§ 54. Das Erkennen der Gleichgültigkeit.

[418] Wie die Hetäre von dem hingegebenen Liebhaber durch listige Mittel Geld bekommt, das ist besprochen worden; was[418] soll aber mit einem gleichgültigen geschehen? – So wird nun von dem Erkennen der Gleichgültigkeit gehandelt, und zwar nennt (der Verfasser nun) die Merkmale des Gleichgültigen:


Den Gleichgültigen erkenne sie stets an der Veränderung seines Wesens und dem Aussehen seines Gesichtes.


»Stets«, indem das überall bei seinen Handlungen zutage tritt. – »An der Veränderung seines Wesens«, d.h., indem seine Natur eine andere wird. Damit deutet (der Verfasser) an, daß die Gebärden anders aussehen lernen. – »Und an dem Aussehen seines Gesichtes erkenne sie« das, d.h. an der Gesichtsfarbe. Mancher offenbart in seiner Gesichtsfarbe noch Neigung: darum erkenne sie an Gebärden und am Äußeren den Gleichgültigen wie den Verliebten; das ist gemeint.

Dieses Anderswerden beschreibt (der Verfasser nun):


Er gibt zu wenig oder zu viel; er hat Beziehungen zu den Gegnern; er gibt etwas an und tut etwas anderes; er vernachlässigt seine Gepflogenheit; er vergißt sein Versprechen oder führt es anders aus; er spricht mit seinen Leuten vermittelst Zeichen; er schläft anderswo, indem er das Geschäft eines Freundes, vorschützt; er verhandelt zusammen mit der Dienerschaft der (Hetäre), mit der er früher gelebt hat.


»Oder zu viel«, im Vergleiche zu dem, was gegeben werden soll. – »Er hat Beziehungen zu den Gegnern«, er schließt Freundschaft mit den Widersachern der Geliebten. – »Er gibt etwas an«, daß er baden wolle, »und tut etwas anderes«: wenn die Zurüstungen zum Bade fertig sind, ißt er. – »Er vernachlässigt seine Gepflogenheit«, er spendet die täglichen Gaben nicht mehr. – »Er vergißt sein Versprechen«, daß er das und das geben wollte; und wenn sie ihn fragt, ob er es nicht versprochen habe, »führt er es anders aus«, nicht aber jenes. »Er spricht mit seinen Leuten«, Freunden usw., »vermittelst Zeichen«, nicht aber mit Worten, damit sie es nicht hört. – »Er schläft anderswo«, in einem anderen Hause als dem der Liebhaberin, »indem er das Geschäft eines Freundes vorschützt«, was er heute ausführen muß. – »Er verhandelt zusammen«, heimlich, »mit der Dienerschaft«, den Leuten der Geliebten, »mit der er früher gelebt hat«, Dinge, die sich früher zugetragen oder auf die gegenwärtige Liebhaberin Bezug haben.[419]

Nun gibt (der Verfasser) das Verfahren einem solchen gegenüber an, der als gleichgültig erkannt ist:


Bevor er es merkt, bringe sie unter einem Vorwande seine wertvollen Sachen in ihre Gewalt. Diese nehme ein Gläubiger mit Gewalt aus ihrer Hand. Wenn er sich widersetzt, verhandele er an Gerichtsstätte mit ihm. – Das ist das Erkennen der Gleichgültigkeit.


»Bevor er es merkt«: ehe er einsieht, daß sie ihn als Gleichgültigen durchschaut hat; sonst würde er auf besondere Gegenmaßregeln sinnen. – Auch hier »unter einem Vorwande«, d.h., indem sie irgend einen Schein heuchelt. – »Diese«, die Wertsachen. – »Aus ihrer Hand«, aus der Hand der Liebhaberin. »Ein Gläubiger«: aus den Händen dieses Gläubigers bekommt sie später die weggenommenen Sachen des Liebhabers wieder. Im Einverständnis mit ihr »nehme er mit Gewalt«, indem er sie demütigt, diese Sachen. – »Wenn er sich widersetzt«, wenn der Liebhaber Streit anfängt und sagt: ›Das gehört mir: was nimmst du das weg?‹ »verhandele er«, der Gläubiger, »an Gerichtsstätte«, vor dem Richter usw. »mit ihm«. Wenn er sich aber nicht widersetzt, dann ist die Sache geglückt.

Quelle:
Das Kāmasūtram des Vātsyāyana. Berlin 71922, S. 418-420.
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