§ 48. Die praktische Wissenschaftslehre.

[277] Der Übergang von der theoretischen zur praktischen Wissenschaftslehre erfolgt durch ein hier nicht näher auszuführendes System von Trieben. Das Ich strebt ins Unendliche und fühlt sich doch begrenzt; es ist zugleich Trieb und Gefühl, Reflexions- und Produktionstrieb. Der letztere oder der Trieb (das Sehnen) nach Realität äußert sich näher als Bestimmungstrieb, weiter als Trieb nach Wechsel, Trieb nach Befriedigung, Harmonie zwischen Trieb und Handeln, die nur im absoluten, d. i. sittlichen Trieb oder praktischen Ich ihr Genüge findet. Der praktische Teil des Fichteschen Systems begründet und bestimmt erst, nach seines Urhebers eigener Aussage (Grundl. der ges. WL. S. 48), den theoretischen, vollendet dadurch die ganze Philosophie und versöhnt sie mit dem gemeinen Menschenverstand, mit dem das theoretische System sie entzweit hatte. Er ist die eigentliche Domäne des sich selbst bestimmenden Fichteschen Geistes, der deshalb in dem System der Sittenlehre besonders deutlich zum Ausdruck kommt. Wir lassen den Philosophen im folgenden möglichst selbst reden.


I. Grundlegung.

a) Deduktion des Prinzips der Sittlichkeit.

b) Deduktion der Realität und Anwendbarkeit dieses Prinzips.


a) Die Begründung besteht auch hier wieder in der »Deduktion«, d.h. Ableitung aus der »bloßen Form des Bewußtseins überhaupt«. Wie geschieht sie? Ich finde mich selbst als mich selbst nur wollend. Aber das Wollen selbst ist nur unter der Voraussetzung von Etwas, das man will, also eines vom Ich Verschiedenen denkbar. Dies Fremdartige im Wollen muß hinweggedacht werden, dann gelange ich zu meinem reinen Sein. Dieses Faktum des Bewußtseins für nicht weiter erklärbar, d. i. für Wahrheit zu halten, erfordert keine theoretische Einsicht, sondern einen – Entschluß, »wie denn eben auf diese Entschließung unsere ganze Philosophie aufgebaut ist«. Ich will selbständig sein, darum halte ich mich dafür. »Somit geht unsere Philosophie aus von einem Glauben und weiß es.« Man soll den Menschen nicht von außen »andemonstrieren« wollen, was sie selbst sich erschaffen müssen. So setzt sich das Ich mit Notwendigkeit, »ursprünglich und wirklich« als absolut selbständig, selbsttätig,[277] Grund seiner selbst, d.h. frei. »Ich bin wirklich frei«, ist der erste Glaubensartikel, der uns den Übergang in eine intelligibele Welt bahnt und in ihr zuerst festen Boden bietet, woraus dann der »feste Entschluß« folgt, der praktischen Vernunft den Primat zuzuerkennen. Das Tun ist nicht aus dem Sein, das Leben nicht aus dem Tode, das Ich nicht aus dem Nicht-Ich abzuleiten, sondern umgekehrt. Oder, wie es in der Bestimmung des Menschen heißt: »Zum Handeln bist du da, dein Handeln und allein dein Handeln bestimmt deinen Wert.«

Nun erst kommt Fichte auf die Kantischen »Benennungen« des von ihm (Fichte) deduzierten Gedankens, als da sind: Gesetz, Sollen, kategorischer Imperativ, Autonomie, praktisch, Sittengesetz, zu sprechen, in denen sich – »der gemeine Verstand überraschend wohl ausgedrückt findet«. Ohne die absolute Autonomie der Vernunft falle alle Philosophie in sich zusammen. Die Voraussetzung, daß die Vernunft durch etwas außer ihr bestimmt werden könne, ist schlechthin vernunftwidrig. Das Prinzip der Sittlichkeit ist folglich, so schließt die »Deduktion« desselben, »der notwendige Gedanke der Intelligenz, daß sie ihre Freiheit nach dem Begriffe der Selbständigkeit, schlechthin ohne Ausnahme, bestimmen sollte«. Ein Gedanke, betont er ausdrücklich, und kein Gefühl, und zwar ein reiner, notwendiger, der die Freiheit unter ein ausnahmslos geltendes Gesetz bringt.

