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Johann Joachim Winckelmann

Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst

Der gute Geschmack, welcher sich mehr und mehr durch die Welt ausbreitet, hat sich angefangen zuerst unter dem griechischen Himmel zu bilden. Alle Erfindungen fremder Völker kamen gleichsam nur als der erste Same nach Griechenland und nahmen eine andere Natur und Gestalt an in dem Lande, welches Minerva, sagt man, vor allen Ländern, wegen der gemäßigten Jahreszeiten, die sie hier angetroffen, den Griechen zur Wohnung angewiesen, als ein Land, welches kluge Köpfe hervorbringen würde.

Der Geschmack, den diese Nation ihren Werken gegeben hat, ist ihr eigen geblieben; er hat sich selten weit von Griechenland entfernt, ohne etwas zu verlieren, und unter entlegenen Himmelsstrichen ist er spät bekannt geworden. Er war ohne Zweifel ganz und gar fremd unter einem nordischen Himmel, zu der Zeit, da die beiden Künste, deren große Lehrer die Griechen sind, wenig Verehrer fanden; zu der Zeit, da die verehrungswürdigsten Stücke des Correggio im königlichen Stalle zu Stockholm vor die Fenster, zu Bedeckung derselben, gehängt waren.

Und man muß gestehen, daß die Regierung des großen August der eigentliche glückliche Zeitpunkt ist, in welchem die Künste, als eine fremde Kolonie, in Sachsen eingeführt worden. Unter seinem Nachfolger, dem deutschen Titus, sind dieselben diesem Lande eigen worden, und durch sie wird der gute Geschmack allgemein.[1]

Es ist ein ewiges Denkmal der Größe dieses Monarchen, daß zur Bildung des guten Geschmacks die größten Schätze aus Italien, und was sonst Vollkommenes in der Malerei in andern Ländern hervorgebracht worden, vor den Augen aller Welt aufgestellt sind. Sein Eifer, die Künste zu verewigen, hat endlich nicht geruht, bis wahrhafte untrügliche Werke griechischer Meister, und zwar vom ersten Range, den Künstlern zur Nachahmung sind gegeben worden.

Die reinsten Quellen der Kunst sind geöffnet: glücklich ist, wer sie findet und schmeckt. Diese Quellen suchen heißt nach Athen reisen; und Dresden wird nunmehr Athen für Künstler.

Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten, und was jemand vom Homer gesagt, daß derjenige ihn bewundern lernt, der ihn wohl verstehen gelernt, gilt auch von den Kunstwerken der Alten, sonderlich der Griechen. Man muß mit ihnen, wie mit seinem Freunde, bekannt geworden sein, um den Laokoon ebenso unnachahmlich als den Homer zu finden. In solcher genauen Bekanntschaft wird man, wie Nicomachus von der Helena des Zeuxis, urteilen: »Nimm meine Augen«, sagte er zu einem Unwissenden, der das Bild tadeln wollte, »so wird sie dir eine Göttin scheinen.«

Mit diesem Auge haben Michelangelo, Raffael und Poussin die Werke der Alten angesehen. Sie haben den guten Geschmack aus seiner Quelle geschöpft, und Raffael in dem Lande selbst, wo er sich gebildet. Man weiß, daß er junge Leute nach Griechenland geschickt, die Überbleibsel des Altertums für ihn zu zeichnen.

Eine Bildsäule von einer alten römischen Hand wird sich gegen ein griechisches Urbild allemal verhalten wie Virgils Dido, in ihrem Gefolge mit der Diana unter ihren Oreaden verglichen, sich gegen Homers Nausikaa verhält, welche jener nachzuahmen gesucht hat.

Laokoon war den Künstlern im alten Rom ebendas, was er uns ist: des Polyklets Regel; eine vollkommene Regel der Kunst.[2]

Ich habe nicht nötig anzuführen, daß sich in den berühmtesten Werken der griechischen Künstler gewisse Nachlässigkeiten finden: der Delphin, welcher der Mediceischen Venus zugegeben ist, nebst den spielenden Kindern; die Arbeit des Dioskorides, außer der Hauptfigur, in seinem geschnittenen Diomedes mit dem Palladio, sind Beispiele davon. Man weiß, daß die Arbeit der Rückseite auf den schönsten Münzen der ägyptischen und syrischen Könige den Köpfen dieser Könige selten beikommt. Große Künstler sind auch in ihren Nachlässigkeiten weise, sie können nicht fehlen, ohne zugleich zu unterrichten. Man betrachte ihre Werke, wie Lucian den Jupiter des Phidias will betrachtet haben, den Jupiter selbst, nicht den Schemel seiner Füße.

Die Kenner und Nachahmer der griechischen Werke finden in ihren Meisterstücken nicht allein die schönste Natur, sondern noch mehr als Natur, das ist, gewisse idealische Schönheiten derselben, die, wie uns ein alter Ausleger des Plato lehrt, von Bildern, bloß im Verstande entworfen, gemacht sind.

Der schönste Körper unter uns wäre vielleicht dem schönsten griechischen Körper nicht ähnlicher, als Iphikles dem Herkules, seinem Bruder, war. Der Einfluß eines sanften und reinen Himmels wirkte bei der ersten Bildung der Griechen, die frühzeitigen Leibesübungen aber gaben dieser Bildung die edle Form. Man nehme einen jungen Spartaner, den ein Held mit einer Heldin gezeugt, der in der Kindheit niemals in Windeln eingeschränkt gewesen, der von dem siebenten Jahre an auf der Erde geschlafen und im Ringen und Schwimmen von Kindesbeinen an war geübt worden. Man stelle ihn neben einen jungen Sybariten unserer Zeit: und alsdann urteile man, welchen von beiden der Künstler zu einem Urbilde eines jungen Theseus, eines Achilles, ja selbst eines Bacchus nehmen würde. Nach diesem gebildet, würde es ein Theseus, bei Rosen, und nach jenem gebildet, ein Theseus, bei Fleisch erzogen, werden, wie ein griechischer Maler von zwei verschiedenen Vorstellungen dieses Helden urteilte.[3]

Zu den Leibesübungen waren die großen Spiele allen jungen Griechen ein kräftiger Sporn, und die Gesetze verlangten eine zehnmonatliche Vorbereitung zu den olympischen Spielen, und dieses in Elis, an dem Orte selbst, wo sie gehalten wurden. Die größten Preise erhielten nicht allezeit Männer, sondern meistenteils junge Leute, wie Pindars Oden zeigen. Dem göttlichen Diagoras gleich zu werden war der höchste Wunsch der Jugend.

Seht den schnellen Indianer an, der einem Hirsche zu Fuße nachsetzt. Wie flüchtig werden seine Säfte, wie biegsam und schnell werden seine Nerven und Muskeln, und wie leicht wird der ganze Bau des Körpers gemacht. So bildet uns Homer seine Helden, und seinen Achilles bezeichnet er vorzüglich durch die Geschwindigkeit seiner Füße.

Die Körper erhielten durch diese Übungen den großen und männlichen Kontur, welchen die griechischen Meister ihren Bildsäulen gegeben, ohne Dunst und überflüssigen Ansatz. Die jungen Spartaner mußten sich alle zehn Tage vor den Ephoren nackend zeigen, die denjenigen, welche anfingen fett zu werden, eine strengere Diät auflegten. Ja, es war eins unter den Gesetzen des Pythagoras, sich vor allem überflüssigen Ansatz des Körpers zu hüten. Es geschah vielleicht aus eben dem Grunde, daß jungen Leuten unter den Griechen der ältesten Zeiten, die sich zu einem Wettkampf im Ringen angaben, während der Zeit der Vorübungen nur Milchspeise zugelassen war.

Aller Übelstand des Körpers wurde behutsam vermieden, und da Alcibiades in seiner Jugend die Flöte nicht blasen lernen wollte, weil sie das Gesicht verstellte, so folgten die jungen Athenienser seinem Beispiele.

Nach dem war der ganze Anzug der Griechen so beschaffen, daß er der bildenden Natur nicht den geringsten Zwang antat. Das Wachstum der schönen Form litt nichts durch die verschiedenen Arten und Teile unserer heutigen pressenden und klemmenden Kleidung, sonderlich am Halse, an den Hüften und Schenkeln. Das schöne Geschlecht selbst unter[4] den Griechen wußte von keinem ängstlichen Zwange in seinem Putze: die jungen Spartanerinnen waren so leicht und kurz bekleidet, daß man sie daher Hüftzeigerinnen nannte.

Es ist auch bekannt, wie sorgfältig die Griechen waren, schöne Kinder zu zeugen. Quillet in seiner Kallipädie zeigt nicht so viel Wege dazu, als unter ihnen üblich waren. Sie gingen sogar so weit, daß sie aus blauen Augen schwarze zu machen suchten. Auch zur Beförderung dieser Absicht errichtete man Wettspiele der Schönheit. Sie wurden in Elis gehalten; der Preis bestand in Waffen, die in dem Tempel der Minerva aufgehängt wurden. An gründlichen und gelehrten Richtern konnte es in diesen Spielen nicht fehlen, da die Griechen, wie Aristoteles berichtet, ihre Kinder im Zeichnen unterrichten ließen, vornehmlich weil sie glaubten, daß es geschickter mache, die Schönheit in den Körpern zu betrachten und zu beurteilen.

Das schöne Geblüt der Einwohner der meisten griechischen Inseln, welches gleichwohl mit so verschiedenem fremden Geblüte vermischt ist, und die vorzüglichen Reizungen des schönen Geschlechts daselbst, sonderlich auf der Insel Skios, geben zugleich eine gegründete Mutmaßung von den Schönheiten beiderlei Geschlechts unter ihren Vorfahren, die sich rühmten, ursprünglich, ja älter als der Mond zu sein.

