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[5] Die Geschichte kennt kein Volk, dessen Weg tragischer gestaltet wäre. In den großen Krisen kämpften alle andern um Sieg oder Verlust; wir haben immer um Sieg oder Vernichtung gekämpft: von Kolin und Hochkirch über Jena und die Freiheitskriege, wo noch auf französischem Boden versucht wurde, durch eine Aufteilung Preußens die Verständigung zwischen dessen Verbündeten und Napoleon zu erreichen, über jene verzweifelte Stunde von Nikolsburg, in der Bismarck an Selbstmord dachte, und Sedan, das die Kriegserklärung Italiens und damit eine allgemeine Offensive der Grenzmächte eben noch abwandte, bis zu dem Gewitter furchtbarer Kriege über den ganzen Planeten hin, dessen erste Schläge eben verhallt sind. Nur der Staat Friedrichs des Großen und Bismarcks durfte es wagen, an Widerstand überhaupt zu denken.

In all diesen Katastrophen haben Deutsche gegen Deutsche gestanden. Es gehört nur der Oberfläche der Geschichte an, daß es oft Stamm gegen Stamm oder Fürst gegen Fürst war; in der Tiefe ruhte jener Zwiespalt, den jede deutsche Seele birgt und der schon in gotischer Zeit, in den Gestalten Barbarossas und Heinrichs des Löwen zur Zeit von Legnano groß[5] und düster hervortrat. Wer hat das verstanden? Und wer durchschaut jene Wiederkehr des Herzogs Widukind in Luther? Welcher dunkle Drang ließ all jene Deutschen für Napoleon kämpfen und fühlen, als er mit französischem Blute die englische Idee über den Kontinent trug? Was verbindet in der tiefsten Tiefe das Rätsel von Legnano mit dem von Leipzig? Weshalb empfand Napoleon die Vernichtung der kleinen friderizianischen Welt als seine ernsteste Aufgabe – und im Grunde seines Geistes als eine unlösbare?

Der Weltkrieg ist, am Abend der westlichen Kultur, die große Auseinandersetzung zwischen den beiden germanischen Ideen, Ideen, die wie alle echten nicht gesprochen, sondern gelebt wurden. Er trug seit seinem wirklichen Ausbruch, dem Vorpostengefecht auf dem Balkan 1912, zunächst die äußere Form des Kampfes zweier Großmächte, von denen die eine beinahe niemand, die andre alle auf ihrer Seite hatte. Er endete zunächst im Stadium der Schützengräben und verrottenden Millionenheere. Aber schon in diesem wurde eine neue Formel des ungemilderten Gegensatzes gefunden, die augenblicklich mit den Schlagworten Sozialismus und Kapitalismus in einem sehr flachen Sinne und mit der vom vorigen Jahrhundert ererbten Überschätzung rein wirtschaftlicher Einzelheiten bezeichnet wird. Hinter ihnen tritt die letzte große Seelenfrage des faustischen Menschen zutage.

In diesem Augenblick tauchte, den Deutschen selbst nicht bewußt, das napoleonische Rätsel wieder auf. Gegen dieses Meisterstück von Staat, unsre echteste und eigenste Schöpfung, so eigen, daß kein anderes Volk es zu verstehen und nachzuahmen vermochte, daß man es haßte wie alles Dämonisch-Unergründliche, rannte das englische Heer Deutschland an.

Quelle:
Oswald Spengler: Politische Schriften. München 1933, S. 5-6.
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