§ 27. Erklärung der Gebärden und des Äußeren.

[269] Es hieß oben: »Daß sie Liebe empfinde, merke er an ihren Gebärden und ihrem Äußern.« Jetzt wird deren Erklärung, deutliche Beschreibung gegeben. So sagt (der Verfasser):


[269] Die Gebärden und das Äußere wollen wir jetzt behandeln.


Hier ist »Gebärde« ein Verändern des Benehmens und »Äußeres« die Liebe in Mund und Augen. Dies Beides ist weiter unten nach den Umständen zu beachten.


Auge in Auge sieht sie ihn aber nicht an. Wenn er sie ansieht, zeigt sie Verlegenheit, Ihren prächtigen Körper enthüllt sie ihm unter einem Vorwande. Sie betrachtet den Liebhaber, wenn er andere Gedanken hat, versteckt ist und vorübergegangen ist. Nach etwas gefragt antwortet sie lächelnd, mit undeutlichen Lauten und unsicherem Sinne, ganz langsam und das Antlitz geneigt. Sie liebt langes Verweilen in seiner Nähe. In der Ferne stehend redet sie in der Meinung, daß er sie sehen könne, die Umgebung an unter Veränderungen des Gesichts; diese Stelle verläßt sie nicht; irgend etwas erblickend stößt sie ein Lachen aus; dort beginnt sie eine Erzählung, um verweilen zu können; sie umarmt und küßt ein auf ihrem Schoße sitzendes Kind; sie malt einer Dienerin ein Stirnzeichen; auf ihre Umgebung gestützt zeigt sie diese und jene Scherze; sie vertraut seinen Freunden; ihre Worte hält sie hoch und befolgt sie; mit seinen Dienern hält sie Freundschaft, unterhält sich und spielt mit ihnen; sie beauftragt sie mit ihren Geschäften, als wäre sie die Herrin; wenn sie zu einem andern von dem Liebhaber erzählen, hört sie aufmerksam zu; von der Milchschwester angetrieben betritt sie die Behausung des Liebhabers; sie dazwischen stellend verlangt sie mit ihm zu spielen, zu scherzen und zu sprechen; sie vermeidet, ungeschmückt gesehen zu werden; um den Ohrschmuck, einen Ring oder Kranz von ihm gebeten nimmt sie es beherzt von dem Gliede ab und legt es in die Hand der Freundin; was er ihr gegeben hat, behält sie stets; bei der Erwähnung anderer Freier ist sie bestürzt und mit deren Anhang verkehrt sie nicht.


»Auge in Auge sieht sie ihn nicht an«, aus Scham: mit abgewendetem Antlitz. »Jenen aber«, den Liebhaber. – »Wenn er sie ansieht«, der Liebhaber, »zeigt sie Verlegenheit«, indem sie das Gesicht senkt. – »Prächtig«, außerordentlich herzerfreuend. »Ihren Körper«, Brüste, Achseln usw. – »Unter einem Vorwande«, unter dem Vorwande, sie verhüllen zu wollen. Wenn »er andere Gedanken hat«, nicht aufpaßt; »versteckt[270] ist«, in der Einsamkeit weilt »und vorübergegangen ist«, sich entfernt hat. – »Nach etwas gefragt«, von dem Liebhaber. Durch die Worte »lächelnd« usw. wird das Verlangen nach Zuneigung und die Verlegenheit angedeutet. – »In seiner Nähe«, in der Nähe des Liebhabers. – »Die Umgebung«, die eigne. – »Unter Veränderung des Gesichtes«: unter Brauenrunzeln und Seitenblicken. – »Diese Stelle«, von wo aus sie ihn sehen kann. Dort »irgend etwas erblickend«, bricht sie in Lachen aus, indem sie schräg blickt. – »Dort beginnt sie eine Erzählung«, indem sie eine Freundin auffordert. – »Ein Kind«, einen Knaben, den sie auf ihren Schoß gesetzt hat. – Diese Küsse und Umarmungen sind »übertragene«. – »Sie malt einer Dienerin«, der eignen, »ein Stirnzeichen«, wobei sie den Liebhaber anblickt. – »Auf ihre Umgebung gestützt«, auf dem Schöße der Begleiterinnen sitzend. »Diese und jene«, Ordnen des Haares, Gestikulationen, Gähnen usw. – »Seinen Freunden«, den Freunden des Liebhabers. »Sie vertraut«, offenbart ihnen ihr Wesen. »Ihre Worte« behandelt sie mit Hochachtung, indem sie dementsprechend handelt. – »Mit seinen Dienern«, den Dienern des Liebhabers. – »Sie«, die Diener des Liebhabers. – »Wenn sie«, die Diener, »zu einem andern erzählen«. – »Darauf«, auf diese Erzählung. – »Von der Milchschwester angetrieben«, hinzugehen. – »Die Behausung«, das Haus. – »Sie dazwischen stellend«, die Milchschwester vorschiebend, »verlangt sie«, mit dem Liebhaber Spiele usw. zu spielen. »Gesehen zu werden«, von dem Liebhaber. – »Sie nimmt es beherzt ab« mit dem Gedanken: ›Wird er es wohl annehmen?‹ – »In die Hand der Freundin«: aus Scham gibt sie es ihm nicht [direkt] in die Hand. – »Sie behält stets«, aus Pietät. – »Mit deren Anhang«, mit dem Anhange der anderen Freier.

Die beiden Paragraphen zusammenfassend sagt (der Verfasser):


Es gibt hier zwei Verse:

Wenn man diese von Liebe erfüllten Gebärden und dieses Äußere gesehen hat, so erwäge man um der Vereinigung mit dem Mädchen willen diese und jene Mittel.


»Diese«: unter Veränderung des Geschlechtes muß man es mit »Gebärden« und »Äußere« verbinden. – »Von Liebe erfüllt«,[271] von Zuneigung begleitet. – »Um der Vereinigung willen«: unter der Vereinigung ist hier der Gandharvenritus, gekennzeichnet durch das Zusammengehen, zu verstehen. – »Mittel«, Umwerbungen.

Von dreierlei Art ist das Mädchen: Kind, Mädchen und Erwachsene. (Der Verfasser) gibt nun der Reihe nach die Art des Umwerbens an:


Durch kindliche Spiele ist das Kind zu gewinnen, durch die Künste die im Jugendalter Stehende; und die Zärtliche vermittelst des Gewinnens von Vertrauten.


»Durch die Künste« die Liebliche. – »Die Zärtliche«, die Erwachsene. Diese ist zu gewinnen durch das Geneigtmachen derjenigen Leute, die ihr Vertrauen genießen.

Quelle:
Das Kāmasūtram des Vātsyāyana. Berlin 71922, S. 269-272.
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