b) Wie ist nun die Realität und Anwendung des so deduzierten Sittlichkeitsprinzips möglich? Das Vernunftwesen kann keine Anwendung seiner Freiheit und seines Wollens erhalten, außer indem es sich eine wirkliche Kausalität in einer Sinnenwelt außer ihm zuschreibt. Unsere Existenz in der intelligibelen Welt ist das Sittengesetz, unsere Existenz in der Sinnenwelt die »wirkliche« Tat, und der Vereinigungspunkt beider die Freiheit als absolutes Vermögen, die sinnliche durch die intelligibele Welt zu bestimmen. Aber das Ich kann sich keine Wirksamkeit zuschreiben, ohne eine gewisse Wirksamkeit der »Objekte« vorauszusetzen, durch die eine Beschränkung seiner eigenen Tätigkeit erfolgt. So wird ein Gefühl der Gebundenheit erweckt, indem ich von dem Gegenstand meiner Vorstellung nicht abstrahieren kann. Ich bin, trotz der Absolutheit meiner Vernunft, in gewisser Rücksicht »Natur«, nämlich Trieb. Daß dieser Trieb da ist, ist ebenso, wie die Existenz des reinen Seins (s. o.), eine »Tatsache« des Bewußtseins. Dieser Naturtrieb nun ist[278] das Mittelglied zwischen Freiheit (Selbständigkeit) und Naturmechanismus (Notwendigkeit). Ich selbst bin ein Produkt der Natur und insofern durchgängig bestimmt, ein Glied in der Kette der strengen Naturnotwendigkeit. Der Trieb hängt mithin nicht schlechtweg von mir ab; aber, was er in meinem Bewußtsein wirke, hängt von mir selbst ab. Mein Trieb als Naturwesen (dessen letzter Zweck die Lust) und meine Tendenz als reiner Geist sind nur zwei verschiedene Seiten eines und desselben Urtriebs, der mein Wesen ausmacht. Auch nach der Freiheit fühle ich einen Trieb, den »reinen« Trieb, demgegenüber der bloße Naturtrieb der zufällige und leidende ist. Der Naturtrieb äußert sich als Sehnen, der reine als absolute Forderung. »Ein Entschluß – und ich bin über die Natur erhaben!« Daraus folgt dann weiter der Begriff der Selbstachtung und der Würde. Ohne das Bewußtsein der Freiheit und Sittlichkeit ist ein vernünftiges Wesen überhaupt gar nicht möglich. Aber nur durch eine Synthese beider Triebe erhält man eine »reelle« Sittenlehre, ohne sie nur eine »formale und leere« Metaphysik. Der »sittliche« Trieb ist ein »gemischter«, der von dem Naturtrieb das Materiale, vom reinen Trieb aber die Form hat. Bestimmend ist allein die letztere, und die Formel, in die unser Ethiker seinen kategorischen Imperativ schließlich kleidet, ist noch »formaler« als die Kantische. Sie lautet: »Handle stets nach bester Überzeugung von deiner Pflicht!« oder kürzer: »Handle nach deinem Gewissen!« Das Gewissen kann nie irren; es entscheidet in letzter Instanz. Wer auf Autorität hin handelt, handelt gewissenlos. Wer zur Tugend erziehen will, muß zur Selbständigkeit erziehen.

