3. Der täuschende Friede 1871/1914

[33] Was die augenblickliche Weltlage betrifft, so sind wir alle in Gefahr, sie falsch zu sehen. Seit dem Amerikanischen Bürgerkrieg (1865), dem Deutsch-Französischen Krieg (1870) und der Viktorianischen Zeit hat sich bis 1914 ein so unwahrscheinlicher Zustand von Ruhe, Sicherheit, friedlichem und sorglos fortschreitendem Dasein über die weißen Völker verbreitet, daß man in allen Jahrhunderten vergebens nach etwas Ähnlichem sucht. Wer das erlebt hat oder von anderen davon hört, erliegt immer wieder der Neigung, es für normal zu halten, die wüste Gegenwart als Störung dieses natürlichen Zustandes aufzufassen und zu wünschen, daß es »endlich einmal wieder aufwärts« gehe. Nun, das wird nicht der Fall sein. Dergleichen wird nie wiederkommen. Man kennt die Gründe nicht, die diesen auf die Länge unmöglichen Zustand herbeigeführt haben: die Tatsache, daß die stehenden und immer wachsenden Heere einen Krieg so unberechenbar machten, daß kein Staatsmann mehr einen zu führen wagte; die Tatsache, daß die technische Wirtschaft sich in einer fieberhaften Bewegung befand, die ein rasches Ende nehmen mußte, weil sie sich auf rasch hinschwindende Bedingungen stützte; und endlich die Tatsache, daß durch beides die schweren ungelösten Probleme der Zeit immer weiter auf- und den Söhnen und Enkeln zugeschoben wurden, als üble Erbschaft kommender Geschlechter, bis man nicht mehr an ihr Vorhandensein glaubte, obwohl sie in ständig wachsender Spannung aus der Zukunft herüberdrohten.

Einen langen Krieg ertragen wenige, ohne seelisch zu verderben; einen langen Frieden erträgt niemand. Diese Friedenszeit von 1870 bis 1914 und die Erinnerung an sie hat alle weißen Menschen satt, begehrlich, urteilslos und unfähig gemacht, Unglück zu ertragen: die Folge sehen wir in den utopischen Vorstellungen und Forderungen, mit[33] denen heute jeder Demagoge auftritt, Forderungen an die Zeit, die Staaten, die Parteien, vor allem »die anderen«, ohne an die Grenzen des Möglichen, an Pflichten, Leistungen und Entsagung auch nur zu erinnern.

Dieser allzu lange Friede über dem vor wachsender Erregung zitternden Boden ist eine furchtbare Erbschaft. Kein Staatsmann, keine Partei, kaum ein politischer Denker steht heute sicher genug, um die Wahrheit zu sagen. Sie lügen alle, sie stimmen alle in den Chorus der verwöhnten und unwissenden Menge ein, die es morgen so und noch besser haben will wie einst, obwohl die Staatsmänner und Wirtschaftsführer die furchtbare Wirklichkeit besser kennen sollten. Aber was für Führer haben wir heute in der Welt! Dieser feige und unehrliche Optimismus kündet jeden Monat einmal die »wiederkehrende« Konjunktur und prosperity an, sobald ein paar Haussespekulanten die Kurse flüchtig steigen lassen; das Ende der Arbeitslosigkeit, sobald irgendwo 100 Mann eingestellt werden, und vor allem die erreichte »Verständigung« der Völker, sobald der Völkerbund, dieser Schwärm von Sommerfrischlern, die am Genfer See schmarotzen, irgendeinen Entschluß faßt. Und in allen Versammlungen und Zeitungen hallt das Wort Krise wider als der Ausdruck für eine vorübergehende Störung des Behagens, mit dem man sich über die Tatsache belügt, daß es sich um eine Katastrophe von unabsehbaren Ausmaßen handelt, die normale Form, in der sich die großen Wendungen der Geschichte vollziehen.

