15. Unbewußte Verstrickung

[141] Ein hundertjähriger Baum wurde zersägt. Man machte Opferschalen aus dem Holz und schmückte sie mit grünen und gelben Linienornamenten. Die Abfälle warf man in einen Graben. Diese Opferschalen und die Abfälle im Graben sind wohl verschieden in Beziehung auf ihre Schönheit; in Beziehung darauf aber, daß sie ihre ursprüngliche Art verloren haben, sind sie gleich. Die Räuber und die Tugendhelden sind wohl verschieden an Moral; aber darin, daß sie ihre ursprüngliche Art verloren haben, sind sie einander gleich.

Fünf Wege gibt's, durch die die ursprüngliche Art verlorengeht. Der erste heißt: Die Farben verwirren das Auge, also daß das Auge nicht mehr klar zu sehen vermag. Der zweite heißt: Die Töne verwirren das Ohr, also daß das Ohr nicht[141] mehr deutlich zu hören vermag. Der dritte heißt: Gerüche betäuben die Nase, also daß Eingenommenheit die Stirn befällt. Der vierte heißt: Die Würzen trüben den Geschmack, also daß der Mund schal wird. Der fünfte heißt: Die Lüste betören das Herz, also daß die Wesensart unstet umherflattert. Diese fünf Dinge sind lauter Feinde des Lebens, und dabei stellen sich die Herren Philosophen auf die Zehen und meinen, sie haben's erreicht. Meiner Meinung nach kann das nicht Erreichen genannt werden; denn, die es erreicht haben, sind alle gebunden. Soll das Erreichen sein? Dann kann die Taube im Käfig auch sagen, daß sie's erreicht habe. All diese Zu- und Abneigungen und die Welt der Töne und Farben häufen nur Reisig auf in ihrem Innern. Diese ledernen Helme und Mützen mit Federbüschen, all die Orden und Ehrenzeichen und die langen Schärpen dienen nur dazu, ihre Äußerungen zu binden. Innerlich sind sie vollgestopft mit Reisig, und äußerlich sind sie gefesselt mit doppelten Stricken und Banden, und da blicken sie befriedigt und ruhig aus ihren Stricken und Banden heraus um sich und meinen, sie haben's erreicht. Dann können die Verbrecher, denen die Arme verschränkt sind und Daumenschrauben angelegt, oder Tiger und Panther in Sack und Käfig auch denken, sie haben's erreicht.

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Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 141-142.
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