Vorwort zur 1. Auflage.

[1] Es mangelt heute keineswegs an philosophiehistorischen Werken; wer daher mit einer neuen Geschichte der Philosophie auf den Plan tritt, muß einen besonderen Grund dafür haben. Das vorliegende Buch glaubt nun in der Tat einem vorhandenen Bedürfnis entgegenzukommen; es will die Lücke ausfüllen, die gegenwärtig zwischen den großen Werken von Überweg-Heinze, J. E. Erdmann, Eduard Zeller, Kuno Fischer auf der einen, den kleineren Kompendien und Abrissen von Schwegler, Kirchner e tutti quanti auf der anderen Seite klafft. Gerade der vielgebrauchte Schwegler, der seinerzeit eine respektable Leistung darstellte und seine praktische Brauchbarkeit durch die zahlreichen, ihm zuteil gewordenen Auflagen bewiesen hat, ist heute, 45 Jahre nach dem Tode seines Verfassers, gänzlich veraltet: woran auch die verhältnismäßig geringfügigen Ergänzungen Sterns wenig geändert haben. Er, der von den Fachmännern nur mit einem gewissen verächtlichen Lächeln genannt zu werden pflegt, sollte allmählich aus dem Bücherfach unserer Studenten und sonstigen Liebhaber der Philosophie verschwinden. Ein Werk von mittlerem Umfange wie das unsere, welches die ganze Geschichte der Philosophie zusammenfassend darstellte, existiert unseres Wissens bisher noch nicht. Denn die verdienstlichen Grundrisse von E. Zeller und R. Falckenberg schildern nur einzelne Teile der philosophischen Gesamtentwicklung, die vortreffliche Geschichte der Philosophie von Windelband aber ist kein Lehrbuch im gewöhnlichen Sinne des Wortes, sondern eine Geschichte der philosophischen Probleme und Begriffe.

Als ich vor nahezu fünf Jahren dies Buch begann, war freilich ein beträchtlich kleinerer Umfang beabsichtigt, aus den damals geplanten 400 Seiten ist ungefähr das Doppelte geworden. Aber je mehr ich in der Arbeit vordrang, desto weniger genügte mir eine bloß summarische[1] Behandlung des Stoffes. Die griechische Philosophie, die bereits sämtliche philosophischen Grundbegriffe und Probleme, nur in vereinfachter Gestalt, behandelt und daher für den Anfänger stets die beste Einleitung in die Philosophie bilden wird, durfte nicht knapper, als geschehen, behandelt werden. Aber auch die Philosophie des Mittelalters, die ich anfangs, wie es ja auch die meisten nichtkatholischen Universitätslehrer in ihren Vorlesungen tun, ganz zu übergehen vorhatte, enthält so viele interessante philosophische Gedanken, daß ich auch ihr einen kürzeren Abschnitt meines Buches (80 Seiten) gewidmet habe. Weshalb ich endlich auch die Philosophie der Gegenwart (1840-1900) einer eingehenderen Darstellung unterziehen zu müssen glaubte, ist Bd. II, 403 des näheren auseinandergesetzt.

Da ich mir als Leser vor allem Studierende und solche Gebildete denke, die sich einem ernsteren Studium der Philosophie widmen wollen, war ich bestrebt, eine wenn auch nicht leichte, so doch klare, jedem Gebildeten verständliche Sprache zu gebrauchen. Hie und da mag sie freilich, da ich das Buch nicht noch stärker – über zwei Bände hinaus – anschwellen lassen wollte, etwas zu knapp und gedrängt erscheinen. Daß ich meinen zahlreichen Vorgängern auf dem Gebiete der Geschichtschreibung der Philosophie, wie auch den Einzelforschungen und Einzeldarstellungen, die ich am Eingang der betreffenden Paragraphen zitiert habe, vieles verdanke, brauche ich kaum erst zu versichern. Dennoch trägt mein Buch, denke ich, seine eigene Färbung. Zwar habe ich – schon um des didaktischen Zweckes willen, den es in erster Linie verfolgt – möglichste Objektivität erstrebt und diese hinsichtlich der Darstellung der Tatsachen hoffentlich auch annähernd erreicht. Es war mir darum zu tun, ein Buch zu liefern, das durchaus wissenschaftlichen Charakter trüge. Allein eine vollkommene Voraussetzungslosigkeit ist von dem Historiker, und erst recht von dem der Philosophie, nicht zu erreichen, auch nicht einmal zu wünschen; denn sie würde zu schwächlicher Farblosigkeit, gänzliche Enthaltung vom eigenen (wenn auch nur immanenten) Urteil zur Urteilslosigkeit führen. Daß überall die neuesten gelehrten Forschungen nach[2] Möglichkeit berücksichtigt sind, werden die Fachleute, so hoffe ich, anerkennen.

Mit den Literaturangaben meine ich das richtige Maß innegehalten zu haben. Die chronologische Tabelle der Hauptwerke der neueren Philosophie am Schlüsse des zweiten Bandes wird hoffentlich den Beifall der Leser finden; ebenso die Spaltung des Registers in ein Verzeichnis 1. der Philosophen, 2. der Literatoren. Zu den letzteren sind alle, zu den ersteren mit Absicht nur die, wichtigsten Belegstellen angeführt. Einem Wunsche des Verlags entsprechend, hat die am 1. Januar 1903 in allen Ländern deutscher Zunge zur Einführung gelangende neue deutsche Rechtschreibung bereits Anwendung gefunden.

Schließlich bleibt mir noch die angenehme Pflicht, meinen Freunden, den Herren Professor P. Natorp in Marburg und Professor F. Staudinger in Darmstadt für manchen freundlichen Rat, sowie dem letzteren und den Herren Dr. O. A. Ellissen in Einbeck und Dr. W. Jesinghaus hier für ihre bereitwillige Hilfe bei der Korrektur und Herrn Verlagsbuchhändler Joh. Friedr. Dürr für sein stetes, liebenswürdiges Eingehen auf meine Wünsche meinen aufrichtigsten Dank auszusprechen.


Solingen, im August 1902.

Karl Vorländer.

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 1, Leipzig 51919, S. I1-III3.
Lizenz: