8. Doktor Filigran bei Laotse

[151] Doktor Filigran besuchte den Lau Dan, befragte ihn und sprach: »Meister, ich habe gehört, daß Ihr ein Heiliger seid; darum bin ich gekommen, ohne den weiten Weg zu scheuen. Ich wollte Euch besuchen; hundertmal mußte ich übernachten und habe mir Schwielen an die Füße gelaufen und keine Ruhe gegönnt, und nun sehe ich, daß Ihr doch kein Heiliger seid. Vor den Mauslöchern liegt übriges Gemüse, und doch habt Ihr Eure Schwester weggeschickt; das ist Mangel an Liebe. Gekochte und ungekochte Vorräte sind noch in Menge vorhanden, und doch scharrt Ihr noch mehr zusammen; das zeigt Eure Ungenügsamkeit.«

Lau Dan saß versunken da und antwortete nichts.

Tags darauf sprach Doktor Filigran wieder vor und sagte: »Gestern habe ich Euch beleidigt, heute sind die Gesinnungen meines Herzens wieder zurechtgekommen. Was ist der Grund davon?«

Lau Dan sprach: »Einem Mann, der so klüglich Göttlichkeit und Heiligkeit zu erkennen vermag, hielt ich mich nicht für gewachsen. Hättet Ihr mich einen Ochsen genannt, so wäre ich eben ein Ochse gewesen; hättet Ihr mich ein Pferd genannt, so wäre ich eben ein Pferd gewesen. Wenn man wirklich etwas ist und die Menschen nennen einen beim rechten Namen und man nimmt ihn nicht an, so bringt man sich nur um so mehr um sein Glück. Daß ich nachgab, entsprach meiner ständigen Gepflogenheit. Ich wollte nicht durch Nachgiebigkeit Nachgiebigkeit erzielen.«

Da zog sich Doktor Filigran vorsichtig zurück, wobei er vermied,[151] daß sein Schatten ihn traf. Dann trat er wieder unter Beobachtung aller Anstandsregeln vor ihn und fragte, was er tun müsse, sein Selbst zu veredeln.

Lau Dan sprach: »Du hast ein unverschämtes Gesicht und glotzende Augen, eine freche Stirn und einen vorlauten Mund, und dein Wesen ist selbstbewußt. Du gleichst einem Pferd, das nur mühsam im Zügel gehalten wird und das, wenn es erst einmal sich bewegt, sofort durchgeht. Du schnüffelst an allem herum und bist mit deinem Urteil gleich bei der Hand. Du kennst allerhand Kniffe und gibst dir ein großartiges Aussehen. Das alles sind Zeichen von Unaufrichtigkeit. Wenn man einen solchen Menschen in einer unsichern Gegend treffen würde, so würde man ihn einen Dieb nennen.«

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 151-152.
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