Die Standpunkte und der Standpunkt

[169] Sich auf einen Wandel nach starren Grundsätzen etwas zugute tun, sich von der Welt absondern und alles anders machen als die andern, hohe Reden führen und bitteres Urteil fällen: das ist der Menschenhaß. So lieben es die Weisen in den Bergklüften, die die Welt verurteilen, die einsam wie ein kahler Baum an tiefem Abgrund stehen.

Von Liebe reden und Pflicht, von Treu und Glauben, von Ehrfurcht und Mäßigkeit, Bescheidenheit und Gefälligkeit: das ist die Moral. So lieben es die Weisen, die die Welt zur Ruhe bringen wollen und Buße verkündigen, die Wanderprediger und Lernbeflissenen.

Von großen Werken reden, sich einen großen Namen machen, die Formen feststellen im Verkehr von Fürst und Diener, das Verhältnis ordnen zwischen Vorgesetzten und Untergebenen: das ist die Politik. So lieben es die Weisen an den Höfen, die ihren Herren ehren und ihren Staat stark machen wollen und ihre Arbeit darauf richten, andere Staaten zu annektieren.

Sich an Sümpfe und Seen zurückziehen, in einsamen Gefilden weilen, Fische angeln und müßig sein: das ist der Quietismus. So lieben es die Weisen an Fluß und Meer, die sich von der Welt zurückgezogen haben und in freier Muße leben.

Schnauben und den Mund aufsperren, ausatmen und einatmen, die alte Luft ausstoßen und die neue einziehen, sich recken wie ein Bär und strecken wie ein Vogel: das ist die Kunst, das Leben zu verlängern. So lieben es die Weisen, die Atemübungen treiben und ihren Körper pflegen, um alt zu werden wie der Vater Pong.[170]

Aber ohne starre Grundsätze erhaben sein, ohne die Betonung von Liebe und Pflicht Moral haben, ohne Werke und Ruhm Ordnung schaffen, ohne in die Einsamkeit zu gehen Muße finden, ohne Atemübungen hohes Alter erreichen, alles vergessen und alles besitzen in unendlicher Gelassenheit und dabei doch alles Schöne im Gefolge haben: das ist der SINN von Himmel und Erde, das LEBEN des berufenen Heiligen.

Darum heißt es: Ruhe, Schmacklosigkeit, Gelassenheit, Versinken, Leere, Nicht-Sein, Nicht-Handeln: das ist das Gleichgewicht von Himmel und Erde und das Wesen von SINN ist Einigung mit himmlischem LEBEN.

Darum heißt es: Der berufene Heilige läßt ab. Ablassen bringt Gleichgewicht und Leichtigkeit; Gleichgewicht und Leichtigkeit bringen Ruhe und Schmacklosigkeit. Gleichgewicht und Leichtigkeit, Ruhe und Schmacklosigkeit: da können Leid und Schmerzen nicht hinein, und üble Einflüsse vermögen nicht zu überwältigen. So wird das LEBEN völlig und der Geist ohne Fehl. Darum heißt es: das Leben des berufenen Heiligen ist Wirken des Himmels; sein Sterben ist Wandel der körperlichen Form. In seiner Stille ist er eins mit dem Wesen der Nacht; in seinen Regungen ist er eins mit den Wogen des Tags. Er sucht nicht dem Glück zuvorzukommen noch dem Unglück zu begegnen; er entspricht nur den Anregungen, die auf ihn wirken; er bewegt sich nur gezwungen und erhebt sich nur, wenn er nicht anders kann; er tut ab Vorsätze und Erinnerungen und folgt allein des Himmels Richtlinien. Darum trifft ihn nicht Strafe des Himmels noch Verwicklungen durch die Dinge, nicht der Tadel der Menschen noch Beunruhigung der Geister. Sein Leben ist wie Schwimmen, sein Sterben ist wie Ausruhen. Er macht sich keine Sorgen und schmiedet keine Pläne; er ist licht ohne Schimmer, er ist wahr ohne Beteurungen. Sein Schlaf ist ohne Traum, sein Wachen ohne Leid. Sein Geist ist rein, seine Seele bleibt ohne Ermüdung. Leere, Nicht-Sein, Ruhe, Schmacklosigkeit ist Einigung mit himmlischem LEBEN.

Darum heißt es: Trauer und Freude sind Verkehrungen des LEBENS; Lust und Zorn sind Übertretungen des SINNS.[171] Zuneigungen und Abneigungen sind Verlust des LEBENS. Darum, wenn das Herz frei ist von Trauer und Freude: das ist höchstes LEBEN. Einsam sein und unwandelbar: das ist höchste Stille. Kein Widerstreben kennen: das ist höchste Leere. Nicht mit der Außenwelt verkehren: das ist höchste Schmacklosigkeit. Frei sein von aller Unzufriedenheit: das ist höchste Echtheit.

Darum heißt es: Wenn der Leib sich abmüht ohne Ruhe, so wird er aufgebraucht; wenn der Geist tätig ist ohne Aufhören, so wird er müde. Müdigkeit führt zur Erschöpfung. Es ist die Art des Wassers, daß es rein ist, wenn es nicht bewegt wird. Wird es gehindert und eingedämmt, so fließt es wohl nicht, aber verliert seine Klarheit. Das ist ein Bild des himmlischen LEBENS. Darum heißt es: Rein sein und echt und ungemischt, stille sein und eins und ohne Wandel, schmacklos sein und nicht handeln, in allen Regungen sich nach den Wirkungen des Himmels richten: das ist der Weg zur Pflege des Geistes. Wer eine kostbare Klinge hat, der tut sie in einen Schrein und verbirgt sie und wagt sie nicht zu gebrauchen, weil sie so wertvoll ist. Wenn der Geist alles durchdringt und durchströmt und nichts ihm unerreichbar bleibt; wenn er hinaufdringt zum Himmel und unten die Erde umschlingt; wenn er alle Wesen wandelt und nährt und ohne Gleichnis noch Bildnis ist: das heißt eins sein mit Gott:


Wer des SINNES reine Art

Innerlich im Geist bewahrt

Und verliert in keiner Not,

Der wird eines sein mit Gott.

Und die Einheit, klar und echt

Einigt mit des Himmels Recht.


Es gibt ein Sprichwort, das sagt: Die Menge trachtet nach Gewinn, der Held trachtet nach Ruhm, der Würdige ehrt seinen Willen, der Heilige schätzt die Reinheit.

Einfalt, das heißt: Freiheit von aller Vermischung; Echtheit, das heißt: Freiheit von allem Trug. Wessen Geist Echtheit und Reinheit darzustellen vermag, der heißt der wahre Mensch.

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 169-172.
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