§ 16. Lockes empiristische Erkenntnislehre.

  • [89] Literatur: Eine empfehlenswerte größere Gesamtdarstellung; seiner Lehre ist bisher in Deutschland noch nicht erschienen. Über seine Erkenntnislehre im Vergleich mit Leibniz' Kritik derselben handelt G. Hartenstein (Lpz. 1865); über dieselbe als Vorstufe des Kritizismus; A. Riehl, Geschichte des philosoph. Kritizismus (2. Aufl. 1908), Kap. I und E. Cassirer, Erkenntnisproblem II, 5, Kap. 3; über sein Verhältnis zu der Cambridger Schule (§ 7) vgl. G. v. Hertling (Freiburg 1892).

1. Locke beginnt wie Descartes mit der erkenntnis-kritischen Frage nach der Gewißheit und den Grenzen unserer Erkenntnis. Aber die Frage nach dem Wert unserer Vorstellungen (ideas) hängt für ihn ab von der Art ihrer Erwerbung. Er wirft daher zunächst die Frage auf: Gibt es angeborene Ideen? Allein er behandelt sie nicht wie jener in erkenntnistheoretischem, sondern in entwicklungsgeschichtlich-psychologischem Sinne. Und nun hat er die Antwort leicht, daß dieselben natürlich nicht in dem buchstäblich-zeitlichen Sinne uns »angeboren« sein können. Selbst die unbestrittensten Sätze, wie die der Identität (a = a) und des Widerspruches (a nicht = non a), sind Kindern, Idioten, Wilden, ja überhaupt sämtlichen Nichtunterrichteten völlig unbekannt; das Kind weiß, daß süß nicht bitter ist, lange bevor ihm der Satz des Widerspruches klar geworden ist. Nur die natürlichen Fähigkeiten oder Anlagen sind angeboren, alle Erkenntnisse aber erworben, und zwar die abstraktesten am spätesten: lauter Sätze, die Descartes von seinem erkenntniskritischen Standpunkte aus, dem auch die Dreiecke und die astronomischen Rechnungen idées innées sind, durchaus nicht bestritten haben würde. Locke aber geht nicht, wie Descartes, von den mathematischen Wahrheiten und den Grundsätzen der mathematischen Naturwissenschaft aus – sein Freund Newton muß ihm aus seinen Principia einen Auszug zurechtmachen, der die mathematische Begründung übergeht! –, sondern von der naiv-populären Anschauungsweise, den Außendingen. Und er mißt nicht Sinnlichkeit und Verstand nach ihrem Erkenntniswert ab, sondern er will nur »schlicht erzählen« und fragt deshalb:

2. Wie kommt der Mensch zu seinen Vorstellungen? Er vergleicht den ursprünglichen Zustand der Seele mit einem unbeschriebenen »weißen Papier« (in der lateinischen Übersetzung: tabula rasa), welches ausgefüllt wird durch das »eine Wort« – Erfahrung (experience). Diese letztere hat einen doppelten Ursprung: äußere und innere[89] oder Selbst-Beobachtung. Quell der ersteren sind unsere Sinneswahrnehmungen, die von den äußeren Gegenständen dasjenige in unsere Seele überführen, was dort die Empfindung (sensation) des Gelben, Heißen, Bitteren, Weichen usw. hervorruft. An den so geweckten Vorstellungen übt nun der Geist – genauer der »innere Sinn« – eine Reihe von Operationen wie Glauben, Zweifel, Schließen, Wollen u. a. aus, die Locke unter dem vieldeutigen Begriff der Reflexion (reflection) zusammenfaßt. Der Mensch beginnt Vorstellungen zu haben, sobald ihm die erste sensation zuteil wird. Erst »mit der Zeit« kommt die Seele dazu, auf ihre eigenen Vorstellungen (Selbstbeobachtung) zu achten. So gewinnt der alte Satz: Nihil est in intellectu, quod non antea fuerit in sensu, gegen den wir Leibniz (§ 13) polemisieren sahen, bei Locke neues Leben. Die äußere und die innere Wahrnehmung sind die beiden Fenster, durch welche die Dunkelkammer unseres Innern erhellt wird; der Verstand ist dem mattgeschliffenen Spiegel der camera obscura vergleichbar, der ungefragt die Bilder der Dinge »reflektiert«, freilich dabei auch umformt, nämlich teils zu Bündeln zusammenfügt, teils in Arten sondert. Sinnlichkeit und Verstand werden nicht nach ihrem Erkenntniswert abgewogen und abgegrenzt, sondern ihre zeitlich-räumliche Entstehung beschrieben. Die Empfindungen sind Impressionen der Dinge, die Ideen (= Vorstellungen, erst bei Kant erhält das Wort Idee seine ursprüngliche tiefere Bedeutung wieder) deren Kopien. Woher der »Geist« kommt, wird nicht gesagt, eine Erklärung des Bewußtseins nicht versucht, der unbestimmte Begriff »Erfahrung« nicht näher bestimmt. Dagegen ist der Nachdruck verdienstlich, mit dem Locke auf den Beitrag der Empfindung zum Ganzen der Erkenntnis hingewiesen, sowie die Klarheit und Ausführlichkeit, mit der er die Assoziation der Vorstellungen erörtert hat. Methodisch wichtig ist ferner die schon bei Descartes vorkommende, aber erst bei Locke endgültig fixierte

