1. Moral als Schutz der großen Räuber

[109] Sich gegen Diebe, die Kisten aufbrechen, Taschen durchsuchen, Kasten aufreißen, dadurch zu sichern, daß man Stricke und Seile darum schlingt, Riegel und Schlösser befestigt, das ist's, was die Welt Klugheit nennt. Wenn nun aber ein großer Dieb kommt, so nimmt er den Kasten auf den Rücken, die Kiste unter den Arm, die Tasche über die Schulter und läuft davon, nur besorgt darum, daß auch die Stricke und Schlösser sicher festhalten. So tut also einer, den die Welt einen klugen Mann nennt, nichts weiter, als daß er seine Sachen für die großen Diebe beisammenhält. Darum wollen wir noch näher über die Sache reden. Gibt es unter denen, die die Welt kluge Leute nennt, einen einzigen, der seine Sachen nicht für die großen Diebe beisammenhält? Gibt es unter denen, die sie Heilige nennt, einen einzigen, der nicht für die großen Diebe Wache steht?

Woher weiß ich, daß das so ist? Da war das Land Tsi. Die Nachbardörfer konnten einander sehen und den Hahnenschrei und das Hundebellen voneinander hören. Die Fischer warfen ihre Netze, und die Bauern pflügten ihr Land. Über zweitausend Geviertmeilen weit erstreckten sich die Grenzen. Ahnenhallen waren errichtet, Altäre für die Götter des Bodens und des Kornes gebaut. Die Ordnung aller Dörfer und Familien, der Bezirke, Kreise und Gemeinden: alles war nach dem Vorbild der heiligen Männer eingerichtet. Da brachte eines Tages der Kanzler Tiën Tschong Dsï den Fürsten von Tsi um und raubte sein Land. Hat er etwa nur sein Land geraubt? Nein, sondern er hat damit zugleich auch alle die Einrichtungen der Heiligen und Weisen mit geraubt. So kam's, daß man den Tiën Tschong Dsï wohl einen Räuber nannte; aber er blieb unangefochten in der Ruhe, die ihm die Patriarchen Yau und Schun (durch ihre Einrichtungen) verschafft hatten. Die kleinen Staaten wagten ihn nicht zu tadeln; die großen Staaten wagten ihn nicht umzubringen. Zwölf Generationen lang blieb das Land Tsi in seiner Familie.

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Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 109-110.
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