3. Der Herr der gelben Erde und die Gottheit

[120] Der Herr der gelben Erde saß auf dem Throne neunzehn Jahre lang, und seine Gebote herrschten auf Erden. Da vernahm er, daß der Umfassend Vollendete auf dem Berg der Leere und Einheit wohne. So ging er hin, um ihn zu sehen, und sprach: »Ich höre, daß Ihr, Meister, des höchsten SINNS kundig seid. Darf ich fragen nach des höchsten SINNS reinster Kraft? Ich möchte die reinste Kraft von Himmel und Erde sammeln, um dem Korn Gedeihen zu geben, um die Menschen zu nähren. Ich möchte das Trübe und das Lichte beherrschen, damit alle Lebewesen ihrer Art zu folgen imstande seien. Wie kann man das machen?«

Der Umfassend Vollendete sprach: »Was du zu fragen begehrst, ist nur der Stoff der Natur; was du zu beherrschen begehrst, ist nur die Hefe der Natur. Seit du die Welt regierst, regnet es, ehe die Wolken sich gesammelt, und die Blätter von Gras und Baum fallen ab, ehe sie gelb werden; der Schein von Sonne und Mond ist übermäßig und sengend, und dabei zeigst du die redselige Art eines Schwätzers. Du bist nicht wert, vom höchsten SINN zu hören.«

Der Herr der gelben Erde zog sich zurück. Er gab das Weltreich auf und baute sich eine Klause, und trockenes Heu diente[120] ihm zum Lager. Drei Monate lang weilte er in Abgeschiedenheit, dann ging er wieder hin, um jenen aufzusuchen. Der Umfassend Vollendete lag rücksichtslos ausgestreckt da. Der Herr der gelben Erde nahte ihm in der Art eines Dieners auf den Knien und neigte zweimal das Haupt bis zur Erde. Dann fragte er und sprach: »Ich höre, daß Ihr, Meister, höchsten SINNS kundig seid. Darf ich fragen, wie man sein Ich in Ordnung bringt, also daß es ewige Dauer erlangt?«

Da änderten sich die Mienen des Umfassend Vollendeten; er erhob sich und sprach: »Gut wahrlich ist deine Frage. Komm, ich will mit dir vom höchsten SINNE reden:


Höchsten SINNES Samenkraft

Dunkel im geheimen schafft,

Höchsten SINNS Vollkommenheit:

Dämmernde Verschwiegenheit,

Ungehört und los vom Schein,

Hüllt den Geist in Stille ein.

Und der Leib folgt dem Verein,

Wird von selber still und rein.

Mit dem Leibe kämpfe nicht,

Deinen Samen rege nicht:

Also schaust du der Ewigkeit Licht.


Was kein Auge sieht und kein Ohr hört und keines Menschen Herz vernimmt: dein Geist wird deinen Leib bewahren, also daß dein Leib ewig lebt. Hüte dein Inneres, schließe dein Äußeres! Viele Erkenntnis führt zum Verfall. Dann will ich mit dir hinaufsteigen zu den Höhen der großen Klarheit. Sind wir dort, so sind wir an der Quelle der treibenden Kraft des Lichten. Ich will mit dir eindringen in das dunkle geheimnisvolle Tor. Sind wir dort, so sind wir an der Quelle der hemmenden Kraft des Trüben. Himmel und Erde haben beherrschende Kräfte; das Trübe und das Lichte hat einen bergenden Ort. Hüte sorgsam dein Selbst, so wird das äußere Wesen von selber stark. Ich wahre jene Einheitskraft, ich verweile in jenen Harmonien; so bilde ich mein Selbst nun schon seit zwölfhundert Jahren, und mein Leib ist nicht zerfallen.« Der Herr der gelben Erde neigte sich zweimal,[121] berührte mit dem Haupt den Boden und sprach: »Möge der Umfassend Vollendete (nun auch) von der Natur reden.«

Der Umfassend Vollendete sprach: »Komm, ich will mit dir darüber reden! Sie ist in ihrer Wesenheit unerschöpflich, und die Menschen denken alle, sie sei fertig. Sie ist in ihrer Wesenheit unergründlich, und die Menschen denken alle, sie sei am Ziel. Wer meinen SINN erlangt, der ist aufsteigend ein Gott und absteigend ein Herrscher. Wer meinen SINN verliert, erblickt aufsteigend das Licht (der Welt), und absteigend wird er zu Erde. Alle Einzelwesen werden geboren aus Erde und kehren zurück zur Erde. Darum will ich dich jetzt verlassen und eingehen in das Tor der Ewigkeit, um zu wandeln auf den Gefilden der Unendlichkeit. Ich will meinen Schein vereinen mit Sonne und Mond, mit Himmel und Erde gemeinsam unsterblich sein. Während ich mich in die Weiten verliere, entschwinden die Menschen meinem Blick. Sie alle sterben: ich allein bin.«

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 120-122.
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