Die Pflicht ist die einzige und letzte Grundlage aller meiner Erkenntnis. Alle materialen Moralprinzipien verwirft Fichte ebenso entschieden wie Kant. Das Sittengesetz wird auch bei ihm erst durch uns selbst erzeugt. Und sein letzter Grund erscheint auch ihm unbegreiflich, denn Begreifen heißt: ein Denken an ein anderes anknüpfen.


II. Anwendungen.

1. Sittenlehre (im engeren Sinne). »Wir haben nur die Bedingungen der Ichheit vollständig aufzuzeigen und dieselbe auf den Trieb nach Selbständigkeit zu beziehen..., so haben wir den Inhalt des Sittengesetzes erschöpft.« Dies im einzelnen auszuführen, fehlt hier der Platz. Wir[279] können nur einige charakteristische Gedanken herausgreifen. Mein Endzweck ist: Ich soll selbständig sein; oder, verallgemeinert: die Realisierung der Vernunft in einer Gemeinschaft freier Wesen, der wahren »Gemeinde der Heiligen«. Die Pflichten werden eingeteilt – immer unter »Ableitung« aus der »Ichheit« – in solche in Ansehung des Leibes und der Intelligenz, bedingte und unbedingte, allgemeine Menschen- und besondere Berufspflichten, z.B. der Ehegatten, Kinder, Eltern, des Gelehrten, Predigers oder moralischen Volkslehrers, Künstlers, der Regierenden, der niederen Volksklassen usw. Mit Kant nimmt Fichte ein radikales Böse in der menschlichen Natur an. Jeder Mensch hat seinen Schlendrian; daraus entspringen die drei Grundlaster der Trägheit, Feigheit und Falschheit, aus allen dreien zusammen die Lüge. Womöglich noch rigoroser als Kant verwirft Fichte die Notlüge. Der Eigentumslose hat ein Recht auf Eigentum, der Arme auf staatliche Unterstützung; es soll weder Bettler noch Almosen geben. Alle sollen frei sein; nicht das Volkswohl, sondern die Gerechtigkeit ist das höchste Gesetz! Der Beruf des Gelehrten – mit Vorliebe von ihm behandelt (in seinen Vorlesungen zu Jena 1794, Erlangen 1805, Berlin 1811, vgl. die Sonderschrift von 1805) – ist es, Lehrer der Menschheit, Priester der Wahrheit zu sein.

Der Paragraph »über die Pflichten des ästhetischen Künstlers« ist deshalb interessant, weil Fichte sich sonst selten über Ästhetisches ausgesprochen hat53. Die schöne Kunst bildet nicht den Verstand oder das Herz allein, sondern den ganzen Menschen. Sie macht »den transzendentalen Gesichtspunkt zum gemeinen«, d.h. sie erschafft die Welt neu aus dem Innern des Menschen heraus. Und sie führt anderseits den Menschen in sich selbst hinein, um ihn dort heimisch zu machen. Keiner werde Künstler ohne Genie, jeder Künstler begeistere sich nur für das Ideal!

Getrennt von der Sittenlehre steht die besonders im System des Naturrechts dargestellte