3. Unterscheidung von primären und sekundären Qualitäten30. Die Eigenschaften (qualities), durchweiche die Außendinge Vorstellungen in uns hervorrufen, sind doppelter Art: entweder a) solche, die »wirklich« in den Körpern vorhanden, d.h. unzertrennlich mit ihrer Vorstellung[90] verbunden sind, wie Undurchdringlichkeit, Ausdehnung, Gestalt, Zahl, Beweglichkeit, oder b) solche, die nicht in den Körpern selbst, sondern nur in unserer Vorstellung existieren, wie die Farben, Töne, Geruch-, Geschmacks- und Wärmeempfindungen. Die ersteren heißen ursprüngliche, primäre oder auch reale, die letzteren abgeleitete oder sekundäre Qualitäten. Unsere Empfindungen werden durch den Stoß erzeugt, der sich von den äußeren Gegenständen durch die Nervenbahnen bis zum Gehirn, dem Sitze des Bewußtseins, dem »Audienzzimmer des Geistes«, fortpflanzt. Dem Gegenstande eignen nämlich gewisse Kräfte (powers), die auf uns oder auf andere Gegenstände wirken, z.B. dem Feuer die Schmelzkraft. Der Körper, den wir als blau bezeichnen, ist nicht blau, sondern hat nur die Eigenschaft, blau gesehen zu werden. Wenn die Augen nicht sehen, die Ohren nicht hören usw., bleiben nur die primären (realen) Qualitäten übrig; was wir z.B. als Wärme empfinden, ist im Gegenstande nur Bewegung. Worauf die »Realität« dieser primären Realitäten beruht, untersucht Locke nicht weiter. Physisches und Psychisches werden durchaus getrennt. Das Gefühl ist so verschieden von dem Körper, wie der Schmerz von dem Messer, An einer anderen Stelle meint er freilich, vielleicht habe Gott die Materie mit der Fähigkeit zu denken begabt. Locke unterscheidet weiter:

4. Einfache und komplexe Vorstellungen. Die einfachen Vorstellungen entstehen entweder a) durch einen einzigen Sinn (wie die der Farbe durch das Auge, der Dichte durch das Gefühl); oder b) durch die Kombination mehrerer Sinne (wie die primären Qualitäten, insbesondere die Ausdehnung, die, gemessen, Raum heißt); c) durch Reflexion (wie die des Denkens, des Wollens, der Dauer, die, gemessen, Zeit heißt); d) durch Sinneswahrnehmungen und Reflexion zusammen (die von Kraft, Dasein, Einheit, Zeitfolge, Vergnügen, Schmerz u. a.). Aus diesen einfachen Ideen, die den Grundstoff unserer Erkenntnis bilden, werden durch Kombination mit Hilfe der Verstandestätigkeit, gerade wie aus den Buchstaben Silben und Wörter, zusammengesetzte oder komplexe Ideen, die auf drei Klassen: Modi, Substanzen und Relationen zurückgeführt werden. Die komplexen Vorstellungen sind lediglich Abstraktionen oder Verallgemeinerungen unseres Verstandes, Kunstgriffe desselben zur Erleichterung der Mitteilung und des geistigen Verkehrs. Daher die Wichtigkeit der sprachlichen Untersuchungen, denen Locke[91] das dritte Buch seines Hauptwerkes widmet. Die Wörter erklärt er, ähnlich wie Hobbes, nominalistisch als bloße Zeichen für unsere Vorstellungen.