Denn wir leben in einer gewaltigen Zeit. Es ist die größte, welche die Kultur des Abendlandes je erlebt hat und erleben wird, dieselbe, welche die Antike von Cannä bis Aktium erlebt hat, dieselbe, aus der die Namen Hannibal, Scipio, Gracchus, Marius, Sulla, Cäsar herüberleuchten. Der Weltkrieg war für uns nur der erste Blitz und Donner aus der Gewitterwolke, die schicksalsschwer über dieses Jahrhundert dahinzieht. Die Form der Welt wird heute aus dem Grunde umgeschaffen wie damals durch das beginnende[34] Imperium Romanum, ohne daß das Wollen und Wünschen »der meisten« beachtet und ohne daß die Opfer gezählt werden, die jede solche Entscheidung fordert. Aber wer versteht das? Wer erträgt das? Wer empfindet es als Glück, dabei zu sein? Die Zeit ist gewaltig, aber um so kleiner sind die Menschen. Sie ertragen keine Tragödie mehr, weder auf der Bühne noch in Wirklichkeit. Sie wollen das happy end flacher Unterhaltungsromane, kümmerlich und müde wie sie sind. Aber das Schicksal, das sie in diese Jahrzehnte hineingeworfen hat, packt sie beim Kragen und tut mit ihnen, was getan werden muß, ob sie nun wollen oder nicht. Die feige Sicherheit vom Ausgang des vorigen Jahrhunderts ist zu Ende. Das Leben in Gefahr, das eigentliche Leben der Geschichte, tritt wieder in sein Recht. Alles ist ins Gleiten gekommen. Jetzt zählt nur der Mensch, der etwas wagt, der den Mut hat, die Dinge zu sehen und zu nehmen, wie sie sind. Die Zeit kommt – nein, sie ist schon da! –, die keinen Raum mehr hat für zarte Seelen und schwächliche Ideale. Das uralte Barbarentum, das jahrhundertelang unter der Formenstrenge einer hohen Kultur verborgen und gefesselt lag, wacht wieder auf, jetzt wo die Kultur vollendet ist und die Zivilisation begonnen hat, jene kriegerische gesunde Freude an der eigenen Kraft, welche das mit Literatur gesättigte Zeitalter des rationalistischen Denkens verachtet, jener ungebrochene Instinkt der Rasse, der anders leben will als unter dem Druck der gelesenen Büchermasse und Bücherideale. Im westeuropäischen Volkstum lebt noch genug davon, auch in den amerikanischen Prärien und darüber hinaus in der großen nordasiatischen Ebene, wo die Welteroberer wachsen.

Ist das »Pessimismus«? Wer es so empfindet, hat also die fromme Lüge oder den Schleier der Ideale und Utopien nötig, um vor dem Anblick der Wirklichkeit geschützt, von ihm erlöst zu sein? Es ist möglich, daß das die Mehrzahl der weißen Menschen tut, sicherlich in diesem Jahrhundert, ob aber auch in den folgenden? Ihre Vorfahren in der Zeit der Völkerwanderung und der Kreuzzüge waren anders. Sie verachteten[35] das als Feigheit. Aus dieser Feigheit vor dem Leben sind in der indischen Kultur auf gleicher Zeitstufe der Buddhismus und die verwandten Richtungen entstanden, die unter uns beginnen Mode zu werden. Es ist wohl möglich, daß hier eine Spätreligion des Abendlandes in Bildung begriffen ist, vielleicht in christlicher Verkleidung, vielleicht nicht, wer kann das wissen? Die religiöse »Erneuerung«, welche den Rationalismus als Weltanschauung ablöst, enthält vor allem doch die Möglichkeit der Entstehung neuer Religionen. Die müden, feigen, vergreisten Seelen wollen sich aus dieser Zeit in irgend etwas flüchten, das sie durch Wunderlichkeiten der Lehren und Bräuche besser in Vergessenheit wiegt, als es offenbar die christlichen Kirchen vermögen. Das credo quia absurdum ist wieder obenauf. Aber die Tiefe des Weltleidens, ein Gefühl, das so alt ist wie das Grübeln über die Welt selbst, die Klage über die Absurdität der Geschichte und die Grausamkeit des Lebens stammt nicht aus den Dingen, sondern aus dem kranken Denken über sie. Es ist das vernichtende Urteil über den Wert und die Kraft der eigenen Seele. Ein tiefer Weltblick ist nicht notwendig mit Tränen gesättigt.

