5

[135] Die systematische Art der Weltbetrachtung hat im Abendlande während des vorigen Jahrhunderts ihren Gipfel erreicht und überschritten. Die physiognomische hat ihre große Zeit noch vor sich. In hundert Jahren werden alle Wissenschaften, die auf diesem Boden noch möglich sind, Bruchstücke einer einzigen ungeheuren Physiognomik alles Menschlichen sein. Das bedeutet »Morphologie der Weltgeschichte«. In jeder Wissenschaft, dem Ziel wie dem Stoffe nach, erzählt der Mensch sich selbst. Wissenschaftliche Erfahrung ist geistige Selbsterkenntnis. Aus diesem Gesichtspunkt war soeben die Mathematik als ein Kapitel der Physiognomik behandelt worden. Nicht was der einzelne Mathematiker beabsichtigte, kam in Betracht. Der Gelehrte als solcher und seine Ergebnisse als Bestand einer Wissensmenge scheiden aus. Der Mathematiker als Mensch, dessen Wirksamkeit einen Teil seiner Erscheinung, dessen Wissen und Meinen einen Teil seines Ausdrucks bildet, ist hier allein von Bedeutung, und zwar als Organ einer Kultur. Durch ihn redet sie von sich. Er gehört als Persönlichkeit, als Geist, entdeckend, erkennend, formend zu ihrer Physiognomie.

Jede Mathematik, die als wissenschaftliches System oder, wie im Fall Ägyptens, in Gestalt einer Architektur die Idee ihrer, ihrem Wachsein eingeborenen Zahl allen sichtbar zur Erscheinung bringt, ist das Bekenntnis einer Seele. So gewiß ihre beabsichtigte Leistung nur der geschichtlichen Oberfläche angehört, so gewiß ist ihr Unbewußtes, die Zahl selbst und der Stil ihrer Entwicklung zum Gebäude[135] einer abgeschlossenen Formenwelt, ein Ausdruck des Daseins, des Blutes. Ihre Lebensgeschichte, ihr Aufblühen und Verdorren, ihre tiefe Beziehung zu den bildenden Künsten, zu Mythen und Kulten derselben Kultur, das alles gehört zu einer noch kaum für möglich gehaltenen Morphologie der zweiten, der historischen Art.

Der sichtbare Vordergrund aller Geschichte hat demnach dieselbe Bedeutung wie die äußere Erscheinung des einzelnen Menschen, wie Wuchs, Miene, Haltung, Gang, nicht die Sprache, sondern das Sprechen, nicht das Geschriebene, sondern die Schrift. Das alles ist für den Menschenkenner da. Der Leib mit all seinen Auswirkungen, das Begrenzte, Gewordne, Vergängliche ist Ausdruck der Seele. Aber Menschenkenner sein bedeutet nun auch jene menschlichen Organismen größten Stils, die ich Kulturen nenne, kennen, ihre Miene, ihre Sprache, ihre Handlungen begreifen, wie man die eines einzelnen Menschen begreift.

Beschreibende, gestaltende Physiognomik ist die ins Geistige übertragene Kunst des Porträts. Don Quijote, Werther, Julien Sorel sind die Porträts einer Epoche. Faust ist das Porträt einer ganzen Kultur. Der Naturforscher, der Morphologe als Systematiker kennt das Porträt der Welt nur als nachahmende Aufgabe. Ganz dasselbe bedeutet »Naturtreue«, »Ähnlichkeit« für den malenden Handwerker, der im Grunde rein mathematisch zu Werke geht. Ein echtes Porträt im Sinne Rembrandts ist aber Physiognomik, das heißt in einen Augenblick gebannte Geschichte. Die Reihe seiner Selbstbildnisse ist nichts anderes als eine – echt Goethesche – Selbstbiographie. So sollte die Biographie der großen Kulturen geschrieben werden. Der nachahmende Teil, die Arbeit des Fachhistorikers an Daten und Zahlen, ist nur Mittel, nicht Ziel. Zu den Zügen im Antlitz der Historie gehört alles, was man bis jetzt nur nach persönlichen Maßstäben, nach Nutzen und Schaden, Gut und Böse, Gefallen und Mißfallen zu werten verstanden hat. Staatsformen wie Wirtschaftsformen, Schlachten wie Künste, Wissenschaften wie Götter, Mathematik wie Moral. Alles, was überhaupt geworden ist, alles, was erscheint, ist Symbol, ist Ausdruck einer Seele. Es will mit dem Auge des Menschenkenners betrachtet, es will nicht in Gesetze gebracht, es[136] will in seiner Bedeutung gefühlt werden. Und so erhebt sich die Untersuchung zu einer letzten und höchsten Gewißheit: Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis.