Es sind ja noch jetzt ganze Völker, bei welchen die Schönheit so gar kein Vorzug ist, weil alles schön ist. Die Reisebeschreiber sagen dieses einhellig von den Georgianern, und ebendieses berichtet man von den Kabardinski, einer Nation in der krimischen Tartarei.

Die Krankheiten, welche so viel Schönheiten zerstören und die edelsten Bildungen verderben, waren den Griechen noch unbekannt. Es findet sich in den Schriften der griechischen Ärzte keine Spur von Blattern, und in keines Griechen angezeigter Bildung, welche man bei Homer oft nach den geringsten Zügen entworfen sieht, ist ein so unterscheidendes Kennzeichen, wie Blattergruben sind, angebracht worden. Die venerischen Übel und die Tochter derselben, die englische[5] Krankheit, wüteten auch noch nicht wider die schöne Natur der Griechen. Überhaupt war alles, was von der Geburt bis zur Fülle des Wachstums zur Bildung der Körper, zur Bewahrung, zur Ausarbeitung und zur Zierde dieser Bildung durch Natur und Kunst eingeflößt und gelehrt worden, zum Vorteil der schönen Natur der alten Griechen gewirkt und angewendet, und kann die vorzügliche Schönheit ihrer Körper vor den unsrigen mit der größten Wahrscheinlichkeit zu behaupten Anlaß geben.

Die vollkommensten Geschöpfe der Natur aber würden in einem Lande, wo die Natur in vielen ihrer Wirkungen durch strengere Gesetze gehemmt war, wie in Ägypten, dem vorgegebenen Vaterlande der Künste und Wissenschaften, den Künstlern nur zum Teil und unvollkommen bekannt geworden sein. In Griechenland aber, wo man sich der Lust und Freude von Jugend auf weihte, wo ein gewisser heutiger bürgerlicher Wohlstand der Freiheit der Sitten niemals Eintrag getan, da zeigte sich die schöne Natur unverhüllt zum großen Unterrichte der Künstler.

Die Schule der Künstler war in den Gymnasien, wo die jungen Leute, welche die öffentliche Schamhaftigkeit bedeckte, ganz nackend ihre Leibesübungen trieben. Der Weise, der Künstler gingen dahin: Sokrates, den Charmides, den Autolycus, den Lysis zu lehren; ein Phidias, aus diesen schönen Geschöpfen seine Kunst zu bereichern. Man lernte daselbst Bewegungen der Muskeln, Wendungen des Körpers; man studierte die Umrisse der Körper oder den Kontur an dem Abdrucke, den die jungen Ringer im Sande gemacht hatten.

Das schönste Nackende der Körper zeigt sich hier in so mannigfaltigen, wahrhaften und edlen Ständen und Stellungen, in die ein gedungenes Modell, welches in unseren Akademien aufgestellt wird, nicht zu setzen ist.

Die innere Empfindung bildet den Charakter der Wahrheit, und der Zeichner, welcher seinen Akademien denselben geben will, wird nicht einen Schatten des Wahren erhalten[6] ohne eigene Ersetzung desjenigen, was eine ungerührte und gleichgültige Seele des Modells nicht empfindet, noch durch eine Aktion, die einer gewissen Empfindung oder Leidenschaft eigen ist, ausdrücken kann.

Der Eingang zu vielen Gesprächen des Plato, die er in den Gymnasien zu Athen ihren Anfang nehmen lassen, macht uns ein Bild von den edlen Seelen der Jugend und läßt uns auch hieraus auf gleichförmige Handlungen und Stellungen an diesen Orten und in ihren Leibesübungen schließen.

Die schönsten jungen Leute tanzten unbekleidet auf dem Theater, und Sophokles, der große Sophokles, war der erste, der in seiner Jugend dieses Schauspiel seinen Bürgern machte. Phryne badete sich in den eleusinischen Spielen vor den Augen aller Griechen und wurde beim Heraussteigen aus dem Wasser den Künstlern das Urbild einer Venus Anadyomene, und man weiß, daß die jungen Mädchen in Sparta an einem gewissen Feste ganz nackend vor den Augen der jungen Leute tanzten. Was hier fremd scheinen könnte, wird erträglicher werden, wenn man bedenkt, daß auch die Christen der ersten Kirche ohne die geringste Verhüllung, sowohl Männer als Weiber, zu gleicher Zeit und in einem und ebendemselben Taufsteine getauft oder untergetaucht worden sind.

Also war auch ein jedes Fest bei den Griechen eine Gelegenheit für Künstler, sich mit der schönen Natur aufs genaueste bekanntzumachen.

Die Menschlichkeit der Griechen hatte in ihrer blühenden Freiheit keine blutigen Schauspiele einführen wollen, oder wenn dergleichen in dem ionischen Asien, wie einige glauben, üblich gewesen, so waren sie seit geraumer Zeit wiederum eingestellt. Antiochus Epiphanes, König in Syrien, verschrieb Fechter von Rom und ließ die Griechen Schauspiele dieser unglücklichen Menschen sehen, die ihnen anfänglich ein Abscheu waren. Mit der Zeit verlor sich das menschliche Gefühl, und auch diese Schauspiele wurden Schulen der Künstler. Ein Ktesilas studierte hier seinen sterbenden Fechter, »an[7] welchem man sehen konnte, wieviel von seiner Seele noch in ihm übrig war«.

Diese häufigen Gelegenheiten zur Beobachtung der Natur veranlaßten die griechischen Künstler, noch weiter zu gehen. Sie fingen an, sich gewisse allgemeine Begriffe von Schönheiten sowohl einzelner Teile als ganzer Verhältnisse der Körper zu bilden, die sich über die Natur selbst erheben sollten; ihr Urbild war eine bloß im Verstande entworfene geistige Natur.

So bildete Raffael seine Galatea. Man sehe seinen Brief an den Grafen Baldasare Castiglione: »Da die Schönheiten«, schreibt er, »unter dem Frauenzimmer so selten sind, so bediene ich mich einer gewissen Idee in meiner Einbildung.«

Nach solchen über die gewöhnliche Form der Materie erhabenen Begriffen bildeten die Griechen Götter und Menschen. An Göttern und Göttinnen machte Stirn und Nase beinahe eine gerade Linie. Die Köpfe berühmter Frauen auf griechischen Münzen haben dergleichen Profil, wo es gleichwohl nicht willkürlich war, nach idealischen Begriffen zu arbeiten. Oder man könnte mutmaßen, daß diese Bildung den alten Griechen ebenso eigen gewesen, als es bei den Kalmücken die flachen Nasen, bei den Chinesen die kleinen Augen sind. Die großen Augen der griechischen Köpfe auf Steinen und Münzen könnten diese Mutmaßungen unterstützen.

Die römischen Kaiserinnen wurden von den Griechen auf ihren Münzen nach eben diesen Ideen gebildet. Der Kopf einer Livia und einer Agrippina hat ebendasselbe Profil, welches der Kopf einer Artemisia und einer Kleopatra hat.

Bei allen diesen bemerkt man, daß das von den Thebanern ihren Künstlern vorgeschriebene Gesetz, »die Natur bei Strafe aufs beste nachzuahmen«, auch von andern Künstlern in Griechenland als ein Gesetz beobachtet worden. Wo das sanfte griechische Profil ohne Nachteil der Ähnlichkeit nicht anzubringen war, folgten sie der Wahrheit der Natur, wie[8] an dem schönen Kopf der Julia, Kaiser Titus' Tochter, von der Hand des Euodus, zu sehen ist.

Das Gesetz aber, »die Personen ähnlich und zu gleicher Zeit schöner zu machen«, war allezeit das höchste Gesetz, welches die griechischen Künstler über sich erkannten, und setzt notwendig eine Absicht des Meisters auf eine schönere und vollkommenere Natur voraus. Polygnot hat dasselbe beständig beobachtet.

Wenn also von einigen Künstlern berichtet wird, daß sie wie Praxiteles verfahren, welcher seine knidische Venus nach seiner Beischläferin Kratina gebildet, oder wie andere Maler, welche die Lais zum Modell der Grazien genommen, so glaube ich, sei es geschehen ohne Abweichung von gemeldeten allgemeinen großen Gesetzen der Kunst. Die sinnliche Schönheit gab dem Künstler die schöne Natur, die idealische Schönheit die erhabenen Züge; von jener nahm er das Menschliche, von dieser das Göttliche.

Hat jemand Erleuchtung genug, in das Innerste der Kunst hineinzuschauen, so wird er durch Vergleichung des ganzen übrigen Baues der griechischen Figuren mit den meisten neuern, sonderlich in welchen man mehr der Natur als dem alten Geschmacke gefolgt ist, vielmals noch wenig entdeckte Schönheiten finden.

In den meisten Figuren neuerer Meister sieht man an den Teilen des Körpers, welche zusammengedrückt sind, kleine, gar zu sehr bezeichnete Falten der Haut; dahingegen wo sich ebendieselben Falten in gleichgedrückte Teile griechischer Figuren legen, ein sanfter Schwung eine aus der andern wellenförmig erhebt, dergestalt, daß diese Falten nur ein Ganzes und zusammen nur einen edlen Druck zu machen scheinen. Diese Meisterstücke zeigen uns eine Haut, die nicht angespannt, sondern sanft gezogen ist über ein gesundes Fleisch, welches dieselbe ohne schwülstige Ausdehnung füllt und bei allen Beugungen der fleischigen Teile der Richtung derselben vereinigt folgt. Die Haut wirft niemals, wie an unsern Körpern, besondere und von dem Fleisch getrennte kleine Falten.[9]

Ebenso unterscheiden sich die neuern Werke von den griechischen durch eine Menge kleiner Eindrücke und durch gar zu viele und gar zu sinnlich gemachte Grübchen, welche, wo sie sich in den Werken der Alten befinden, mit einer sparsamen Weisheit, nach der Masse derselben in der vollkommenern und völligern Natur unter den Griechen, sanft angedeutet und öfters nur durch ein gelehrtes Gefühl bemerkt werden.