2. Rechtslehre, welche es im Unterschiede von jener mit den äußeren oder Rechtsverhältnissen der Menschen zu tun hat. Auch sie wird aus dem Selbstbewußtsein deduziert. Ein endliches vernünftiges Wesen kann sich[280] selbst nicht setzen, ohne sich eine freie Wirksamkeit in der Sinnenwelt zuzuschreiben und deshalb andere Vernunftwesen der gleichen Art anzunehmen. Die wechselseitige Anerkennung führt zur Rechtsgemeinschaft, welche gebietet: Beschränke deine Freiheit so, daß die anderen neben dir auch frei sein können. Die Urrechte des einzelnen, die ihm seine Freiheit oder (sittliche) Persönlichkeit garantieren und nur in den Urrechten der anderen ihre Schranken finden, sind: 1. das Recht der freien Selbstbestimmung über meinen Leib, als Werkzeug meines Willens, 2. das Recht auf Eigentum, d.h. ausschließliche Unterordnung bestimmter Objekte unter meine Zwecke, 3. das Recht auf Selbsterhaltung. Sobald der andere diese meine Urrechte nicht achtet, tritt das Zwangsrecht der Staatsgesetze ein. Das Strafrecht sichert deren Durchführung durch Abbüßung oder relative bezw. absolute Ausschließung; die öffentliche Sicherheit und Ordnung wird durch das Polizeigesetz gesichert. – In einem Anhang zum Naturrecht wird auch das Ehe- und Familienrecht abgehandelt. Die Ehe wird von Fichte außerordentlich hochgestellt, ja mit fast übertriebenen Worten gefordert, das Leben des Weibes solle ohne Rest in dem des Mannes aufgehen, dieser aber durch Großmut sich dieser Liebe würdig zeigen. Den unverheirateten Frauen will Fichte alle Berufe, ausgenommen verantwortliche Staatsämter, öffnen; doch hält er z.B. weibliche Schriftstellerei für eins »der unglücklichsten Geschäfte«. Von der

3. Staatslehre haben wir einige Züge schon in der »Sittenlehre« kennen gelernt. Im Naturrecht fordert Fichte, den Tendenzen der Zeit entsprechend (auch die »Urrechte« erinnern an die »Menschenrechte« der Französischen Revolution), die Verwirklichung des Rechtsstaats, der das »realisierte Naturrecht« darstellen soll. Der Staatsbürgervertrag stellt den gemeinsamen Willen im Gesetze fest, das durch die regierende, richtende und strafende Staatsgewalt ausgeführt wird. Wie Rousseau und Kant, verlangt Fichte Volkssouveränität und Volksvertretung, darüber hinaus noch Verantwortlichkeit der Staatslenker vor den »Ephoren«.

Im Geschlossenen Handelsstadt (1800) geht er jedoch über den Standpunkt des bloßen Rechtsstaats hinaus und fordert den Vernunftstaat und in dessen Namen staatliche Organisation der Arbeit, damit ein jeder von seiner Arbeit leben könne. Denn jedermann hat ein unveräußerliches[281] Recht auf Arbeit (zweckvolle Betätigung) und auf menschenwürdige Existenz. »Der Mensch soll arbeiten, aber nicht wie ein Lasttier... er soll angstlos, mit Lust und Freudigkeit arbeiten und Zeit übrig behalten, seinen Geist und sein Auge zum Himmel zu erheben.« Zu diesem Zwecke muß der Staat alle Einfuhr und Ausfuhr in die eigene Hand nehmen, also einen »geschlossenen« Handelsstaat herstellen, er hat die Güterproduktion und Güterverteilung zu regulieren, desgleichen die Preise, er führt ein besonderes, unnachahmbares Landesgeld ein usw.; persönliches Eigentum soll jedoch nicht ausgeschlossen bleiben. Die liberalen Berufe und die drei »geschlossenen« Stände der Produzenten, Fabrikanten und Kaufleute sind ebenso streng voneinander gesondert, wie die einzelnen Staaten voneinander überhaupt; die internationalen Beziehungen zu pflegen, ist allein der Wissenschaft vorbehalten. So stellt die dem preußischen Finanzminister Struensee gewidmete und von diesem wohlwollend aufgenommene Schrift zwar ein sozialistisches Staatsideal auf, aber ein durchaus reaktionäres, vielfach dem Friderizianischen Staate verwandtes; sie hat denn auch auf die Entwicklung der sozialistischen Theorie und Praxis nicht den geringsten Einfluß geübt. Vgl. Marianne Weber, Fichtes Sozialismus und sein Verhältnis zur Marxschen Doktrin, Tübingen 1900, über seine Sittenlehre auch Maria Raich, Fichte, seine Ethik und seine Stellung zum Problem des Individualismus, ebd. 1905.

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 2, Leipzig 51919, S. 277-282.
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