8. Das Rätsel des Leids

[95] Meister Yü und Meister Sang waren Freunde. Als es einst zehn Tage lang ununterbrochen geregnet hatte, sprach Meister Yü: »Ich fürchte, Sang wird krank sein.«

Er packte einiges Essen zusammen und ging hin, um es ihm zu bringen. Als er an die Tür des Meisters Sang gekommen war, da hörte er, wie jener halb singend, halb weinend die Zither schlug und also anhub: »O Vater, o Mutter! Ward mir das vom Himmel, ward mir's von Menschen?« Seine Stimme erstarb, und die Worte des Liedes überstürzten sich.

Meister Yü trat ein und sprach: »Was ist der Grund, daß du auf diese Weise singst?«

Jener sprach: »Ich dachte darüber nach, wer es ist, der mich in diese äußerste Not gebracht, und fand es nicht. Wie könnte es der Wille meiner Eltern sein, daß ich in diese Armut kam? Der Himmel ist groß und schirmend, die Erde ist groß und spendend. Wie könnte es der Wille von Himmel und Erde sein, mich neidisch in diese Armut zu bringen? Ich suche den, der es getan, und finde ihn nicht. Und doch bin ich in diese äußerste Not gekommen: es ist das Schicksal!«

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 95.
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