Es bietet sich hier allezeit die Wahrscheinlichkeit von selbst dar, daß in der Bildung der schönen griechischen Körper, wie in den Werken ihrer Meister, mehr Einheit des ganzen Baues, eine edlere Verbindung der Teile, ein reicheres Maß der Fülle gewesen, ohne magere Spannungen und ohne viele eingefallene Höhlungen unserer Körper.

Man kann nicht weiter als bis zur Wahrscheinlichkeit gehen. Es verdient aber diese Wahrscheinlichkeit die Aufmerksamkeit unserer Künstler und Kenner der Kunst, und dieses um so viel mehr, da es notwendig ist, die Verehrung der Denkmale der Griechen von dem ihr von vielen beigemessenen Vorurteile zu befreien, um nicht zu scheinen, der Nachahmung derselben bloß durch den Moder der Zeit ein Verdienst beizulegen.

Dieser Punkt, über welchen die Stimmen der Künstler geteilt sind, erforderte eine ausführlichere Abhandlung, als in gegenwärtiger Absicht geschehen können.

Man weiß, daß der große Bernini einer von denen gewesen, die den Griechen den Vorzug einer teils schönern Natur, teils idealischen Schönheit ihrer Figuren hat streitig machen wollen. Er war außerdem der Meinung, daß die Natur allen ihren Teilen das erforderliche Schöne zu geben wisse; die Kunst bestehe darin, es zu finden. Er hat sich gerühmt, ein Vorurteil abgelegt zu haben, worin er in Ansehung des Reizes der Mediceischen Venus anfänglich gewesen, den er jedoch nach einem mühsamen Studium bei verschiedenen Gelegenheiten in der Natur wahrgenommen.

Also ist es die Venus gewesen, welche ihn Schönheiten in[10] der Natur entdecken gelehrt, die er vorher allein in jener zu finden geglaubt hat und die er ohne die Venus nicht würde in der Natur gesucht haben. Folgt nicht daraus, daß die Schönheit der griechischen Statuen eher zu entdecken ist als die Schönheit in der Natur und daß also jene rührender, nicht so sehr zerstreut, sondern mehr in eins vereinigt, als es diese ist? Das Studium der Natur muß also wenigstens ein längerer und mühsamerer Weg zur Kenntnis des vollkommenen Schönen sein, als es das Studium der Antiken ist, und Bernini hätte jungen Künstlern, die er allezeit auf das Schönste in der Natur vorzüglich wies, nicht den kürzesten Weg dazu gezeigt.

Die Nachahmung des Schönen der Natur ist entweder auf einen einzelnen Vorwurf gerichtet, oder sie sammelt die Bemerkungen aus verschiedenen einzelnen und bringt sie in eins. Jenes heißt, eine ähnliche Kopie, ein Porträt machen; es ist der Weg zu holländischen Formen und Figuren. Dieses aber ist der Weg zum allgemeinen Schönen und zu idealischen Bildern desselben, und derselbe ist es, den die Griechen genommen haben. Der Unterschied aber zwischen ihnen und uns ist dieser: die Griechen erlangten diese Bilder, wären auch dieselben nicht von schönern Körpern genommen gewesen, durch eine tägliche Gelegenheit zur Beobachtung des Schönen der Natur, die sich uns hingegen nicht alle Tage zeigt, und selten so, wie sie der Künstler wünscht.

Unsere Natur wird nicht leicht einen so vollkommenen Körper zeigen, dergleichen der Antinous Admirandus hat, und die Idee wird sich über die mehr als menschlichen Verhältnisse einer schönen Gottheit in dem vatikanischen Apollo nichts bilden können. Was Natur, Geist und Kunst hervorzubringen vermögend gewesen, liegt hier vor Augen.

Ich glaube, ihre Nachahmung könne lehren, geschwinder klug zu werden, weil sie hier in dem einen den Inbegriff desjenigen findet, was in der ganzen Natur ausgeteilt ist, und in dem andern, wie weit die schönste Natur sich über sich selbst, kühn aber weislich, erheben kann. Sie wird lehren,[11] mit Sicherheit zu denken und zu entwerfen, indem sie hier die höchsten Grenzen des menschlich und zugleich des göttlich Schönen bestimmt sieht.

Wenn der Künstler auf diesen Grund baut und sich die griechische Regel der Schönheit Hand und Sinne führen läßt, so ist er auf dem Wege, der ihn sicher zur Nachahmung der Natur führen wird. Die Begriffe des Ganzen, des Vollkommenen in der Natur des Altertums werden die Begriffe des Geteilten in unserer Natur bei ihm läutern und sinnlicher machen. Er wird bei Entdeckung der Schönheiten derselben diese mit dem vollkommenen Schönen zu verbinden wissen, und durch Hilfe der ihm beständig gegenwärtigen erhabenen Formen wird er sich selbst eine Regel werden.

Alsdann und nicht eher kann er, sonderlich der Maler, sich der Nachahmung der Natur überlassen in solchen Fällen, wo ihm die Kunst verstattet, von dem Marmor abzugehen, wie in Gewändern, und sich mehr Freiheit zu geben, wie Poussin getan; denn »derjenige, welcher beständig andern nachgeht, wird niemals vorauskommen, und welcher aus sich selbst nichts Gutes zu machen weiß, wird sich auch der Sachen von anderen nicht gut bedienen«, wie Michelangelo sagt.

Seelen, denen die Natur hold gewesen,


Quibus arte benigna

Et meliore luto finxit praecordia Titan,


haben hier den Weg vor sich offen, Originale zu werden.

In diesem Verstande ist es zu nehmen, wenn de Piles berichten will, daß Raffael zu der Zeit, da ihn der Tod übereilt, sich bestrebt habe, den Marmor zu verlassen und der Natur gänzlich nachzugehen. Der wahre Geschmack des Altertums würde ihn auch durch die gemeine Natur hindurch beständig begleitet haben, und alle Bemerkungen in derselben würden bei ihm durch eine Art einer chemischen Verwandlung dasjenige geworden sein, was sein Wesen, seine Seele ausmachte.[12]

Er würde vielleicht mehr Mannigfaltigkeit, größere Gewänder, mehr Kolorit, mehr Licht und Schatten seinen Gemälden gegeben haben, aber seine Figuren würden dennoch allezeit weniger schätzbar hierdurch, als durch den edlen Kontur und durch die erhabene Seele, die er aus den Griechen hat bilden lernen, gewesen sein.

Nichts würde den Vorzug der Nachahmung der Alten vor der Nachahmung der Natur deutlicher zeigen können, als wenn man zwei junge Leute nähme von gleich schönem Talente und den einen das Altertum, den andern die bloße Natur studieren ließe. Dieser würde die Natur bilden, wie er sie findet. Als ein Italiener würde er Figuren malen vielleicht wie Caravaggio, als ein Niederländer, wenn er glücklich ist, wie Jacob Jordaens, als ein Franzose wie Stella; jener aber würde die Natur bilden, wie sie es verlangt, und Figuren malen wie Raffael.

Könnte auch die Nachahmung der Natur dem Künstler alles geben, so würde gewiß die Richtigkeit im Kontur durch sie nicht zu erhalten sein. Diese muß von den Griechen allein erlernt werden.

Der edelste Kontur vereinigt oder umschreibt alle Teile der schönsten Natur und der idealischen Schönheiten in den Figuren der Griechen, oder er ist vielmehr der höchste Begriff in beiden. Euphranor, der nach des Zeuxis Zeiten sich hervortat, wird für den ersten gehalten, der demselben die erhabenere Manier gegeben.

Viele unter den neueren Künstlern haben den griechischen Kontur nachzuahmen gesucht, und fast niemandem ist es gelungen. Der große Rubens ist weit entfernt von dem griechischen Umrisse der Körper, und in denjenigen unter seinen Werken, die er vor seiner Reise nach Italien und vor dem Studium der Antiken gemacht hat, am weitesten.

Die Linie, welche das Völlige der Natur von dem Überflüssigen derselben scheidet, ist sehr klein, und die größten neueren Meister sind über diese nicht allezeit greifliche Grenze auf beiden Seiten zu sehr abgewichen. Derjenige,[13] welcher einen ausgehungerten Kontur vermeiden wollen, ist in die Schwulst verfallen, der diese vermeiden wollen, in das Magere.

Michelangelo ist vielleicht der einzige, von dem man sagen könnte, daß er das Altertum erreicht, aber nur in starken muskulösen Figuren, in Körpern aus der Heldenzeit, nicht in zärtlich jugendlichen, nicht in weiblichen Figuren, welche unter seiner Hand zu Amazonen geworden sind.

Der griechische Künstler hingegen hat seinen Kontur in allen Figuren wie auf die Spitze eines Haars gesetzt, auch in den feinsten und mühsamsten Arbeiten, dergleichen auf geschnittenen Steinen ist. Man betrachte den Diomedes und den Perseus des Dioskorides, den Herkules mit der Iole von der Hand des Teucer und bewundere die hier unnachahmlichen Griechen.

Parrhasius wird insgemein für den Stärksten im Kontur gehalten.

Auch unter den Gewändern der griechischen Figuren herrscht der meisterhafte Kontur, als die Hauptabsicht des Künstlers, der auch durch den Marmor hindurch den schönen Bau seines Körpers, wie durch ein koisches Kleid, zeigt.

