Siebentes Kapitel.

Wie eine Alte sich Kandid's annahm, und wie er wiederfand, was er liebte.

[59] Kandid faßte keinen Muth, doch folgte er der Alten in ein halbverfallenes Gebäude. Sie gab ihm einen Topf mit einer Salbe zum Einreiben seines wundgepeitschten Rückens, setzte ihm zu essen und zu trinken vor und wies ihm ein kleines reinliches Bett an, neben welchem ein vollständiger Anzug lag.

»Eßt! trinkt! schlaft!« ermahnte sie ihn, »und möge unsere liebe Frau von Atocha, der heilige Antonius von Padua und der heilige Jakob von Compostella Euch unter ihre gnädige Fürsorge und Obhut nehmen! Morgen komm' ich wieder.«

Noch voller Erstaunen über Alles, was er gesehen, über Alles, was er gelitten, jetzt aber noch mehr über die Barmherzigkeit der Alten, wollte Kandid ihr die Hand küssen.

»Nicht meine Hand dürft Ihr küssen,« sprach die Alte; »morgen komm' ich wieder. Jetzt reibt Euch mit der Salbe ein, eßt und schlaft!«

Trotz allen Drangsals aß und schlief Kandid. Den andern Tag bringt die Alte ihm ein Frühstück, besichtigt seinen Rücken und reibt ihn selbst mit einer an dern Salbe ein. Eben so versorgt sie ihn am Mittag und am Abend mit gehörigen Mahlzeiten. Den dritten Tag wiederholt sie dieselben Ceremonien.[59]

»Wer seid Ihr?« fragte Kandid zu wiederholten Malen; »womit hab' ich so große Güte verdient? wie kann ich Euch danken?«

Die gute Frau antwortete kein Wort; am Abend aber kam sie wieder und brachte diesmal nichts zu essen mit.

»Kommt mit mir,« sagte sie, »und sprecht kein Wort.«

Sie nimmt ihn unter den Arm und geht mit ihm etwa eine Viertelmeile weit ins Feld hinaus. Sie kommen an ein einzelnstehendes, von Gärten und Kanälen umgebenes Haus. Die Alte klopft an eine kleine Thür. Man öffnet. Sie führt Kandid über eine Hintertreppe in ein reich geschmücktes, von Golde glänzendes Kabinett, nöthigt ihn, auf einem brokatnen Sopha Platz zu nehmen, verschließt die Thür wieder und geht fort. Kandid glaubte zu träumen; sein ganzes Leben erschien ihm als ein furchtbares und der gegenwärtige Augenblick als ein heiteres Traumgesicht.

Die Alte stellte sich bald wieder ein. Sie unterstützte mit Mühe eine von Edelsteinen strahlende, verschleierte Dame von majestätischem Wuchs, die in heftiger Aufregung zu sein schien.

»Hebt diesen Schleier auf,« sprach die Alte zu Kandid.

Der junge Mann tritt hinzu; mit schüchterner Hand hebt er den Schleier. – Welch ein Augenblick! Welche Ueberraschung! Er glaubt Kunigunden zu sehen; er sieht sie in der That; sie ist es selbst. Die Kräfte verlassen ihn, er kann kein Wort hervorbringen; zu ihren Füßen sinkt er hin. Kunigunde fällt auf das Sopha zurück. Die Alte besprengt sie mit geistigen Tropfen; sie kommen wieder zur Besinnung, sie reden mit einander. Anfangs vermögen sie nur abgebrochene Worte hervorzubringen, nur Fragen und Antworten, die sich kreuzen, nur Seufzer,[60] Thränen und Ausrufungen. Die Alte empfiehlt ihnen, weniger Geräusch zu machen, und läßt sie allein.

»Wie! Sie sind es!« spricht Kandid, »Sie leben! hier in Portugal finde ich Sie wieder! Man hat Ihnen also keine Gewalt angethan, Ihnen nicht den Leib aufgeschlitzt, wie der Philosoph Pangloß versicherte?«

»Allerdings,« erwiderte die schöne Kunigunde; »allein man stirbt von dergleichen Begegnissen nicht immer gleich.«

»Aber Ihre beiden Aeltern wurden erschlagen?«

»Ach, das ist nur zu wahr,« sprach Kunigunde weinend.

»Und Ihr Bruder?«

»Auch mein Bruder wurde getödtet.«

»Und wie wurden Sie nach Portugal verschlagen? Wie erfuhren Sie, daß ich hier war? und durch welche seltsame Verkettung der Begebenheiten kam es dahin, daß Sie mich in dies Haus führen ließen?«

»Sie sollen Alles wissen, aber erst müssen Sie mir ausführlich erzählen, was Ihnen seit dem unschuldigen Kusse, den Sie mir gaben, und den Fußtritten, die Sie empfingen, widerfahren ist.«

Kandid gehorchte mit tiefer Ehrfurcht und erzählte, trotz seiner Verwirrung, trotz seiner schwachen und unsichern Stimme und der noch nicht völlig beseitigten Rückenschmerzen, aufs treuherzigste Alles, was ihm seit dem Augenblick ihrer Trennung begegnet war.

Kunigunde blickte zum Himmel empor; sie beweinte den Tod des braven Wiedertäufers und des Doctors Pangloß und begann sodann ihre Erzählung, wovon Kandid, der sie mit den Augen verschlang, nicht eine Sylbe verlor.[61]

Quelle:
Kandid oder die beste Welt. Von Voltaire. Leipzig 1844, S. 59-62.
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