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[285] Der Begriff der Form erfährt hier eine mächtige Erweiterung. Nicht nur das technische Werkzeug, nicht nur die Formensprache, die Wahl der Kunstgattung selbst ist ein Mittel des Ausdrucks. Was für den einzelnen Künstler die Schöpfung eines Hauptwerkes, für Rembrandt die »Nachtwache«, für Wagner die »Meistersinger« bedeuten, eine Epoche nämlich, das bedeutet für die Lebensgeschichte einer Kultur die Schöpfung einer Kunstart, als Ganzes begriffen. Jede dieser Künste ist ein Organismus für sich, ohne Vorgänger und Nachfolger, wenn man vom Äußerlichsten absieht. Alle Theorie, Technik, Konvention gehört zu ihrem Charakter und besitzt nichts Ewiges und Allgemeingültiges. Wann eine dieser Künste beginnt, wann sie erlischt, ob sie erlischt, ob sie in eine andre verwandelt wird, warum die eine oder andre unter den Künsten einer Kultur fehlt oder vorherrscht, das alles gehört noch mit zur Form im höchsten Sinne, ebenso wie jene andre Frage, warum der einzelne Maler oder Musiker – ohne sich dessen bewußt zu sein – auf bestimmte Farbentöne und Harmonien Verzicht leistet und andre so bevorzugt, daß man ihn daran erkennt.

Die Theorie, auch noch die der Gegenwart, hat die Bedeutung dieser Gruppe von Fragen nicht erkannt. Und trotzdem gibt erst diese Seite einer Physiognomik der Künste den Schlüssel zu ihrem Verständnis. Man hat bis jetzt alle Künste – unter Voraussetzung der erwähnten »Einteilung« – ohne irgendwelche Nachprüfung dieser schwerwiegenden Frage für möglich gehalten, immer und überall, und wo die eine oder andre fehlte, schrieb man es dem zufälligen Mangel an schöpferischen Persönlichkeiten oder an Forderung durch Umstände und Mäcene zu, die geeignet waren, »die Kunst« »auf ihrem Wege weiter zu führen«. Das ist es, was ich die Übertragung des Kausalitätsprinzips aus der Welt des Gewordnen auf die Welt des Werdens nannte. Weil man kein Auge für die ganz andersartige Logik und Notwendigkeit des Lebendigen, für das Schicksal und das nicht zu Vermeidende und nie zu Wiederholende seiner Ausdrucksmöglichkeiten hatte, zog man handgreifliche, an der Oberfläche[286] liegende Ursachen heran, um eine oberflächliche Folge von kunsthistorischen Ereignissen zu konstruieren.

Es war gleich zu Anfang auf die flache Vorstellung einer linienhaften Fortentwicklung »der Menschheit« durch Altertum, Mittelalter und Neuzeit hingewiesen worden, die uns für das wahre Bild der Geschichte hoher Kulturen und seine Struktur blind gemacht hat. Die Kunstgeschichte ist ein besonders deutliches Beispiel. Nachdem man das Vorhandensein einer Anzahl konstanter und wohldefinierter Kunstgebiete als selbstverständlich angenommen hatte, entwarf man die Geschichte dieser Einzelgebiete nach dem ebenso selbstverständlichen Schema Altertum – Mittelalter – Neuzeit, wobei denn die indische und ostasiatische Kunst, die Kunst von Axum und Saba, die Kunst der Sassaniden und Rußlands keinen Platz fanden und als Anhang oder gar nicht behandelt wurden, ohne daß jemandem an dieser Folge die Sinnlosigkeit der Methode aufgegangen wäre: dieses Schema wollte und mußte nun mit Tatsachen um jeden Preis ausgefüllt sein. Man verfolgte unbedenklich ein sinnloses Auf und Nieder. Man sprach von Zeiten des Stillstandes als »natürlichen Pausen«, von »Zeiten des Niedergangs« dort, wo in Wirklichkeit eine große Kunst starb, von »Zeiten der Wiedergeburt«, wo für den unbefangenen Blick ganz deutlich eine andre Kunst in einer andern Landschaft und als Ausdruck eines andern Menschentums geboren wurde. Man lehrt noch heute, daß die Renaissance eine Wiedergeburt der Antike gewesen sei. Man folgert endlich daraus die Möglichkeit und das Recht, Künste, die man schwach oder schon tot findet – die Gegenwart ist da ein wahres Schlachtfeld – durch bewußte Neubildungen, Programme oder gewaltsame »Wiederbelebeungen« aufs neue in Gang zu bringen.

Aber gerade die Frage, weshalb eine große Kunst – das attische Drama mit Euripides, die florentinische Plastik mit Michelangelo, die Instrumentalmusik mit Liszt, Wagner und Bruckner – mit einer als Symbol wirkenden Plötzlichkeit zu enden pflegt, ist geeignet, das Organische dieser Künste zu erleuchten. Man sehe genau zu und man wird sich überzeugen, daß von der »Wiedergeburt« auch nur einer bedeutenden Kunst noch nie die Rede gewesen ist.[287]

Vom Pyramidenstil ist nichts in den dorischen übergegangen. Den antiken Tempel verbindet nichts mit morgenländischen Basiliken, denn die Herübernahme der antiken Säule als Bauglied – für den oberflächlichen Blick das Wichtigste – wiegt nicht schwerer als Goethes Verwendung der antiken Mythologie in seiner klassischen Walpurgisnacht. An die Wiedergeburt irgendeiner antiken Kunst im Abendlande des 15. Jahrhunderts zu glauben, ist eine Einbildung seltsamer Art. Und die antike Spätzeit selbst verzichtete auf eine Musik großen Stils, deren Möglichkeiten in dorischer Frühzeit wohl vorhanden waren: das lehrt die Bedeutung des altertümlichen Sparta – Terpander, Thaletas, Alkman wirkten dort, als anderswo die Statuenkunst entstand – für das, was späterhin noch an Musik hervortrat. Ganz ebenso schwindet vor der Arabeske endlich alles hin, was die magische Kultur am Anfang im frontalen Bildnis, im Tiefenrelief und Mosaik versucht hatte, und vor der venezianischen Ölmalerei und der Instrumentalmusik des Barock, was an Plastik im Schatten gotischer Kathedralen zu Chartres, Reims, Bamberg, Naumburg und endlich im Nürnberg Peter Vischers und im Florenz Verrocchios entstanden war.

Quelle:
Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. München 1963, S. 285-288.
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