Die im hohen Stile gearbeitete Agrippina und die drei Vestalen unter den Königlichen Antiken in Dresden verdienen hier als große Muster angeführt zu werden. Agrippina ist vermutlich nicht die Mutter des Nero, sondern die ältere Agrippina, eine Gemahlin des Germanicus. Sie hat sehr viel Ähnlichkeit mit einer vorgegebenen stehenden Statue ebendieser Agrippina in dem Vorsaale der Bibliothek zu San Marco in Venedig. Unsere ist eine sitzende Figur, größer als die Natur, mit auf die rechte Hand gestütztem Haupte. Ihr schönes Gesicht zeigt eine Seele, die in tiefe Betrachtungen versenkt und vor Sorgen und Kummer gegen alle äußeren Empfindungen fühllos scheint. Man könnte mutmaßen, der Künstler habe die Heldin in dem betrübten Augenblick vorstellen wollen, da ihr die Verweisung nach der Insel Pandataria war angekündigt worden.[14]

Die drei Vestalen sind unter einem doppelten Titel verehrungswürdig. Sie sind die ersten großen Entdeckungen von Herculanum, allein, was sie noch schätzbarer macht, ist die große Manier in ihren Gewändern. In diesem Teile der Kunst sind sie alle drei, sonderlich aber diejenige, welche größer ist als die Natur, der Farnesischen Flora und anderen griechischen Werken vom ersten Range beizusetzen. Die zwei andern, groß wie die Natur, sind einander so ähnlich, daß sie von einer und ebenderselben Hand zu sein scheinen; sie unterscheiden sich allein durch die Köpfe, welche nicht von gleicher Güte sind. An dem besten Kopfe liegen die gekräuselten Haare nach Art der Furchen geteilt, von der Stirne an bis da, wo sie hinten zusammengebunden sind. An dem andern Kopfe gehen die Haare glatt über den Scheitel, und die vorderen gekräuselten Haare sind durch ein Band gesammelt und gebunden. Es ist glaublich, daß dieser Kopf durch eine neuere, wiewohl gute Hand gearbeitet und angesetzt worden.

Das Haupt dieser beiden Figuren ist mit keinem Schleier bedeckt, welches ihnen aber den Titel der Vestalen nicht streitig macht, da erweislich ist, daß sich auch anderwärts Priesterinnen der Vesta ohne Schleier finden. Oder es scheint vielmehr aus den starken Falten des Gewandes hinten am Halse, daß der Schleier, welcher kein abgesonderter Teil vom Gewande ist, wie an der größten Vestale zu sehen, hinten übergeschlagen liege.

Es verdient der Welt bekanntgemacht zu werden, daß diese drei göttlichen Stücke die ersten Spuren gezeigt zur nachfolgenden Entdeckung der unterirdischen Schätze von der Stadt Herculanum.

Sie kamen an das Tageslicht, da noch das Andenken derselben gleichsam unter der Vergessenheit, so wie die Stadt selbst unter ihren eigenen Ruinen, vergraben und verschüttet lag, zu der Zeit, da das traurige Schicksal, welches diesen Ort betroffen, nur fast noch allein durch des jüngern Plinius Nachricht von dem Ende seines Vetters, welches ihn in der[15] Verwüstung von Herculanum zugleich mit übereilte, bekannt war.

Diese großen Meisterstücke der griechischen Kunst wurden schon unter den deutschen Himmel versetzt und daselbst verehrt, da Neapel noch nicht das Glück hatte, ein einziges herculanisches Denkmal, soviel man erfahren können, aufzuweisen.

Sie wurden im Jahr 1706 in Portici bei Neapel in einem verschütteten Gewölbe gefunden, da man den Grund grub zu einem Landhause des Prinzen von Elbeuf, und sie kamen unmittelbar hernach, nebst andern daselbst entdeckten Statuen in Marmor und Erz, in den Besitz des Prinzen Eugen nach Wien.

Dieser große Kenner der Künste, um einen vorzüglichen Ort zu haben, wo dieselben könnten aufgestellt werden, hat vornehmlich für diese drei Figuren eine Sala terrena bauen lassen, wo sie nebst einigen andern Statuen ihren Platz bekommen haben. Die ganze Akademie und alle Künstler in Wien waren gleichsam in Empörung, da man nur noch ganz dunkel von derselben Verkauf sprach, und ein jeder sah denselben mit betrübten Augen nach, als sie von Wien nach Dresden fortgeführt wurden.

Der berühmte Matielli, dem Polyklet das Maß und Phidias das Eisen gab (Algarotti), hat, ehe noch dieses geschah, alle drei Vestalen mit dem mühsamsten Fleiße in Ton kopiert, um sich den Verlust derselben dadurch zu ersetzen. Er folgte ihnen einige Jahre hernach und erfüllte Dresden mit ewigen Werken seiner Kunst, aber seine Priesterinnen blieben auch hier sein Studium in der Draperie, worin seine Stärke bestand bis in sein Alter, welches zugleich ein nicht ungegründetes Vorurteil ihrer Trefflichkeit ist.

Unter dem Wort Draperie begreift man alles, was die Kunst von Bekleidung des Nackenden der Figuren und von gebrochenen Gewändern lehrt. Diese Wissenschaft ist nach der schönen Natur und nach dem edlen Kontur der dritte Vorzug der Werke des Altertums.[16]

Die Draperie der Vestalen ist in der höchsten Manier. Die kleinen Brüche entstehen durch einen sanften Schwung aus den größten Partien und verlieren sich wieder in diesen mit einer edlen Freiheit und sanften Harmonie des Ganzen, ohne den schönen Kontur des Nackenden zu verstecken. Wie wenig neuere Meister sind in diesem Teile der Kunst ohne Tadel!

Diese Gerechtigkeit aber muß man einigen großen Künstlern, sonderlich Malern neuerer Zeiten, widerfahren lassen, daß sie in gewissen Fällen von dem Wege, den die griechischen Meister in Bekleidung ihrer Figuren am gewöhnlichsten gehalten haben, ohne Nachteil der Natur und Wahrheit abgegangen sind. Die griechische Draperie ist meistenteils nach dünnen und nassen Gewändern gearbeitet, die sich folglich, wie Künstler wissen, dicht an die Haut und an den Körper schließen und das Nackende desselben sehen lassen. Das ganze oberste Gewand des griechischen Frauenzimmers war ein sehr dünnes Zeug; es hieß daher Peplon, ein Schleier.

Daß die Alten nicht allezeit fein gebrochene Gewänder gemacht haben, zeigen die erhobenen Arbeiten derselben, die alten Malereien und sonderlich die alten Brustbilder. Der schöne Caracalla unter den Königlichen Antiken in Dresden kann dieses bestätigen.

In den neuern Zeiten hat man ein Gewand über das andere, und zuweilen schwere Gewänder, zu legen gehabt, die nicht in so sanfte und fließende Brüche, wie der Alten ihre sind, fallen können. Dieses gab folglich Anlaß zu der neuen Manier der großen Partien in Gewändern, in welcher der Meister seine Wissenschaft nicht weniger als in der gewöhnlichen Manier der Alten zeigen kann.

Carl Maratta und Franz Solimena können in dieser Art für die Größten gehalten werden. Die neue venezianische Schule, welche noch weiter zu gehen gesucht, hat diese Manier übertrieben, und indem sie nichts als große Partien gesucht, sind ihre Gewänder dadurch steif und blechern worden.

Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt und eine stille[17] Größe, sowohl in der Stellung als im Ausdruck. So wie die Tiefe des Meeres allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, ebenso zeigt der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele. Diese Seele schildert sich in dem Gesichte des Laokoon, und nicht in dem Gesichte allein, bei dem heftigsten Leiden. Der Schmerz, welcher sich in allen Muskeln und Sehnen des Körpers entdeckt und den man ganz allein, ohne das Gesicht und andere Teile zu betrachten, an dem schmerzlich eingezogenen Unterleibe beinahe selbst zu empfinden glaubt, dieser Schmerz, sage ich, äußert sich dennoch mit keiner Wut in dem Gesichte und in der ganzen Stellung. Er erhebt kein schreckliches Geschrei, wie Virgil von seinem Laokoon singt. Die Öffnung des Mundes gestattet es nicht; es ist vielmehr ein ängstliches und beklemmtes Seufzen, wie es Sadolet beschreibt. Der Schmerz des Körpers und die Größe der Seele sind durch den ganzen Bau der Figur mit gleicher Stärke ausgeteilt und gleichsam abgewogen. Laokoon leidet, aber er leidet wie des Sophokles Philoktetes: sein Elend geht uns bis an die Seele, aber wir wünschten, wie dieser große Mann das Elend ertragen zu können.

Der Ausdruck einer so großen Seele geht weit über die Bildung der schönen Natur: der Künstler mußte die Stärke des Geistes in sich selbst fühlen, welche er seinem Marmor einprägte. Griechenland hatte Künstler und Weltweise in einer Person und mehr als einen Metrodor. Die Weisheit reichte der Kunst die Hand und blies den Figuren derselben mehr als gemeine Seelen ein.

Unter einem Gewande, welches der Künstler dem Laokoon als einem Priester hätte geben sollen, würde uns sein Schmerz nur halb so sinnlich gewesen sein. Bernini hat sogar den Anfang der Wirkung des Gifts der Schlange in dem einen Schenkel des Laokoon an der Erstarrung desselben entdecken wollen.

Alle Handlungen und Stellungen der griechischen Figuren, die mit diesem Charakter der Weisheit nicht bezeichnet, sondern[18] gar zu feurig und wild waren, verfielen in einen Fehler, den die alten Künstler »Parenthyrsis« nannten.

Je ruhiger der Stand des Körpers ist, desto geschickter ist er, den wahren Charakter der Seele zu schildern. In allen Stellungen, die von dem Stande der Ruhe zu sehr abweichen, befindet sich die Seele nicht in dem Zustande, der ihr der eigentlichste ist, sondern in einem gewaltsamen und erzwungenen Zustande. Kenntlicher und bezeichnender wird die Seele in heftigen Leidenschaften, groß aber und edel ist sie in dem Stande der Einheit, in dem Stande der Ruhe. Im Laokoon würde der Schmerz, allein gebildet, Parenthyrsis gewesen sein; der Künstler gab ihm daher, um das Bezeichnende und das Edle der Seele in eins zu vereinigen, eine Aktion, die dem Stande der Ruhe in solchem Schmerze der nächste war. Aber in dieser Ruhe muß die Seele durch Züge, die ihr und keiner andern Seele eigen sind, bezeichnet werden, um sie ruhig, aber zugleich wirksam, stille, aber nicht gleichgültig oder schläfrig zu bilden.

