§ 44. Die Annäherungen.

[342] Nachdem er ihre Bekanntschaft gemacht und ihre Gebärden und ihr Äußeres erkannt hat, umwerbe er sie wie ein Mädchen auf listige Weise. Gewöhnlich sind dabei die Werbungen zarter Natur, da die Mädchen die geschlechtliche Vereinigung noch nicht kennen; bei den anderen wende man sie dreist an, da sie den Liebesgenuß schon kennen. Wenn man ihr Äußeres durchschaut hat und ihre liebevolle Gesinnung ans Licht gekommen ist, genieße man ihre Genußmittel unter dem Austausche derselben: Hierbei eigne man sich ein wertvolles Parfüm, ein Obergewand, eine Blume oder einen Ring an. Wenn sie aus seiner Hand Betel empfängt, während er sich anschickt, mit ihr in Gesellschaft zu gehen, bitte er um eine[342] Blume aus ihrem Haarschopfe. Hierbei gebe er bedeutungsvoll ein mit den Spuren seiner Nägel und Zähne gezeichnetes wertvolles, gesuchtes Parfüm. Die Ängstlichkeit beseitige er durch die Werbungen, eine nach der anderen.


... »Wenn ihre liebevolle Gesinnung ans Licht gekommen ist«, wenn es offenbar geworden ist, daß sie von Liebe erfüllt ist, »genieße man ihre Genußmittel, unter dem Austausche derselben«: man genieße selbst die Sache der Liebhaberin und lasse sie seine eignen genießen. – »Hierbei«, bei diesem Austausch. – »Ein wertvolles Parfüm«, ein außerordentlich wohlriechendes. – »Ein Obergewand, eine Blume eigne man sich an«, d.h., mache sie zu seinem Eigentume. – »Einen Ring«, der auch wertvoll sei. – »Wenn sie aus seiner Hand Betel empfängt«, aus der Hand des Liebhabers. – ... »Haarschopf«, Haarflechte. Er »bitte um eine Blume«, die darin steckt. Das bringt nämlich Glück. – Ist aber der Liebhaber der Gebende und gibt er durch eine fremde Hand ein »wertvolles«, von den Leuten »gesuchtes Parfüm«, so sei es »mit den Spuren seiner Nägel und Zähne gezeichnet«. Gibt er es eigenhändig, so geschehe es »bedeutungsvoll«: das ist das Besondere bei der Ausführung. – So wird bei allen beiden Arten die Zuneigung angedeutet. – »Die Ängstlichkeit beseitige er durch die Werbungen, eine nach der anderen«, indem immer die eine auf die andere folgt. Gewöhnlich sind fremde Frauen fremden Männern gegenüber befangen.

Mit Bezug auf das innere Wesen der Werbungen sagt (der Verfasser):


Der Reihe nach finde am einsamen Orte statt: das Besuchen, Umarmen, Küssen, Betelnehmen, während des Beschenkens Umtausch der Sachen und Berühren der geheimen Stellen. – Das sind die Annäherungen.


»Der Reihe nach«: wenn sie die Befangenheit durchaus abgelegt hat, dann besucht man einen »einsamen Ort«, eine abgelegene Stelle, wo sie sich aufhält. Dort sind Umarmungen usw. anzuwenden. »Berühren der geheimen Stellen«, das Drücken der Achseln, der Vereinigungsstelle der Schenkel usw. Das Berühren der Schamgegend geschieht, wenn man schon weit vorgeschritten ist.[343]

Nun nennt (der Verfasser) einen Fall, wo man die Annäherung unterlassen soll:


Wo man um die eine wirbt, da soll man nicht noch um eine andere werben. Wenn dort eine Frau wohnt, mit der man früher die Sinnenlust genossen hat, so gewinne man diese durch liebevolles Umschmeicheln.


»Wo«, in dem Hause, wo. »Da soll man nicht noch um eine andere werben«, um keine zweite. – »Durch liebevolles Umschmeicheln«: liebevoll, wenn es dem eignen Ich Wonne bereitet, dann ist es ein Geneigtmachen: dadurch wird sie gewonnen. Hat man sie für sich gewonnen, sich geneigt gemacht, so lasse man sie sitzen.


Hier gibt es zwei Strophen:

Wo der Gatte nach anderswohin Neigung zeigt, dort betrete der Liebhaber keine Frau, selbst wenn sie leicht zu gewinnen wäre.

Eine ängstliche, bewachte, furchtsame und von der Schwiegermutter begleitete Frau beachte ein Verständiger nicht, der seine eigne Art kennt.


»Wo«, in welchem Hause, »der Gatte« der Liebhaberin zu einer anderen Frau »Neigung zeigt«, ersichtlich eine solche besucht, »dort«, in diesem Hause, »betrete«, d.h., besuche er keine Frau, »selbst wenn sie leicht zu gewinnen wäre«, unschwer zu erlangen. – »Eine ängstliche«, die dem Werber gegenüber Angst verspürt; eine »bewachte«, von Bewaffneten; eine dem Gatten gegenüber »furchtsame«, »und von der Schwiegermutter begleitete«, unter der Botmäßigkeit der Schwiegermutter stehende »Frau beachte« der »nicht, der seine eigne Art kennt«; als dort ohnmächtig fasse man keinen Entschluß.

Quelle:
Das Kāmasūtram des Vātsyāyana. Berlin 71922, S. 342-344.
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