§ 67. Der Darwinismus.

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[395] Der Entwicklungsgedanke überhaupt hat in der Philosophie von jeher Bürgerrecht besessen. Wir sind ihm schon in so frühen Erscheinungen wie Heraklit und Empedokles bei den Griechen, Lukrez bei den Römern begegnet, von Aristoteles ganz zu schweigen. In der Neuzeit sahen wir ihn zuerst bei Leibniz bedeutsam auftauchen. Indes erst in der zweiten Hälfte des 18. und zu Anfang des 19. Jahrhunderts gelangt er zu größerer Bedeutung. Nach Montesquieu wenden ihn Lessing, Herder und Kant auf die Geschichtsphilosophie, Kant-Laplace auf die Astronomie und Geophysik, Lyell auf die Geologie, die Assoziationspsychologen auf die seelischen Erscheinungen, Kaspar Friedrich Wolff und K. E. v. Bär auf die Zoologie und Embryologie an. Im 19. Jahrhundert wurde er zudem von Schelling und namentlich Hegel auf philosophischem, von Goethe, Oken, Jean Lamarck, Geoffroy St. Hilaire u. a. auf allgemein naturwissenschaftlichem Gebiete vertreten. Aber zum Gemeingut der Wissenschaft wurde er doch erst in den letzten vier Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, und zwar in erster Linie durch das Auftreten des Engländers


2. Charles Darwin (1809 – 82).

Nicht ohne Grund schrieb dieser, nachdem während seiner fünfjährigen Forschungsreise auf dem Schiffe Beagle (zu deutsch: »Spürhund«) die erste Idee seiner großen Entdeckung in ihm aufgetaucht war, schon 1837 in sein Tagebuch: »Meine Theorie wird zu einer ganzen Philosophie führen.« Darwins Hypothese hat uns eine unübersehbare Entwicklungsreihe alles Seienden nach rückwärts wie nach vorwärts ahnen lassen und zugleich in den kleinen Dingen um uns her die Kräfte aufgezeigt, durch deren ununterbrochene stille Tätigkeit die gegenwärtigen Arten ihre jetzige Form erlangt haben. Der in dem Werke seines Landsmannes Malthus (1766 – 1834): Über das Bevölkerungsprinzip (1798) enthaltene Gedanke, daß die lebenden[395] Wesen das Streben haben, sich rascher zu vermehren als die ihnen zu Gebote stehenden Lebensmittel, gab ihm 1838 einen weiteren Anstoß zur Ausbildung seiner Theorie, die er Jedoch erst nach langem und sorgfältigem Ausreifen, nach mehr als 20 jähriger Erprobung durch die Tatsachen der Erfahrung, in seinem Werke: Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl (1859) veröffentlichte. Danach entsteht infolge jener Tatsache ein »Kampf ums Dasein« (vgl. Hobbes' bellum omnium contra omnes), in welchem diejenigen Arten bezw. Individuen den Sieg davontragen, die sich infolge größerer Fähigkeit zur Variation ihren Lebensbedingungen am besten anzupassen wissen: darin besteht das Prinzip der »natürlichen Auslese (Zuchtwahl)«, demzufolge »jede wenn auch noch so kleine Variation, die dem Individuum nützt, erhalten wird.« In seiner vorsichtigen und kritischen Weise erkannte der gewissenhafte Forscher indes an, daß der erste Ursprung der Variation (Divergenz), wie der erste Ursprung des Lebens überhaupt, ungelöste Rätsel für uns sind. Erst zwölf Jahre später übertrug er in seinem zweiten Hauptwerke: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl seine bis dahin nur mit Bezug auf die Pflanzen- und Tierwelt aufgestellte Theorie auch auf das Menschengeschlecht, das sich aus niedrigeren Tierformen vermittelst des natürlichen Prinzips der geschlechtlichen Zuchtwahl entwickelt habe. Zwischen dem Menschen und den höheren Tieren existieren nur Unterschiede des Grades. Die körperliche und geistige Kluft zwischen dem Affen und dem niedrigsten Wirbeltier ist großer als die zwischen Affen und Menschen, so »ungeheuer« die letztere auch bleibt. Auch die höheren Tiere besitzen Erinnerungs- und Vergleichungsvermögen, Schönheitssinn, sympathische und soziale Instinkte. Die natürliche Auslese führt übrigens nicht notwendig zu einer immer größeren Vervollkommnung aller Lebewesen; der Regenwurm z.B. würde gar keinen Nutzen von vollkommeneren Organen als seinen gegenwärtigen haben; darum bildet er sie nicht aus. Ja, es können sogar Rückschritte eintreten, indem gewisse Organe oder Eigenschaften durch Vereinfachung oder Änderung der Lebensverhältnisse überflüssig werden bezw. verkümmern. Die moralischen Gefühle des Menschen haben sich gleichfalls auf natürliche Weise entwickelt. Da die Erhaltung und Stärkung der Gemeinschaft in der Regel nützlich sein wird, so bildet die natürliche Auslese nicht bloß[396] die egoistischen, sondern auch die uneigennützigen (sozialen) Gefühle immer mehr aus. – Über das Verhältnis des Geistigen zu den körperlichen Organen, an die es stets gebunden erscheint, hat Darwin sich nirgends näher ausgesprochen, dagegen in seinem Buche: Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei den Menschen und den Tieren (1873) viele interessante, wenngleich jetzt wissenschaftlich teilweise überholte Beiträge zur physiologischen Psychologie geliefert. In metaphysischer Hinsicht erklärte er sich, wenigstens in seinen späteren Jahren, als Agnostiker, der sich in allem, was über die Erfahrung hinausgeht, des Urteils enthält. Er steht sonach philosophisch im wesentlichen auf dem Boden des Positivismus.