Das wahre Gegenteil und das diesem entgegenstehende äußerste Ende ist der gemeinste Geschmack der heutigen, sonderlich [der] angehenden Künstler. Ihren Beifall verdient nichts, als worin ungewöhnliche Stellungen und Handlungen, die ein freches Feuer begleitet, herrschen, welches sie mit Geist, mit Franchezza, wie sie reden, ausgeführt heißen. Der Liebling ihrer Begriffe ist der Kontrapost, der bei ihnen der Inbegriff aller selbst gebildeten Eigenschaften eines vollkommenen Werks der Kunst ist. Sie verlangen eine Seele in ihren Figuren, die wie ein Komet aus ihrem Kreise weicht; sie wünschen in jeder Figur einen Ajax und einen Capaneus zu sehen.

Die schönen Künste haben ihre Jugend sowohl wie die Menschen, und der Anfang dieser Künste scheint wie der Anfang bei Künstlern gewesen zu sein, wo nur das Hochtrabende, das Erstaunende gefällt. Sol che Gestalt hatte die tragische Muse des Äschylus, und sein Agamemnon ist zum Teil durch Hyperbolen viel dunkler geworden als alles, was[19] Heraklit geschrieben. Vielleicht haben die ersten griechischen Maler nicht anders gezeichnet, als ihr erster guter Tragikus gedichtet hat.

Das Heftige, das Flüchtige geht in allen menschlichen Handlungen voran; das Gesetzte, das Gründliche folgt zuletzt. Dieses letztere aber gebraucht Zeit, es zu bewundern; es ist nur großen Meistern eigen; heftige Leidenschaften sind ein Vorteil auch für ihre Schüler.

Die Weisen in der Kunst wissen, wie schwer dieses scheinbare Nachahmliche ist,


... ut sibi quivis

Speret idem, sudet multum, frustraque laboret

Ausus idem.


La Fage, der große Zeichner, hat den Geschmack der Alten nicht erreichen können. Alles ist in Bewegung in seinen Werken, und man wird in der Betrachtung derselben geteilt und zerstreut, wie in einer Gesellschaft, wo alle Personen zugleich reden wollen.

Die edle Einfalt und stille Größe der griechischen Statuen ist zugleich das wahre Kennzeichen der griechischen Schriften aus den besten Zeiten, der Schriften aus Sokrates' Schule, und diese Eigenschaften sind es, welche die vorzügliche Größe eines Raffael machen, zu welcher er durch die Nachahmung der Alten gelangt ist.

Eine so schöne Seele, wie die seinige war, in einem so schönen Körper wurde erfordert, den wahren Charakter der Alten in neueren Zeiten zuerst zu empfinden und zu entdecken, und was sein größtes Glück war, schon in einem Alter, in welchem gemeine und halbgeformte Seelen über die wahre Größe ohne Empfindung bleiben.

Mit einem Auge, welches diese Schönheiten empfinden gelernt, mit diesem wahren Geschmacke des Altertums muß man sich seinen Werken nähern. Alsdann wird uns die Ruhe und Stille der Hauptfiguren in Raffaels Attila, welche vielen leblos scheinen, sehr bedeutend und erhaben sein. Der römische[20] Bischof, der das Vorhaben des Königs der Hunnen, auf Rom loszugehen, abwendet, erscheint nicht mit Gebärden und Bewegungen eines Redners, sondern als ein ehrwürdiger Mann, der bloß durch seine Gegenwart einen Aufruhr stillt, wie derjenige, den uns Virgil beschreibt,


Tum pietate gravem ac meritis si forte virum quem

Conspexere, silent arrectisque auribus adstand,


mit einem Gesichte voll göttlicher Zuversicht vor den Augen des Wüterichs. Die beiden Apostel schweben nicht wie Würgeengel in den Wolken, sondern, wenn es erlaubt ist, das Heilige mit dem Unheiligen zu vergleichen, wie Homers Jupiter, der durch das Winken seiner Augenlider den Olympus erschüttern macht.

Algardi, in seiner berühmten Vorstellung ebendieser Geschichte, in halb erhobener Arbeit an einem Altar der St. Peterskirche in Rom, hat die wirksame Stille seines großen Vorgängers den Figuren seiner beiden Apostel nicht gegeben oder zu geben verstanden. Dort erscheinen sie wie Gesandte des Herrn der Heerscharen, hier wie sterbliche Krieger mit menschlichen Waffen.

Wie wenig Kenner hat der schöne St. Michael des Guido Reni in der Kapuzinerkirche zu Rom gefunden, welche die Größe des Ausdrucks, die der Künstler seinem Erzengel gegeben, einzusehen vermögend gewesen! Man gibt des Conca seinem Michael den Preis vor jenem, weil er Unwillen und Rache im Gesichte zeigt, anstatt daß jener, nachdem er den Feind Gottes und der Menschen gestürzt, ohne Erbitterung mit einer heiteren und ungerührten Miene über ihm schwebt.

Ebenso ruhig und stille malt der englische Dichter den rächenden Engel, der über Britannien schwebt, mit welchem er den Helden seines Feldzugs, den Sieger bei Blenheim, vergleicht.

Die Königliche Galerie der Schildereien in Dresden enthält nunmehr unter ihren Schätzen ein würdiges Werk von[21] Raffaels Hand, und zwar von seiner besten Zeit, wie Vasari und andere mehr bezeugen. Eine Madonna mit dem Kinde, dem h. Sixtus und der h. Barbara, kniend auf beiden Seiten, nebst zwei Engeln im Vordergrunde.

Es war dieses Bild das Hauptaltarblatt des Klosters St. Sixti in Piacenza. Liebhaber und Kenner der Kunst gingen dahin, um diesen Raffael zu sehen, so wie man nur allein nach Thespiä reiste, den schönen Cupido von der Hand des Praxiteles daselbst zu betrachten.

Seht die Madonna, mit einem Gesichte voll Unschuld und zugleich einer mehr als weiblichen Größe, in einer selig ruhigen Stellung, in derjenigen Stille, welche die Alten in den Bildern ihrer Gottheiten herrschen ließen. Wie groß und edel ist ihr ganzer Kontur!

Das Kind auf ihren Armen ist ein Kind, über gemeine Kinder erhaben durch ein Gesicht, aus welchem ein Strahl der Gottheit durch die Unschuld der Kindheit hervorzuleuchten scheint.

Die Heilige unter ihr kniet ihr zur Seite in einer anbetenden Stille ihrer Seele, aber weit unter der Majestät der Hauptfigur, welche Erniedrigung der große Meister durch den sanften Reiz in ihrem Gesichte er setzt hat.

Der Heilige dieser Figur gegenüber ist der ehrwürdigste Alte, mit Gesichtszügen, die von seiner Gott geweihten Jugend zu zeugen scheinen.

Die Ehrfurcht der h. Barbara gegen die Madonna, welche durch ihre an die Brust gedrückten schönen Hände sinnlicher und rührender gemacht ist, hilft bei dem Heiligen die Bewegung seiner einen Hand ausdrücken. Ebendiese Aktion malt uns die Entzückung des Heiligen, welche der Künstler zu mehrerer Mannigfaltigkeit, weislicher der männlichen Stärke als der weiblichen Züchtigkeit, [hat] geben wollen.

Die Zeit hat allerdings vieles von dem scheinbaren Glanze dieses Gemäldes geraubt, und die Kraft der Farben ist zum Teil ausgewittert, allein die Seele, welche der Schöpfer dem Werke seiner Hände eingeblasen, belebt es noch jetzt.[22]

Alle diejenigen, welche zu diesem und andern Werken Raffaels treten, in der Hoffnung, die kleinen Schönheiten anzutreffen, die den Arbeiten der niederländischen Maler einen so hohen Preis geben, den mühsamen Fleiß eines Netscher oder eines Dou, das elfenbeinerne Fleisch eines van der Werff oder auch die geleckte Manier einiger von Raffaels Landsleuten unserer Zeit, diese, sage ich, werden den großen Raffael in dem Raffael vergebens suchen.

Nach dem Studium der schönen Natur, des Konturs, der Draperie und der edlen Einfalt und stillen Größe in den Werken griechischer Meister wäre die Nachforschung über ihre Art zu arbeiten ein nötiges Augenmerk der Künstler, um in der Nachahmung derselben glücklicher zu sein.

Es ist bekannt, daß sie ihre ersten Modelle meistenteils in Wachs gemacht haben; die neuern Meister aber haben anstatt dessen Ton oder dergleichen geschmeidige Massen gewählt. Sie fanden dieselben, sonderlich um das Fleisch auszudrücken, geschickter als das Wachs, welches ihnen hierzu gar zu klebrig und zähe schien.

Man will unterdessen nicht behaupten, daß die Art, in nassen Ton zu bilden, den Griechen unbekannt oder nicht üblich bei ihnen gewesen. Man weiß sogar den Namen desjenigen, welcher den ersten Versuch hierin gemacht hat. Dibutades von Sikyon ist der erste Meister einer Figur in Ton, und Arcesilaus, der Freund des großen Lucullus, ist mehr durch seine Modelle in Ton als durch seine Werke selbst berühmt worden. Er machte für den Lucullus eine Figur in Ton, welche die Glückseligkeit vorstellte, die dieser mit 60 000 Sesterzen erhandelt hatte, und der Ritter Octavius gab ebendiesem Künstler ein Talent für ein bloßes Modell in Gips zu einer großen Tasse, die jener wollte in Gold arbeiten lassen.