Zur Naturerkenntnis kann man erzogen werden, der Geschichtskenner wird geboren. Er begreift und durchdringt die Menschen und Tatsachen mit einem Schlage, aus einem Gefühl heraus, das man nicht lernt, das jeder absichtlichen Einwirkung entzogen ist, das in seiner höchsten Kraft sich selten genug einstellt. Zerlegen, definieren, ordnen, nach Ursache und Wirkung abgrenzen kann man, wenn man will. Das ist eine Arbeit; das andre ist eine Schöpfung. Gestalt und Gesetz, Gleichnis und Begriff, Symbol und Formel haben ein ganz verschiedenes Organ. Es ist das Verhältnis von Leben und Tod, von Zeugen und Zerstören, das in diesem Gegensatz erscheint. Der Verstand, das System, der Begriff töten, indem sie »erkennen«. Sie machen das Erkannte zum starren Gegenstand, der sich messen und teilen läßt. Das Anschauen beseelt. Es verleibt das Einzelne einer lebendigen, innerlich gefühlten Einheit ein. Dichten und Geschichtsforschung sind verwandt, Rechnen und Erkennen sind es auch. Aber – wie Hebbel einmal sagt: »Systeme werden nicht erträumt, Kunstwerke nicht errechnet oder, was dasselbe ist, erdacht«. Der Künstler, der echte Historiker schaut, wie etwas wird. Er erlebt das Werden in den Zügen des Betrachteten noch einmal. Der Systematiker, sei er Physiker, Logiker, Darwinist oder schreibe er pragmatische Geschichte, erfährt, was geworden ist. Die Seele eines Künstlers ist wie die Seele einer Kultur etwas, das sich verwirklichen möchte, etwas Vollständiges und Vollkommenes, in der Sprache einer älteren Philosophie: ein Mikrokosmos. Der systematische, vom Sinnlichen abgezogene – »abstrakte« – Geist ist eine späte, enge und vorübergehende Erscheinung und gehört zu den reifsten Zuständen einer Kultur. Er ist an die Städte gebunden, in denen sich ihr Leben mehr und mehr zusammendrängt, er erscheint und er verschwindet wieder mit ihnen. Antike Wissenschaft gibt es nur von den Ioniern des 6. Jahrhunderts an bis zur Römerzeit. Antike Künstler gibt es, solange es eine Antike gibt. Ein Schema möge wieder zur Verdeutlichung dienen:[137]


5.

Versucht man, sich über das Prinzip der Einheit klar zu werden, aus welcher jede der beiden Welten aufgefaßt wird, so findet man, daß mathematisch geregelte Erkenntnis, und zwar desto entschiedener, je reiner sie ist, sich durchaus auf ein beständig Gegenwärtiges bezieht. Das Bild der Natur, wie es der Physiker betrachtet, ist das augenblicklich vor seinen Sinnen sich entfaltende. Zu den meist verschwiegenen, aber um so festeren Voraussetzungen aller Naturforschung gehört die, daß »die« Natur für jedes Wachsein und zu allen Zeiten dieselbe sei. Ein Experiment entscheidet für immer. Die Zeit wird nicht verneint, aber es wird innerhalb dieser Einstellung von ihr abgesehen. Wirkliche Geschichte aber beruht auf dem ebenso gewissen Gefühl vom Gegenteil. Geschichte setzt als ihr Organ eine schwer zu beschreibende Art von innerer Sinnlichkeit voraus, deren Eindrücke in unendlicher Wandlung begriffen sind, mithin in einem Zeitpunkte gar nicht zusammengefaßt werden können. (Von der vermeintlichen »Zeit« der Physiker wird später die Rede sein.) Das Bild der Geschichte – sei es die der Menschheit, der Organismenwelt, der Erde, der Fixsternsysteme – ist ein Gedächtnisbild. Gedächtnis wird hier als ein höherer Zustand aufgefaßt, der durchaus nicht jedem Wachsein eigen und manchem nur in geringem Grade verliehen ist, eine ganz bestimmte Art von Einbildungskraft, die den einzelnen Augenblick sub specie aeternitatis, in steter Beziehung auf alles Vergangene und Zukünftige durchlebt werden läßt; es ist die[138] Voraussetzung jeder Art von zurückgewandter Beschaulichkeit, von Selbsterkenntnis und Selbstbekenntnis. In diesem Sinne besitzt der antike Mensch kein Gedächtnis, mithin keine Geschichte, weder in sich noch um sich. »Über Geschichte kann niemand urteilen, als wer an sich selbst Geschichte erlebt hat« (Goethe). Im antiken Weltbewußtsein wird alles Vergangene im Augenblicklichen aufgesaugt. Man vergleiche die äußerst »historischen« Köpfe der Naumburger Domskulpturen, Dürers, Rembrandts mit denen hellenistischer Bildnisse, etwa der bekannten Sophoklesstatue. Die einen erzählen die ganze Geschichte einer Seele, die Züge der andern beschränken sich streng auf den Ausdruck eines augenblicklichen Seins. Sie schweigen von allem, was im Lauf eines Lebens zu diesem Sein geführt hat – wenn davon bei einem echt antiken Menschen, der immer fertig, nie ein Werdender ist, überhaupt die Rede sein kann.

Quelle:
Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. München 1963, S. 135-139.
Lizenz:
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Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte
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Der Untergang des Abendlandes, II.

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