Modi (modes), d. i. Zustände, Beschaffenheiten, sind Eigenschaften, die nicht für sich bestehen, sondern nur an einem Dinge als ihrem Träger vorkommen. Sind sie gleichartig (wie gewisse Raum-, Zeit-und Zahlbestimmungen, z.B. ein Dutzend), so heißen sie einfach oder rein; wenn ungleichartig, gemischt, z.B. Laufen, Eigensinn, Buchdruck, Triumph, Vatermörder. Es gibt Modi des Raumes, der Zeit, des Denkens, der Kraft u. a. Kein Begriff ist reicher an Modifikationen als der des Vermögens (tätiges, leidendes usw.). – Gegenüber den Modis bedeutet Substanz jenes für sich bestehende Etwas, dessen Attribute die Modi sind. So entsteht aus den Sensationen durch Gewöhnung schließlich die Vorstellung der körperlichen, d.h. nicht denkenden, aus den Reflexionen die der geistigen oder denkenden Substanz. Beider Wesen ist uns gänzlich unbekannt, nur ihre Wirkungen sind erkennbar. Indem wir nun die Ideen: Dasein, Kraft, Macht, Weisheit und Glück mit der Vorstellung der Unendlichkeit verknüpfen, entsteht in uns die Idee Gottes als eines schlechthin immateriellen Wesens. Übrigens meint Locke, der Substanzbegriff sei nicht von wesentlicher Bedeutung für die Philosophie. Wir haben uns nur daran gewöhnt, ihn vorauszusetzen, wie die indische Kosmologie ihren Elefanten oder ihre Riesenschildkröte. Es nützt nichts, sein Wesen ergründen zu wollen. – Die Relationen oder Verhältnisbegriffe endlich (z.B. Gattung, größer) entstehen durch Entgegensetzung oder Vergleichung mehrerer Dinge. Zu ihnen gehören die Begriffe von Ursache und Wirkung, alle Zeit- und Ortsbestimmungen, Identität und Verschiedenheit, die Maße und Grade, die moralischen Verhältnisse u. v. a.

Alle diese Vorstellungen entspringen ganz und gar aus der Erfahrung. Locke ist der Urheber der empirischen Psychologie, welche die Frage nach einer besonderen Seelensubstanz als unlösbar beiseite läßt. Erst das vierte Buch, das vom »Wissen und Meinen« handelt, erhebt die erkenntniskritische Frage nach

5. der Gültigkeit bezw. den Stufen der Gewißheit unseres Erkennens. Die Erkenntnis (knowledge) wird bestimmt als die Wahrnehmung der Übereinstimmung oder des Widerstreits zweier Vorstellungen in bezug auf Identität oder Verschiedenheit, Beziehung, Koexistenz und reale[92] Existenz. Klar sind die einfachen Ideen, wenn ihre Objekte sich in einer »wohl geordneten« sinnlichen Wahrnehmung darstellen; die zusammengesetzten, wenn ihre einfachen Vorstellungen klar sind. In ihrer einfachsten und zugleich höchsten Form ist die Erkenntnis unmittelbare Anschauung (Intuition), die keines Beweises bedarf, z.B. die von unserer eigenen Existenz, oder daß Schwarz nicht Weiß, daß 3 = 1 + 2, daß ein Kreis kein Viereck ist, desgleichen die identischen Sätze. Demonstrative Erkenntnis erwerben wir durch Aneinanderfügen einer Reihe intuitiver Erkenntnisse; auf diese Weise überzeugen wir uns z.B. von der Wahrheit der mathematischen Sätze und – dem Dasein Gottes, das von Locke aus der Existenz der Welt gefolgert wird. Während uns diese beiden Erkenntnisarten völlige Gewißheit bieten – in den mathematischen und moralischen Begriffen –, kann es die sinnliche Erkenntnis, darum auch die gesamte Naturwissenschaft nur bis zur Wahrscheinlichkeit bringen.

Der Umfang unseres Wissens ist beschränkt. Wir können es erweitern a) durch Erfahrung, b) durch Schlüsse, bezw. Auffindung und methodische Ordnung der Mittelglieder. Das Einzelne und Bestimmte ist bekannter und faßlicher als das Allgemeine. Über das Verhältnis des Wahrnehmenden zu dem Wahrgenommenen drückt sich Locke ziemlich unbestimmt aus. Unsere Sinneswahrnehmungen, von denen alle Erkenntnis ausgeht (daher seine Lehre auch als Sensualismus bezeichnet wird), sollen Wirkungen der Dinge außer uns sein, deren Art und Charakter durch den Schöpfer geordnet ist. Sie können den Dingen zwar nicht gleich sein, aber doch entsprechen; sie haben »wenig« Abweichendes von ihnen, und das Dasein der Außendinge wird durch die einfachen Vorstellungen schlechthin verbürgt. Anderseits hält er an der trotz aller Veränderungen des Organismus bleibenden Identität der Person fest, die sich auf unser Bewußtsein stützt. Und da ihm, wie wir sahen, die mathematischen und moralischen Wahrheiten als solche feststehen, so ist er kein reiner Empirist. Überall, wo er sich schärfer mit der Erörterung wissenschaftlicher Begriffe wie denen des Raumes, der Zeit, der Zahl, der Kraft, der Unendlichkeit beschäftigt, sehen wir ihn einen Wahrheitsbegriff anerkennen, der über den rein induktiven Empirismus eines Baco erhaben ist, aber freilich nur auf Mathematik und Moral eingeschränkt ist, während das wirkliche Naturgeschehen sich ihm entzieht.[93]

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 2, Leipzig 51919, S. 89-94.
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