Der Ton wäre die geschickteste Materie, Figuren zu bilden, wenn er seine Feuchtigkeit behielte. Da ihm aber diese entgeht, wenn er trocken und gebrannt wird, so werden folglich die festeren Teile desselben näher zusammentreten, und[23] die Figur wird an ihrer Masse verlieren und einen engeren Raum einnehmen. Litte die Figur diese Verminderung in gleichem Grade in allen ihren Punkten und Teilen, so bliebe ebendasselbe, obgleich verminderte Verhältnis. Die kleinen Teile derselben aber werden geschwinder trocken als die größeren, und der Leib der Figur, als der stärkste Teil, am spätesten; und jenen wird also in gleicher Zeit mehr an ihrer Masse fehlen als diesem.

Das Wachs hat diese Unbequemlichkeit nicht; es verschwindet nichts davon, und es kann demselben die Glätte des Fleisches, die es im Poussieren nicht ohne große Mühe annehmen will, durch einen andern Weg gegeben werden.

Man macht sein Modell von Ton; man formt es in Gips und gießt es alsdann in Wachs.

Die eigentliche Art der Griechen aber, nach ihren Modellen in Marmor zu arbeiten, scheint nicht diejenige gewesen zu sein, welche unter den meisten heutigen Künstlern üblich ist. In dem Marmor der Alten entdeckt sich allenthalben die Gewißheit und Zuversicht des Meisters, und man wird auch in ihren Werken von niedrigem Range nicht leicht dartun können, daß irgendwo etwas zuviel weggehauen worden. Diese sichere und richtige Hand der Griechen muß durch bestimmtere und zuverlässigere Regeln, als bei uns gebräuchlich sind, notwendig geführt worden sein.

Der gewöhnliche Weg unserer Bildhauer ist, über ihre Modelle, nachdem sie dieselben wohl ausstudiert und aufs beste geformt haben, Horizontal- und Perpendikularlinien zu ziehen, die folglich einander durchschneiden. Alsdann verfahren sie, wie man ein Gemälde durch ein Gitter verjüngt und vergrößert, und ebensoviel einander durchschneidende Linien werden auf den Stein getragen.

Es zeigt also ein jedes kleine Viereck des Modells seine Flächenmaße auf jedes große Viereck des Steins an. Allein weil dadurch nicht der körperliche Inhalt bestimmt werden kann, folglich auch weder der rechte Grad der Erhöhung und Vertiefung des Modells hier gar genau zu beschreiben[24] ist, so wird der Künstler zwar seiner künftigen Figur ein gewisses Verhältnis des Modells geben können, aber da er sich nur der Kenntnis seines Auges überlassen muß, so wird er beständig zweifelhaft bleiben, ob er zu tief oder zu flach nach seinem Entwurf gearbeitet, ob er zuviel oder zuwenig Masse weggenommen.

Er kann auch weder den äußeren Umriß, noch denjenigen, welcher die inneren Teile des Modells, oder diejenigen, welche gegen die Mitte zu gehen, oft nur wie mit einem Hauch anzeigt, durch solche Linien bestimmen, durch die er ganz untrüglich und ohne die geringste Abweichung ebendieselben Umrisse auf seinen Stein entwerfen könnte.

Hierzu kommt, daß in einer weitläufigen Arbeit, welche der Bildhauer allein nicht bestreiten kann, er sich der Hand seiner Gehilfen bedienen muß, die nicht allezeit geschickt sind, die Absichten von jenem zu erreichen. Geschieht es, daß einmal etwas verhauen ist, weil unmöglich nach dieser Art Grenzen der Tiefen können gesetzt werden, so ist der Fehler unersetzlich.

Überhaupt ist hier zu merken, daß derjenige Bildhauer, der schon bei der ersten Bearbeitung seines Steins seine Tiefen bohrt, so weit als sie reichen sollen, und dieselben nicht nach und nach sucht, so, daß sie durch die letzte Hand allererst ihre gesetzte Höhlung erhalten, daß dieser, sage ich, niemals wird sein Werk von Fehlern reinigen können.

Es findet sich auch hier dieser Hauptmangel, daß die auf den Stein getragenen Linien alle Augenblicke weggehauen und ebensooft, nicht ohne Besorgnis der Abweichung, von neuem müssen gezogen und ergänzt werden.

Die Ungewißheit, nach dieser Art, nötigte also die Künstler, einen sicherern Weg zu suchen, und derjenige, welchen die französische Akademie in Rom erfunden und zum Kopieren der alten Statuen zuerst gebraucht hat, wurde von vielen, auch im Arbeiten nach Modellen, angenommen.

Man befestigt nämlich über einer Statue, die man kopieren will, nach dem Verhältnis derselben ein Viereck, von welchem[25] man nach gleich eingeteilten Graden Bleifäden herunterfallen läßt. Durch diese Fäden werden die äußersten Punkte der Figur deutlicher bezeichnet, als in der ersten Art durch Linien auf der Fläche, wo ein jeder Punkt der äußerste ist, geschehen konnte. Sie geben auch dem Künstler ein sinnlicheres Maß von einigen der stärksten Erhöhungen und Vertiefungen durch die Grade ihrer Entfernung von Teilen, welche sie decken, und er kann durch Hilfe derselben etwas herzhafter gehen.

Da aber der Schwung einer krummen Linie durch eine einzige gerade Linie nicht genau zu bestimmen ist, so werden ebenfalls die Umrisse der Figur durch diesen Weg sehr zweifelhaft für den Künstler angedeutet, und in geringen Abweichungen von ihrer Hauptfläche wird sich derselbe alle Augenblicke ohne Leitfaden und ohne Hilfe sehen.

Es ist sehr begreiflich, daß in dieser Manier auch das wahre Verhältnis der Figuren schwer zu finden ist. Man sucht dieselben durch Horizontallinien, welche die Bleifäden durchschneiden. Die Lichtstrahlen aber aus den Vierecken, die diese von der Figur abstehenden Linien machen, werden unter einem desto größeren Winkel ins Auge fallen, folglich größer erscheinen, je höher oder tiefer sie unserem Sehpunkte sind.

Zum Kopieren der Antiken, mit denen man nicht nach Gefallen umgehen kann, behalten die Bleifäden noch bis jetzt ihren Wert, und man hat diese Arbeit noch nicht leichter und sicherer machen können; aber im Arbeiten nach einem Modell ist dieser Weg aus angezeigten Gründen nicht bestimmt genug.

Michelangelo hat einen vor ihm unbekannten Weg genommen, und man muß sich wundern, da ihn die Bildhauer als ihren großen Meister verehren, daß vielleicht niemand unter ihnen sein Nachfolger geworden ist.

Dieser Phidias neuerer Zeiten, und der größte nach den Griechen, ist, wie man vermuten könnte, auf die wahre Spur seiner großen Lehrer gekommen, wenigstens ist kein anderes[26] Mittel der Welt bekannt geworden, alle möglichen sinnlichen Teile und Schönheiten des Modells auf die Figur selbst hinüberzutragen und auszudrücken.

Vasari hat die Erfindung desselben etwas unvollkommen beschrieben. Der Begriff nach dessen Bericht ist folgender:

Michelangelo nahm ein Gefäß mit Wasser, in welches er sein Modell von Wachs oder von einer harten Materie legte. Er erhöhte dasselbe allmählich bis zur Oberfläche des Wassers. Also entdeckten sich zuerst die erhobenen Teile, und die vertieften waren bedeckt, bis endlich das ganze Modell bloß und außer dem Wasser lag. Auf eben die Art, sagt Vasari, arbeitete Michelangelo seinen Marmor; er deutete zuerst die erhobenen Teile an und nach und nach die tieferen.

Es scheint, Vasari habe entweder von der Manier seines Freundes nicht den deutlichsten Begriff gehabt, oder die Nachlässigkeit in seiner Erzählung verursacht, daß man sich dieselbe etwas verschieden von dem, was er berichtet, vorstellen muß.

Die Form des Wassergefäßes ist hier nicht deutlich genug bestimmt. Die nach und nach geschehene Erhebung seines Modells aus dem Wasser von unten auf würde sehr mühsam sein und setzt viel mehr voraus, als uns der Geschichtsschreiber der Künstler hat wollen wissen lassen.

Man kann überzeugt sein, daß Michelangelo diesen von ihm erfundenen Weg werde aufs möglichste ausstudiert und sich bequem gemacht haben. Er ist aller Wahrscheinlichkeit nach folgendergestalt verfahren:

Der Künstler nahm ein Gefäß nach der Form der Masse zu seiner Figur, die wir ein langes Viereck setzen wollen. Er bezeichnete die Oberfläche der Seiten dieses viereckigen Kastens mit gewissen Abteilungen, die er nach einem vergrößerten Maßstabe auf seinen Stein hinübertrug, und außerdem bemerkte er die inwendigen Seiten desselben von oben bis auf den Grund mit gewissen Graden. In den Kasten legte er sein Modell von schwerer Materie oder befestigte es an dem Boden, wenn es von Wachs war. Er bespannte etwa den[27] Kasten mit einem Gitter nach den gemachten Abteilungen, nach welchen er Linien auf seinen Stein zeichnete und vermutlich unmittelbar hernach seine Figur. Auf das Modell goß er Wasser, bis es an die äußersten Punkte der erhobenen Teile reichte, und nachdem er denjenigen Teil bemerkt hatte, der auf seiner gezeichneten Figur erhoben werden mußte, ließ er ein gewisses Maß Wasser ab, um den erhobenen Teil des Modells etwas weiter hervorgehen zu lassen, und fing alsdann an, diesen Teil zu bearbeiten, nach dem Maße der Grade, wie er sich entdeckte. War zu gleicher Zeit ein anderer Teil seines Modells sichtbar geworden, so wurde er auch, soweit er bloß war, bearbeitet, und so verfuhr er mit allen erhobenen Teilen.

Es wurde mehr Wasser abgelassen, bis auch die Vertiefungen hervorlagen. Die Grade des Kastens zeigten ihm allemal die Höhe des gefallenen Wassers und die Fläche des Wassers die äußerste Grundlinie der Tiefen an. Ebensoviel Grade auf seinem Steine waren seine wahren Maße.