3. Anhänger Darwins.

Die Darwinsche Theorie – auf die gleichzeitig mit ihrer ersten Veröffentlichung auch Darwins jüngerer Landsmann Alfred Wallace gekommen war – ist von ihrem Urheber nicht als Dogma, sondern als das, was sie in Wahrheit ist und bleiben wird, als fruchtbare Hypothese aufgestellt worden. Kühner, aber auch unkritischer verfuhren die meisten der begeisterten Anhänger, die sich die neue Lehre bald erwarb: so der Engländer Huxley (1825 – 1895, Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur 1864), der seine Weltanschauung zuerst als Agnostizismus bezeichnete, K. Vogt (in seinen § 65 zitierten Vorlesungen von 1863) und namentlich der Zoologe Ernst Haeckel in Jena (geb. 1834), der weniger durch seine grundlegende Generelle Morphologie (2 Bände 1866) und andere wissenschaftliche Arbeiten, als durch die populäre Natürliche Schöpfungsgeschichte (1868, 8. Aufl. 1889, 11. Aufl. 1909, in zwölf Sprachen übersetzt) und Anthropogenie (1874, 6. Aufl. 1910) weite Kreise für den Darwinismus gewann. So groß auch die Verdienste Haeckels um die Verbreitung des Entwicklungsgedankens in der Naturwissenschaft sind, so berechtigt auch seine Ablehnung des Supranaturalismus vom Standpunkte der Wissenschaft erscheint, so hat er sich doch in der Philosophie, wie namentlich sein in mehr als 200000 Exemplaren verbreitetes, seit 1904 durch Die Lebenswunder ergänztes Buch Die Welträtsel (1899, 11. Aufl. 1919) zeigt, starke Blößen gegeben; vgl. E. Adickes, Kant contra Haeckel, Erkenntnistheorie gegen naturwissenschaftlichen Dogmatismus, 2. Aufl. 1906. Haeckels »Monismus« ist im[397] Grunde ein dogmatischer, dabei zugleich poetisch und pantheistisch angehauchter, also inkonsequenter Materialismus. Die Atome fühlen Lust bei der Verdichtung, Unlust bei Spannung und Verdünnung der Stoffe. Ihr Fühlen und Streben steigert sich in der organischen Natur zu Empfindung und Wollen, ja auf der höchsten Stufe zum Bewußtsein und zur Gedankenbildung. Haeckel sinkt mit solchen Vorstellungen auf den naiven, halb mythologischen Standpunkt der milesischen Naturphilosophie oder des Empedokles zurück. Philosophisch am wichtigsten und fruchtbarsten ist wohl seine von ihm als »biogenetisches Grundgesetz« bezeichnete Theorie, daß die Entwicklung der Einzelwesen eine abgekürzte Wiederholung der Stammesentwicklung ist.

Die Zahl der für und wider den Darwinismus, ins besondere die Deszendenztheorie, eintretenden Schriften war namentlich in den 70er Jahren Legion; eine eigene »Zeitschrift für einheitliche Weltanschauung«, Kosmos, redigiert von O. Caspari, G. Jäger und Carus Sterne (Pseudonym für Ernst Krause) vertrat von 1877 – 86 die neuen Grundsätze. Einer der hervorragendsten neueren Vertreter, der jedoch in der Frage der Vererbung von Darwin abwich, war A. Weismann (in Freiburg, 1834 – 1914, Vorträge über Deszendenztheorie 1902, 2. Aufl. 1907). Seitdem der Entwicklungsgedanke mehr oder weniger in sämtliche Wissenschaften eingedrungen ist, ist der spezielle Darwinismus naturgemäß mehr zurückgetreten. Doch wurde noch 1902 eine neue Monatsschrift: Politisch-anthropologische Revue begründet, die als ihr Ziel die »folgerichtige Anwendung der natürlichen Entwicklungslehre im weitesten Sinne des Wortes auf die organische, soziale und geistige Entwicklung der Völker« bezeichnet. Ihr Herausgeber L. Woltmann, der bereits früher Die Darwinsche Theorie und der Sozialismus (1899) veröffentlicht hatte, ist leider durch einen Unglücksfall (er ertrank beim Baden an der Riviera Januar 1907) der Wissenschaft zu früh entrissen worden. Vgl. über ihn das seinem Andenken gewidmete ausführliche Gedenkheft der Politisch-anthropologischen Revue VI, I (April 1907). Gegen Darwins Lehre von der natürlichen Auslese (Selektionstheorie) sind neuerdings auch von naturwissenschaftlicher Seite mancherlei sachliche Einwände erhoben worden: von W. Roux (Halle, Entwicklungsmechanik s. S. 502) einerseits, andrerseits von O. Hertwig (Das Werden der Organismen, Jena 1916). In ihrem vollen Umfange wird sie wohl nur von[398] wenigen Darwinisten mehr aufrecht erhalten. Dagegen ist das philosophisch Wichtigste an ihr, die Deszendenzlehre und vor allem der Entwicklungsgedanke, heute, darf man wohl sagen, Gemeingut der Biologie geworden.

Unabhängig von der darwinistischen Bewegung erfolgte die philosophische Ausbildung der Entwicklungslehre durch den Engländer Herbert Spencer.

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 2, Leipzig 51919, S. 395-399.
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