der objektiven angeschaut wird, welches durch Freiheit schlechthin[307] unmöglich ist, so entsteht dadurch endlich die höchste Potenz der Selbstanschauung, welche, da sie selbst schon über die Bedingungen des Bewußtseins hinausliegt, und vielmehr das von vorn sich schaffende Bewußtsein selbst ist, wo sie ist, als schlechthin zufällig erscheinen muß, welches schlechthin Zufällige in der höchsten Potenz der Selbstanschauung das ist, was durch die Idee des Genies bezeichnet wird.

Dies sind die unveränderlichen und für alles Wissen feststehenden Momente in der Geschichte des Selbstbewußtseins, welche in der Erfahrung durch eine kontinuierliche Stufenfolge bezeichnet sind, die vom einfachen Stoff an bis zur Organisation (durch welche die bewußtlos produktive Natur in sich selbst zurückkehrt), und von da durch Vernunft und Willkür bis zur höchsten Vereinigung von Freiheit und Notwendigkeit in der Kunst (durch welche die mit Bewußtsein produktive Natur sich in sich schließt und vollendet) aufgezeigt und fortgeführt werden kann.[308]


Quelle:
Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Werke. Band 2, Leipzig 1907.
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