Das Wasser beschrieb ihm nicht allein die Höhen und Tiefen, sondern auch den Kontur seines Modells, und der Raum von den inneren Seiten des Kastens bis an den Umriß der Linie des Wassers, dessen Größe die Grade der anderen zwei Seiten gaben, war in jedem Punkte das Maß, wieviel er von seinem Steine wegnehmen konnte.

Sein Werk hatte nunmehr die erste, aber richtige Form erhalten. Die Fläche des Wassers hatte ihm eine Linie beschrieben, von welcher die äußersten Punkte der Erhobenheiten Teile sind. Diese Linie war mit dem Falle des Wassers in seinem Gefäße gleichfalls waagerecht fortgerückt, und der Künstler war dieser Bewegung mit seinem Eisen gefolgt, bis dahin, wo ihm das Wasser den niedrigsten Abhang der erhobenen Teile, der mit den Flächen zusammenfließt, bloß zeigte. Er war also mit jedem verjüngten Grade in dem Kasten seines Modells einen gleichgesetzten größeren Grad auf seiner Figur fortgegangen, und auf diese Art hatte ihn die Linie des Wassers bis über den äußersten Kontur in seiner[28]

Arbeit geführt, so daß das Modell nunmehr vom Wasser entblößt lag.

Seine Figur verlangte die schöne Form. Er goß von neuem Wasser auf sein Modell, bis zu einer ihm dienlichen Höhe, und alsdann zählte er die Grade des Kastens bis auf die Linie, welche das Wasser beschrieb, wodurch er die Höhe des erhobenen Teils ersah. Auf ebendenselben erhobenen Teil seiner Figur legte er sein Richtscheit vollkommen waagerecht, und von der untersten Linie desselben nahm er die Maße bis auf die Vertiefung. Fand er eine gleiche Anzahl verjüngter und größerer Grade, so war dieses eine Art geometrischer Berechnung des Inhalts, und er erhielt den Beweis, daß er richtig verfahren war.

Bei der Wiederholung seiner Arbeit suchte er den Druck und die Bewegung der Muskeln und Sehnen, den Schwung der übrigen kleinen Teile und das Feinste der Kunst in seinem Modelle auch in seiner Figur auszuführen. Das Wasser, welches sich auch an die unmerklichsten Teile legte, zog den Schwung derselben aufs schärfste nach und beschrieb ihm mit der richtigsten Linie den Kontur derselben.

Dieser Weg verhindert nicht, dem Modelle alle möglichen Lagen zu geben. Ins Profil gelegt, wird es dem Künstler vollends entdecken, was er übersehen hat. Es wird ihm auch den äußeren Kontur seiner erhobenen und seiner inneren Teile und den ganzen Durchschnitt zeigen.

Alles dieses und die Hoffnung eines guten Erfolgs der Arbeit setzt ein Modell voraus, welches mit Händen der Kunst nach dem wahren Geschmacke des Altertums gebildet worden.

Dieses ist die Bahn, auf welcher Michelangelo bis zu Unsterblichkeit gelangt ist. Sein Ruf und seine Belohnungen erlaubten ihm Muße, mit solcher Sorgfalt zu arbeiten.

Ein Künstler unserer Zeiten, dem Natur und Fleiß Gaben verliehen, höher zu steigen, und welcher Wahrheit und Richtigkeit in dieser Manier findet, sieht sich genötigt, mehr nach Brot als nach Ehre zu arbeiten. Er bleibt also in dem ihm[29] üblichen Gleise, worin er eine größere Fertigkeit zu zeigen glaubt, und fährt fort, sein durch langwierige Übung erlangtes Augenmaß zu seiner Regel zu nehmen.

Dieses Augenmaß, welches ihn vornehmlich führen muß, ist endlich durch praktische Wege, die zum Teil sehr zweifelhaft sind, ziemlich entscheidend geworden. Wie fein und zuverlässig würde er es gemacht haben, wenn er es von Jugend auf nach untrüglichen Regeln gebildet hätte?

Würden angehende Künstler, bei der ersten Anführung, in Ton oder in andere Materie zu arbeiten, nach dieser sichern Manier des Michelangelo angewiesen, die dieser nach langem Forschen gefunden, so könnten sie hoffen, so nahe wie er den Griechen zu kommen.

Alles, was zum Preise der griechischen Werke in der Bildhauerkunst kann gesagt werden, sollte nach aller Wahrscheinlichkeit auch von der Malerei der Griechen gelten. Die Zeit aber und die Wut der Menschen hat uns die Mittel geraubt, einen unumstößlichen Ausspruch darüber zu tun.

Man gesteht den griechischen Malern Zeichnung und Ausdruck zu, und das ist alles; Perspektive, Komposition und Kolorit spricht man ihnen ab. Dieses Urteil gründet sich teils auf halb erhobene Arbeiten, teils auf die entdeckten Malereien der Alten (der Griechen kann man nicht sagen) in und bei Rom, in unterirdischen Gewölben der Paläste des Mäcenas, des Titus, Trajans und der Antoninen, von welchen nicht viel über dreißig bis jetzt ganz erhalten worden, und einige sind nur in mosaischer Arbeit.

Turnbull hat seinem Werke von der alten Malerei eine Sammlung der bekanntesten Stücke, von Camillo Paderni gezeichnet und von Mynde gestochen, beigefügt, welche dem prächtigen und gemißbrauchten Papier seines Buchs den einzigen Wert geben. Unter denselben sind zwei, wovon die Originale selbst in dem Kabinett des berühmten Arztes Richard Meads in London sind.

Daß Poussin nach der sogenannten Aldobrandinischen Hochzeit studiert, daß sich noch Zeichnungen finden, die[30] Annibale Carracci nach dem vorgegebenen Marcus Coriolanus gemacht, und daß man eine große Gleichheit unter den Köpfen in [des] Guido Reni Werken und unter den Köpfen auf der bekannten mosaischen Entführung der Europa hat finden wollen, ist bereits von andern bemerkt.

Wenn dergleichen Freskogemälde ein gegründetes Urteil von der Malerei der Alten geben könnte, so würde man den Künstlern unter ihnen aus Überbleibseln von dieser Art auch die Zeichnung und den Ausdruck streitig machen wollen.

Die von den Wänden des herculanischen Theaters mitsamt der Mauer versetzten Malereien mit Figuren in Lebensgröße geben uns, wie man versichert, einen schlechten Begriff davon. Der Theseus, als ein Überwinder des Minotauren, wie ihm die jungen Athenienser die Hände küssen und seine Knie umfassen, die Flora nebst dem Herkules und einem Faun, der vorgegebene Gerichtsspruch des Dezemvirs Appius Claudius sind nach dem Augenzeugnis eines Künstlers zum Teil mittelmäßig und zum Teil fehlerhaft gezeichnet. In den meisten Köpfen ist, wie man versichert, nicht allein kein Ausdruck, sondern in dem Appius Claudius sind auch keine guten Charaktere.

Aber eben dieses beweist, daß es Malereien von der Hand sehr mittelmäßiger Meister sind, da die Wissenschaft der schönen Verhältnisse, der Umrisse der Körper und des Ausdrucks bei griechischen Bildhauern auch ihren guten Malern eigen gewesen sein muß.

Diese den alten Malern zugestandenen Teile der Kunst lassen den neuern Malern noch sehr viel Verdienste um dieselbe.

In der Perspektive gehört ihnen der Vorzug unstreitig, und er bleibt, bei aller gelehrten Verteidigung der Alten, in Ansehung dieser Wissenschaft, auf seiten der Neueren. Die Gesetze der Komposition und Anordnung waren den Alten nur zum Teil und unvollkommen bekannt, wie die erhobenen Arbeiten von Zeiten, wo die griechischen Künste in Rom geblüht, dartun können.[31]

In dem Kolorit scheinen die Nachrichten in den Schriften der Alten und die Überbleibsel der alten Malerei auch zum Vorteil der neuern Künstler zu entscheiden.

Verschiedene Arten von Vorstellungen der Malerei sind gleichfalls zu einem höheren Grade der Vollkommenheit in neuern Zeiten gelangt. In Viehstücken und Landschaften haben unsere Maler allem Ansehen nach die alten Maler übertroffen. Die schönern Arten von Tieren unter andern Himmelsstrichen scheinen ihnen nicht bekannt gewesen zu sein, wenn man aus einzelnen Fällen, von dem Pferde des Marcus Aurelius, von den beiden Pferden auf Monte Cavallo, ja von den vorgegebenen Lysippischen Pferden über dem Portal der St. Marcuskirche in Venedig, von dem Farnesischen Stier und den übrigen Tieren dieses Grupps, schließen darf.

Es ist hier im Vorbeigehen anzuführen, daß die Alten bei ihren Pferden die diametralische Bewegung der Beine nicht beobachtet haben, wie an den Pferden in Venedig und auf alten Münzen zu sehen ist. Einige Neuere sind ihnen hierin aus Unwissenheit gefolgt und sogar verteidigt worden.

Unsere Landschaften, sonderlich die niederländischen Maler, haben ihre Schönheit vornehmlich dem Ölmalen zu danken; ihre Farben haben dadurch mehr Kraft, Freudigkeit und Erhobenheit erlangt, und die Natur selbst unter einem dickern und feuchtern Himmel hat zur Erweiterung der Kunst in dieser Art nicht wenig beigetragen.

Es verdienten die angezeigten und einige andere Vorzüge der neuern Maler vor den alten in ein größeres Licht, durch gründlichere Beweise, als noch bisher geschehen ist, gesetzt zu werden.

