§ 13. Sokrates' Persönlichkeit. Die Quellen.

  • [70] Literatur: Von der sehr reichen neueren Literatur über Sokrates philosophische Stellung heben wir, außer den ausführlichen Darstellungen in den großen Werken von Brandis und Zeller, hervor:
    Schleiermacher, Über den Wert des Sokrates als Philosophen 1815 (S. W. III2, 287-308), Ribbing, Sokratische Studien, Upsala 1870. Antonio Labriola, La dottrina di Socrate, Napoli 1871 (zum erstenmal soziale und ökonomische Verhältnisse mit heranziehend). Fouillée, La philosophie de Socrate. 2 Bde. Paris 1874. Joël, Der echte und der xenophontische Sokrates, 2 Bde., Berlin 1893 und 1901; vgl. dazu den ausführlichen Artikel Natorps: Über Sokrates, Philos. Monatsh. XXX, 337-370. Döring, Die Lehre des Sokrates als soziales Reformsystem. München 1895. Neuere Darstellungen bei Th. Gomperz, Griechische Denker, Band II, und Kühnemann, Grundlehren, S. 188-237. Zur Literatur über die Frage, ob Xenophon oder Plato der treuere Berichterstatter (s. unten), s. Pöhlmann, Sokrates-Studien (Bayr. Akad. d. W.) 1906. Eine hübsche zusammenfassende Charakteristik der Persönlichkeit in Windelbands »Präludien«, S. 54 ff. Neueres Hauptwerk: H. Maier, Sokrates. Sein Werk und seine geschichtl. Stellung. Tüb. 1913.

Das Leben des Sokrates braucht in einer Geschichte der Philosophie nicht im einzelnen geschildert zu werden. Es genüge, kurz an die wichtigsten Daten seines äußeren Lebens zu erinnern: daß er, als Sohn eines Bildhauers und einer Hebamme 471 oder 470 zu Athen geboren, anfangs selbst Bildhauer war, die Schriften der alten Weisen – später auch zusammen mit seinen Schülern – las, sowie die Vortrage der Sophisten hörte; daß er an mehreren Feldzügen seiner Vaterstadt teilnahm, als Prytane mutvoll in der Sache der Arginusen-Feldherrn dem Terrorismus der Masse entgegentrat und 399, wegen »Einführung neuer Götter und Verführung der Jugend« verurteilt, den Giftbecher trinken mußte.

Über den persönlichen Charakter des athenischen Weisen: seine musterhafte Rechtschaffenheit, Sittenreinheit, Bedürfnislosigkeit, Freimütigkeit, Menschenfreundlichkeit, Religiosität, Liebenswürdigkeit und heitere Ruhe des Gemüts stimmen alle Berichte ebenso überein, wie über seine natürliche Schlagfertigkeit, seinen Witz und seinen Humor. Nicht minder über gewisse unhellenische[70] Züge seines Wesens: seine Gleichgültigkeit gegen die äußere Erscheinung – seine eigene Gestalt entsprach so wenig dem griechischen Schönheitsideal, daß sie selbst seinen Verehrern als silenenhaft erschien – und damit in Zusammenhang eine seinen Volksgenossen fremde Vertiefung in die eigenen Gedanken und inneren Empfindungen; schließlich seine bei aller Meisterschaft der philosophischen Unterredung hervortretende Schlichtheit des Ausdrucks. Anders dagegen steht es mit seiner Lehre, über die wir an fremde Berichterstatter gewiesen sind, da wir keine einzige geschriebene Zeile von Sokrates, ja kaum einen völlig beglaubigten Ausspruch aus seinem Munde besitzen. In der Auffassung seiner philosophischen Bedeutung aber widersprechen sich die beiden Hauptquellen, seine Schüler Xenophon und Plato, neben denen der spätere Aristoteles erst in zweiter Linie in Betracht kommt.

Früher herrschte die Auffassung vor, daß die Darstellung Xenophons (in seinen »Memorabilien« und seinem »Symposion«) bei aller Nüchternheit und Plattheit doch die »objektivere«, weil historisch treuere, und deshalb der künstlerischen, aber »subjektiven«, idealisierenden Platos in fast allen seinen Dialogen vorzuziehen sei. Nachdem zuerst Dissen (1812) und Schleiermacher (s. oben) an dieser Auffassung gerüttelt, nachdem dann gezeigt worden war, daß Xenophon, selbst kein Philosoph, gar nicht die Fähigkeit besaß, das philosophische Ziel des Sokrates in seiner vollen Tiefe zu erfassen und darzustellen, haben neuere Untersuchungen (von Dümmler, Joël, Natorp u. a.) wahrscheinlich gemacht, daß auch Xenophons Ohrenzeugentum, der damaligen literarischen Mode entsprechend, nur Fiktion, daß seine Memorabilien zu der üblichen Gattung rhetorischer Lobschriften gehören und die Erwiderung auf das Pamphlet eines Rhetors sind, daß endlich seine philosophische Auffassung, soweit er überhaupt eine solche besitzt, durch den Zyniker Antisthenes (s. § 17) beeinflußt ist. Nach Xenophons Schilderung des Sokrates fragt man sich unwillkürlich: Wie konnte ein so prosaischer, beinahe pedantischer Mensch wie dieser eine so begeisterte Liebe unter seinen Schülern wecken und vor allem – eine so gewaltige Revolution der Geister hervorrufen? Demgegenüber wäre der berufene Darsteller des philosophischen Reformators derjenige seiner Jünger gewesen, der ihn am besten verstanden, d.h. Plato. Aber dieser war zu sehr Künstler, um[71] objektiver Historiker zu sein, und zu stark von den eigenen genialen Ideen, die er nach seinem Empfinden dem Meister verdankte, durchdrungen, als daß er zwischen seinem und des Sokrates geistigem Eigentum eine scharfe Grenzlinie zu ziehen unternommen hätte. Bei dieser Sachlage betrachten manche den Aristoteles als den einzigen Retter aus der Not. Allein, was für dessen größere Glaubwürdigkeit und Objektivität angeführt wird, die weitere historische Entfernung und demgemäß freiere Stellung zu Sokrates, hat doch auch wieder seine Nachteile im Gefolge; überdies ist nicht außer Acht zu lassen, daß die Berichte des Aristoteles, wie sich besonders an seiner Kritik Platos zeigen läßt, öfters durch seine eigenen dogmatischen Begriffe und philosophiegeschichtlichen Rubriken getrübt sind.

So erscheint des Rätsels Lösung schwer. Als die beste Quelle erscheinen, bei Erwägung aller in Betracht kommenden Verhältnisse, doch immer noch diejenigen Dialoge Platos (auf die sich augenscheinlich auch Aristoteles stützt), die des Meisters Lehre noch am wenigsten vermischt mit eigenen Zusätzen darstellen. Es sind das seine frühesten, die sogenannten »sokratischen« Dialoge; in erster Linie die des Meisters Andenken gewidmete Apologie, dann Krito, Laches und Protagoras. Zu deren Ergänzung und Vergleichung können sodann Xenophon und Aristoteles herangezogen werden.

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 1, Leipzig 51919, S. 70-72.
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