Es gibt ein nordisches Weltgefühl – von England bis nach Japan hin – voll Freude gerade an der Schwere des menschlichen Schicksals. Man fordert es heraus, um es zu besiegen. Man geht stolz zugrunde, wenn es sich stärker erweist als der eigene Wille. So war die Anschauung in den alten echten Stücken des Mahabharata, die vom Kampf zwischen den Kurus und Pandus berichten, bei Homer, Pindar und Aischylos, in der germanischen Heldendichtung und bei Shakespeare, in manchen Liedern des chinesischen Schuking und im Kreise der japanischen Samurai. Es ist die tragische Auflassung des Lebens, die heute nicht ausgestorben ist, die in Zukunft eine neue Blüte erleben wird und sie im Weltkrieg schon erlebt hat. Deshalb sind alle ganz großen Dichter aller nordischen Kulturen Tragiker gewesen und die Tragödie über Ballade und Epos hinaus war die[36] tiefste Form dieses tapferen Pessimismus. Wer keine Tragödie er leben, keine ertragen kann, kann auch keine Gestalt von Weltwirkung sein. Wer Geschichte nicht erlebt, wie sie wirklich ist, nämlich tragisch, vom Schicksal durchweht, vor dem Auge der Nützlichkeitsanbeter also ohne Sinn, Ziel und Moral, der ist auch nicht imstande, Geschichte zu machen. Hier scheidet sich das überlegene und das unterlegene Ethos des menschlichen Seins. Das Leben des einzelnen ist niemand wichtig als ihm selbst: ob er es aus der Geschichte flüchten oder für sie opfern will, darauf kommt es an. Die Geschichte hat mit menschlicher Logik nichts zu tun. Ein Gewitter, ein Erdbeben, ein Lavastrom, die wahllos Leben vernichten, sind den planlos elementaren Ereignissen der Weltgeschichte verwandt. Und wenn auch Völker zugrunde gehen und alte Städte altgewordener Kulturen brennen oder in Trümmer sinken, deshalb kreist doch die Erde ruhig weiter um die Sonne und die Sterne ziehen ihre Bahn.

Der Mensch ist ein Raubtier. Ich werde es immer wieder sagen. All die Tugendbolde und Sozialethiker, die darüber hinaus sein oder gelangen wollen, sind nur Raubtiere mit ausgebrochenen Zähnen, die andere wegen der Angriffe hassen, die sie selbst weislich vermeiden. Seht sie doch an: sie sind zu schwach, um ein Buch über Kriege zu lesen, aber sie laufen auf der Straße zusammen, wenn ein Unglück geschehen ist, um ihre Nerven an dem Blut und Geschrei zu erregen, und wenn sie auch das nicht mehr wagen können, dann genießen sie es im Film und in illustrierten Blättern. Wenn ich den Menschen ein Raubtier nenne, wen habe ich damit beleidigt, den Menschen – oder das Tier? Denn die großen Raubtiere sind edle Geschöpfe in vollkommenster Art und ohne die Verlogenheit menschlicher Moral aus Schwäche.

Sie schreien: Nie wieder Krieg! – aber sie wollen den Klassenkampf. Sie sind entrüstet, wenn ein Lustmörder hingerichtet wird, aber sie genießen es heimlich, wenn sie den[37] Mord an einem politischen Gegner erfahren. Was haben sie je gegen die Schlächtereien der Bolschewisten einzuwenden gehabt? Nein, der Kampf ist die Urtatsache des Lebens, ist das Leben selbst, und es gelingt auch dem jämmerlichsten Pazifisten nicht, die Lust daran in seiner Seele ganz auszurotten. Zum mindesten theoretisch möchte er alle Gegner des Pazifismus bekämpfen und vernichten.

Je tiefer wir in den Cäsarismus der faustischen Welt hineinschreiten, desto klarer wird sich entscheiden, wer ethisch zum Subjekt und wer zum Objekt des historischen Geschehens bestimmt ist. Der triste Zug der Weltverbesserer, der seit Rousseau durch diese Jahrhunderte trottete und als einziges Denkmal seines Daseins Berge bedruckten Papiers auf dem Wege zurückließ, ist zu Ende. Die Cäsaren werden an ihre Stelle treten. Die große Politik als die Kunst des Möglichen fern von allen Systemen und Theorien, als die Meisterschaft, mit den Tatsachen als Kenner zu schalten, die Welt wie ein guter Reiter durch den Schenkeldruck zu regieren, tritt wieder in ihre ewigen Rechte.

Deshalb will ich hier nichts tun als zeigen, in welcher geschichtlichen Lage sich Deutschland und die Welt befinden, wie diese Lage aus der Geschichte vergangener Jahrhunderte mit Notwendigkeit hervorgeht, um unausweichlich auf gewisse Formen und Lösungen zuzuschreiten. Das ist Schicksal. Man kann es verneinen, aber damit verneint man sich selbst.[38]

Quelle:
Oswald Spengler: Jahre der Entscheidung. München 1961, S. 33-39.
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