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Die älteste und mächtigste der ionischen Städte war das infolge seiner bevorzugten Lage zu außerordentlichem Reichtum gediehene Milet, die Mutterstadt von nicht weniger als 80 Kolonien. Hier blühte, neben Seehandel und Industrie und durch sie angeregt, auch die wissenschaftliche Forschung, bis die Besiegung und Zerstörung der Stadt durch die Perser ihr ein Ende machte. Von diesen ältesten Naturphilosophen hat die Überlieferung nur drei Namen aufbewahrt: Thales, Anaximandros und Anaximenes.
Noch halb im Dunkel der Sage schwebt die Gestalt dieses »Ahnherrn« der Philosophie, wie ihn Aristoteles nennt. Nur weniges Sichere ist uns über Leben und Lehre des außerordentlichen Mannes überliefert. Ein Zeitgenosse von Krösus und Solon, lebte er zwischen 624 und 545. Aus einer vornehmen, ihren Ursprung auf Kadmus zurückleitenden milesischen Familie stammend, erwarb er sich auch politische Verdienste um seine Vaterstadt. Seine Kenntnisse in der Geometrie, Astronomie[22] und Naturwissenschaft überhaupt, die er auf Handelsreisen nach Phönizien und Ägypten erwarb oder doch vermehrte, werden von den Alten gerühmt. So soll er den ägyptischen Priestern ein Mittel zur Messung ihrer Pyramiden angegeben, einen Distanzmesser konstruiert, den Himmel als Hohlkugel erkannt, vor allem aber die Sonnenfinsternis vom Mai 585 vorausgesagt haben; wahrscheinlich war er auch in der Wasserbautechnik erfahren (Diels). Jedenfalls liegt der Zusammenhang der Philosophie mit den positiven Wissenschaften bei ihm klar zutage.
Was ihn aber zum ersten Philosophen stempelt, ist seine nicht mehr mythologische, sondern wissenschaftliche Erklärung der Weltentstehung. Aristoteles (Metaphysik I, 3) bezeichnet ihn ausdrücklich als den Begründer derjenigen Philosophie, welche allein die Materie als den Urgrund (archê) der Dinge aufstellte. Eine solche Ur-Sache fand Thales im Wasser: sei es, daß die alte Theogonie mit ihrem Urvater Okeanos oder (was wahrscheinlicher) das Lebenselement seiner Heimat ihm diese Wahl nahe legte; wir kennen seine Begründung nicht mehr. Selbst Aristoteles stellt, da schon zu seiner Zeit nicht mehr und vielleicht überhaupt nie etwas Schriftliches von Thales vorhanden war, nur Vermutungen darüber auf: weil die Nahrung und der Same von Pflanzen und Tieren feucht seien, die Lebenswärme sich somit aus dem Feuchten entwickle; wozu wir wohl auch die unendliche Wandelbarbarkeit des flüssigen Elementes fügen dürfen.
Wenn Thales erklärte: der Kosmos sei »voll Dämonen«, so wollte er mit diesem der polytheistischen Anschauungsweise seines Volkes entnommenen Ausdruck wohl keine außerhalb des Stoffes stehende, ihn bewegende göttliche Ursache, sondern nur die Belebung oder Beseelung des Stoffes selbst bezeichnen, des Magnets z. B., wenn er das Eisen anziehe. Die Kraft liegt im Stoff.
Dieser Hylozoismus (Stoffbelebung) – oder Hylopsychismus (Stoffbeseelung), wie man ihn neuerdings genannt hat – scheint allerdings noch ziemlich roh, stellt aber trotzdem den gewaltigen, weil grundsätzlichen, Fortschritt von der Mythologie zur Naturwissenschaft dar. Einen weiteren Fortschritt vollzog dann sein. Landsmann Anaximander.
Auch dieser außerordentliche Mann ist in der freien Seeluft Milets groß geworden. Etwas jünger (610-547) als Thales, ragte er gleich diesem durch mathematische und astronomische, außerdem auch geographische Kenntnisse hervor. Er verfertigte aus Erz die erste Weltkarte, entwarf eine Himmelskarte zur Orientierung der Schiffer bei Nacht und soll auch den Gebrauch der Sonnenuhr in Griechenland eingeführt haben. Auch leitete er die Anlage der Kolonie Apollonia am Pontus, sodaß es wohl begreiflich ist, wenn die Milesier ihrem Mitbürger eine Ehrenbildsäule setzten, deren Überreste heute im Berliner Museum für Völkerkunde stehen. Leider sind von seiner Schrift – der, wie allen Schriften der ersten Naturphilosophen, später der Titel »Über die Natur« (peri physeôs) beigelegt wurde – nur wenige Zeilen und kein einziger vollständiger Satz auf uns gekommen.