Zur Erweiterung der Kunst ist noch ein großer Schritt übrig zu tun. Der Künstler, welcher von der gemeinen Bahn abzuweichen anfängt oder wirklich abgewichen ist, sucht diesen Schritt zu wagen; aber sein Fuß bleibt an dem jähesten Orte der Kunst stehen, und hier sieht er sich hilflos.[32]

Die Geschichte der Heiligen, die Fabeln und Verwandlungen sind der ewige und fast einzige Vorwurf der neuern Maler seit einigen Jahrhunderten. Man hat sie auf tausenderlei Art gewandt und ausgekünstelt, so daß endlich Überdruß und Ekel den Weisen in der Kunst und den Kenner überfallen muß.

Ein Künstler, der eine Seele hat, die denken gelernt, läßt dieselbe müßig und ohne Beschäftigung bei einer Daphne und bei einem Apollo, bei einer Entführung der Proserpina, einer Europa und bei dergleichen. Er sucht sich als einen Dichter zu zeigen und Figuren durch Bilder, das ist allegorisch, zu malen.

Die Malerei erstreckt sich auch auf Dinge, die nicht sinnlich sind; diese sind ihr höchstes Ziel, und die Griechen haben sich bemüht, dasselbe zu erreichen, wie die Schriften der Alten bezeugen. Parrhasius, ein Maler, der wie Aristides die Seele schilderte, hat sogar, wie man sagt, den Charakter eines ganzen Volks ausdrücken können. Er malte die Athenienser, wie sie gütig und zugleich grausam, leichtsinnig und zugleich hartnäckig, brav und zugleich feige waren. Scheint die Vorstellung möglich, so ist es nur allein durch den Weg der Allegorie, durch Bilder, die allgemeine Begriffe bedeuten.

Der Künstler befindet sich hier wie in einer Einöde. Die Sprachen der wilden Indianer, die einen großen Mangel an dergleichen Begriffen haben und die kein Wort enthalten, welches Erkenntlichkeit, Raum, Dauer usw. bezeichnen könnte, sind nicht leerer von solchen Zeichen, als es die Malerei zu unseren Zeiten ist. Derjenige Maler, der weiter denkt, als seine Palette reicht, wünscht einen gelehrten Vorrat zu haben, wohin er gehen und bedeutende und sinnlich gemachte Zeichen von Dingen, die nicht sinnlich sind, nehmen könnte. Ein vollständiges Werk in dieser Art ist noch nicht vorhanden; die bisherigen Versuche sind nicht beträchtlich genug und reichen nicht bis an diese großen Absichten. Der Künstler wird wissen, wie weit ihm des Ripa Ikonologie,[33] die Denkbilder der alten Völker von van Hooghe Genüge tun werden.

Dieses ist die Ursache, daß die größten Maler nur bekannte Vorwürfe gewählt. Annibale Carracci, anstatt daß er die berühmtesten Taten und Begebenheiten des Hauses Farnese in der Farnesischen Galerie, als ein allegorischer Dichter, durch allgemeine Symbole und durch sinnliche Bilder hätte vorstellen können, hat hier seine ganze Stärke bloß in bekannten Fabeln gezeigt.

Die Königliche Galerie der Schildereien in Dresden enthält ohne Zweifel einen Schatz von Werken der größten Meister, der vielleicht alle Galerien in der Welt übertrifft, und Se. Majestät haben, als der weiseste Kenner der schönen Künste, nach einer strengen Wahl nur das Vollkommenste in seiner Art gesucht; aber wie wenig historische Werke findet man in diesem königlichen Schatze! Von allegorischen, von dichterischen Gemälden noch weniger.

Der große Rubens ist der vorzüglichste unter großen Malern, der sich auf den unbetretenen Weg dieser Malerei in großen Werken als ein erhabener Dichter gewagt. Die Luxemburgische Galerie, als sein größtes Werk, ist durch die Hand der geschicktesten Kupferstecher der ganzen Welt bekannt worden.

Nach ihm ist in neueren Zeiten nicht leicht ein erhabeneres Werk in dieser Art unternommen und ausgeführt worden, desgleichen die Cupola der Kaiserlichen Bibliothek in Wien ist, von Daniel Gran gemalt und von Sedelmayr in Kupfer gestochen. Die Vergötterung des Herkules in Versailles, als eine Allusion auf den Kardinal Hercules von Fleuri, von Le Moine gemalt, womit Frankreich als mit der größten Komposition in der Welt prangt, ist gegen die gelehrte und sinnreiche Malerei des deutschen Künstlers eine sehr gemeine und kurzsichtige Allegorie; sie ist wie ein Lobgedicht, worin die stärksten Gedanken sich auf den Namen im Kalender beziehen. Hier war der Ort, etwas Großes zu machen, und man muß sich wundern, daß es nicht geschehen ist. Man[34] sieht aber auch zugleich ein, hätte auch die Vergötterung eines Ministers den vornehmsten Plafond des königlichen Schlosses zieren sollen, woran es dem Maler gefehlt.

Der Künstler hat ein Werk vonnöten, welches aus der ganzen Mythologie, aus den besten Dichtern alter und neuerer Zeiten, aus der geheimen Weltweisheit vieler Völker, aus den Denkmalen des Altertums, auf Steinen, Münzen und Geräten, diejenigen sinnlichen Figuren und Bilder enthält, wodurch allgemeine Begriffe dichterisch gebildet worden. Dieser reiche Stoff würde in gewisse bequeme Klassen zu bringen und durch eine besondere Anwendung und Deutung auf mögliche einzelne Fälle, zum Unterricht der Künstler, einzurichten sein.

Hierdurch würde zu gleicher Zeit ein großes Feld geöffnet, zur Nachahmung der Alten und [um] unseren Werken einen erhabenen Geschmack des Altertums zu geben.

Der gute Geschmack in unsern heutigen Verzierungen, welcher seit der Zeit, da Vitruv bittere Klagen über das Verderbnis desselben führte, sich in neueren Zeiten noch mehr verderbt hat, teils durch die von Morto, einem Maler, von Feltro gebürtig, in Schwang gebrachten Grotesken, teils durch nichts bedeutende Malereien unserer Zimmer, könnte zugleich durch ein gründlicheres Studium der Allegorie gereinigt werden und Wahrheit und Verstand erhalten.

Unsere Schnörkel und das allerliebste Muschelwerk, ohne welches jetzt kein Zierat förmlich werden kann, hat manchmal nicht mehr Natur als Vitruvs Leuchter, welche kleine Schlösser und Paläste trugen. Die Allegorie könnte eine Gelehrsamkeit an die Hand geben, auch die kleinsten Verzierungen dem Orte, wo sie stehen, gemäß zu machen.


Reddere personae scit convenientia cuique.


Die Gemälde an Decken und über den Türen stehen meistenteils nur da, um ihren Ort zu füllen und um die ledigen Plätze zu decken, welche nicht mit lauter Vergoldungen können angefüllt werden. Sie haben nicht allein kein Verhältnis[35] mit dem Stande und mit den Umständen des Besitzers, sondern sie sind demselben sogar oftmals nachteilig.

Der Abscheu vor dem leeren Raum füllt also die Wände, und Gemälde, von Gedanken leer, sollen das Leere ersetzen.

Dieses ist die Ursache, daß der Künstler, den man seiner Willkür überläßt, aus Mangel allegorischer Bilder oft Vorwürfe wählt, die mehr zur Satire als zur Ehre desjenigen, dem er seine Kunst weiht, gereichen müssen; und vielleicht, um sich hiervor in Sicherheit zu stellen, verlangt man aus feiner Vorsicht von dem Maler, Bilder zu machen, die nichts bedeuten sollen.

Es macht oft Mühe, auch dergleichen zu finden, und endlich


... velut aegri somnia, vanae

Fingentur species.


Man nimmt also der Malerei dasjenige, worin ihr größtes Glück besteht, nämlich die Vorstellung unsichtbarer, vergangener und zukünftiger Dinge.

Diejenigen Malereien aber, welche an diesem oder jenem Orte bedeutend werden könnten, verlieren das, was sie tun würden, durch einen gleichgültigen oder unbequemen Platz, den man ihnen anweist.

Der Bauherr eines neuen Gebäudes,


Dives agris, dives positis in foenore nummis,


wird vielleicht über die hohen Türen seiner Zimmer und Säle kleine Bilder setzen lassen, die wider den Augenpunkt und wider die Gründe der Perspektive anstoßen. Die Rede ist hier von solchen Stücken, die ein Teil der festen und unbeweglichen Zieraten sind, nicht von solchen, die in einer Sammlung nach der Symmetrie geordnet werden.

Die Wahl in Verzierungen der Baukunst ist zuweilen nicht gründlicher: Armaturen und Trophäen werden allemal auf einem Jagdhaus ebenso unbequem stehen wie Ganymedes und der Adler, Jupiter und Leda unter der erhobenen Arbeit der Türen von Erz am Eingang der St. Peterskirche in Rom.[36]

Alle Künste haben einen gedoppelten Endzweck: sie sollen vergnügen und zugleich unterrichten, und viele von den größten Landschaftsmalern haben daher geglaubt, sie würden ihrer Kunst nur zur Hälfte ein Genüge getan haben, wenn sie ihre Landschaften ohne alle Figuren gelassen hätten.

Der Pinsel, den der Künstler führt, soll in Verstand getunkt sein, wie jemand von dem Schreibegriffel des Aristoteles gesagt hat: Er soll mehr zu denken hinterlassen, als was er dem Auge gezeigt, und dieses wird der Künstler erhalten, wenn er seine Gedanken in Allegorien nicht zu verstecken, sondern einzukleiden gelernt hat. Hat er einen Vorwurf, den er selbst gewählt oder der ihm gegeben worden, welcher dichterisch gemacht oder zu machen ist, so wird ihn seine Kunst begeistern und wird das Feuer, welches Prometheus den Göttern raubte, in ihm erwecken. Der Kenner wird zu denken haben, und der bloße Liebhaber wird es lernen.[37]

Quelle:
Winckelmanns Werke in einem Band. Berlin und Weimar 1969, S. 1-38.
Erstdruck: o.O. 1755 (anonym).
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