Dennoch vermögen wir uns aus dem Überlieferten von Anaximanders Weltentstehungslehre schon ein etwas deutlicheres Bild zu machen. Der bedeutsame Fortschritt gegen Thales besteht darin, daß er nicht, wie dieser, ein bestimmtes sinnliches Element, sondern einen unbestimmten, gedachten Stoff als archê setzt. Der Urgrund aller Dinge ist für ihn das 'Apeiron, d. i. das Unendliche (oder Unbestimmte?), das dann weiter als unsterblich und unvergänglich, ungeworden und unerschöpflich, beschrieben wird. Ob er es als eine Mischung verschiedener bekannter Elemente betrachtet oder wahrscheinlicher qualitativ ganz unbestimmt gelassen hat, ist eine auch heute noch umstrittene Frage. Aus diesem unbestimmten Urstoffe ließ Anaximander durch »Aussonderung« zuerst das Kalte und das Warme hervorgehen; aus ihnen bildete sich das Flüssige, aus dem letzteren durch Austrocknung der Erde, weiter die Luft und eine beide, wie der Baum die Borke, umgebende Feuerkugel. Aus dieser hätten sich durch Bersten und Ringbildung Sonne, Mond und Sterne losgelöst, die sie in symmetrischen Abständen umkreisen; seine Theorie ist eine Vorläuferin der pythagoreischen Sphären-Harmonie (§ 3), wobei die uralt heilige Dreizahl eine geheimnisvolle Rolle spielte. Aus dem Urschlamm der walzenförmig gestalteten, von allen Punkten jenes Feuermeeres gleich weit entfernten Erde ließ unser Philosoph, wenn wir dem späten Berichte[24] Plutarchs Glauben schenken dürfen, die ersten lebenden Wesen entstehen und sich in stufenartiger Folge allmählich weiter entwickeln. Zuerst entstanden fischartige, dann, bei zunehmender Austrocknung der Erde, aus diesen Landtiere; die Entwicklung des Menschen dauerte am längsten. Mit den einzelnen Stufen war zugleich eine Umwandlung der Lebensweise verbunden: wie man sieht, eine höchst interessante, wenn auch noch rohe Vorausnahme der modernen Deszendenztheorie.
Und die Zukunft des Weltalls? Darüber belehrt uns das einzige wörtlich erhaltene Fragment: »Woraus die Dinge entstanden sind, darein müssen sie auch wieder vergehen nach dem Schicksal; denn sie müssen Buße und Strafe zahlen für die Schuld (sc. ihres Daseins) nach der Ordnung der Zeit.« Eine düstere, an uralte orientalische Vorstellungen gemahnende, religiös gefärbte Weltanschauung tritt uns hier entgegen. In ewigem Wechsel folgt sich eine unendliche Reihe entstehender und vergehender Welten, von der die unsrige nur einen vorübergehenden Spezialfall darstellt.
So bietet Anaximander den ersten bestimmter überlieferten Versuch einer rein natürlichen, aus einem mechanischen Prinzip hergeleiteten Welterklärung. Denn, wenn er einmal von seinem Unendlichen den Ausdruck gebraucht, es »umfasse« und »lenke« alles, und es deshalb »göttlich« nennt, so haben wir nach dem sonst über ihn Überlieferten keinen Grund, daraus auf die Annahme eines von dem Weltstoff unterschiedenen göttlichen Geistes bei ihm zu schließen. Das war erst einer späteren Periode der griechischen Philosophie vorbehalten.
Auch er stammt aus Milet und ist etwa ein Menschenalter jünger als seine beiden Vorgänger; seine Lebenszeit fällt zwischen 588 und 524. Wenn Anaximenes wieder ein bestimmtes Element, die Luft, als Urstoff setzt, so bedeutet dies in gewisser Hinsicht allerdings einen Rückschritt hinter Anaximander. Indessen wurden doch mit der Wahl gerade dieses Stoffes die wesentlichsten Eigenschaften des anaximandrischen Apeiron, seine Unbegrenztheit und Beweglichkeit, berücksichtigt. Vielleicht ist Anaximenes durch die Beobachtung des Atems als Lebensursprungs zur Annahme seines Prinzips geführt worden. Wenigstens läßt der einzige aus seiner Schrift sicher erhaltene Satz das als möglich erscheinen: »Wie[25] unsere Seele« – hier offenbar in ihrer Grundbedeutung (psychê) als animalisches Lebensprinzip gedacht – »Luft ist und uns dadurch zusammenhält, so umfaßt auch den ganzen Kosmos wehender Hauch und Luft«. Daß sein Urstoff, wiewohl beseelt (vgl. oben Thales), im Grunde doch nur materiell zu denken ist, ergibt sich aus dem weiteren Entwicklungsprozeß, den der Philosoph ihn nehmen läßt. Durch Verdünnung geht aus ihm das Feuer, durch Verdichtung oder Zusammenziehung Wind, Wolken, Wasser und Erde hervor. Auch seine astronomischen Kenntnisse zeigen große Fortschritte. Er erkannte die Beleuchtung des Mondes durch die Sonne und unterschied die Planeten von den Fixsternen. Mit Anaximander nahm auch er einen ewigen Wechsel von Weltentstehung und Weltzerstörung an.
4. Als Nachzügler der milesischen Naturphilosophie, der »ionischen Physiologen«, sind die im 5. Jahrhundert lebenden Denker Hippon und Idaios (von Himera) zu betrachten. Ersterer erklärte gleich Thales das Feuchte für den Urstoff alles Gewordenen, während der sonst ganz unbekannte Idaios sich dem Anaximenes angeschlossen haben soll. Über den gleichfalls durch die Milesier angeregten Diogenes von Apollonia s. Anhang zu § 8. Die weitere Ausbildung der griechischen Philosophie sollte zunächst auf einem anderen Schauplatz vor sich gehen und in einer anderen Richtung sich vollziehen.
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