4. Werte

[182] Der Flußgott sprach: »Außerhalb oder innerhalb der Dinge: wo ist der Punkt, da Wert und Unwert sich scheidet; wo ist der Punkt, da Großes und Kleines sich scheidet?«

Jo vom Nordmeer sprach: »Vom SINNE aus betrachtet kommt den Dingen nicht Wert noch Unwert zu; von den Dingen aus betrachtet hält jedes selbst sich wert und die andern unwert; vom Standpunkt der Masse aus betrachtet ist Wert und Unwert etwas, das nicht auf dem eigenen Ich beruht (sondern auf der Anerkennung von andern). Will man's vom Standpunkt der Relativität aus betrachten und ein Ding, weil es größer ist als andere, als groß bezeichnen, so gäbe es unter allen Dingen keines, das nicht groß wäre. Oder wollte man ein Ding, weil es kleiner ist als andere, als klein bezeichnen, so gäbe es unter allen Dingen keins, das nicht klein wäre. Erkennen, daß Himmel und Erde nur wie ein Reiskorn sind, erkennen, daß die Spitze eines Haares wie ein Berg ist, das ist das Ergebnis der relativen Betrachtungsweise. Will man's vom Standpunkt der Qualität aus betrachten und ein Ding deshalb, weil es eine Qualität hat, als seiend bezeichnen, so gäbe es unter allen keins, das nicht wäre. Oder wollte man ein Ding, weil es (eine Qualität) nicht hat, als nicht seiend betrachten, so gäbe es unter allen Dingen keins, das nicht nichtseiend wäre. Zu erkennen, daß Ost und West einander entgegengesetzt sind, ohne einander aufzuheben: das heißt die Unterschiede der Qualitäten festsetzen. Will man's vom Standpunkt der Wertung aus beurteilen und ein Ding, weil es auf Wert Anspruch macht, als wertvoll bezeichnen, so gäbe es unter allen Dingen keines, das nicht wertvoll wäre. Oder wollte man ein Ding, dem von andern der Wert abgesprochen wird, als wertlos bezeichnen, so gäbe es kein Ding, das nicht wertlos wäre. Zu erkennen, daß der Erzvater Yau und der Tyrann Gië beide sich selbst für wertvoll und einander für wertlos hielten, das zeigt die Betrachtungsweise der Werturteile.

Yau und Schun entsagten einst dem Thron und hatten dennoch Nachfolger auf dem Thron; Dschï Guai entsagte dem[183] Thron und brachte seinen Staat dadurch zum Untergang; Tang und Wu kämpften um die Herrschaft und wurden Könige; der weiße Prinz kämpfte um die Herrschaft und ging zugrunde. Von hier aus betrachtet zeigt sich, daß Kampf und Verzicht, daß der Wandel eines Yau und eines Gië, daß Wert und Unwert alle ihre Zeit haben und nicht als etwas Absolutes angesehen werden können.

Mit einem Sturmbock kann man eine Stadt berennen, aber nicht eine Bresche ausfüllen: so gibt's verschiedene Werkzeuge. Auf einem Renner kann man in einem Tag tausend Meilen weit galoppieren, aber Mäuse fangen kann er nicht so gut wie ein Fuchs und ein Wiesel: so gibt's verschiedene Fähigkeiten. Ein Käuzchen und eine Ohreule können bei Nacht ihre Flöhe fangen und die Spitze eines Haars unterscheiden, aber bei Tag starren sie mit glotzenden Augen und können keinen Berg erblicken: so gibt's verschiedene Naturen. Darum heißt es: Wer sich zur Bejahung bekennt und nichts von der Verneinung weiß, wer sich zur Ordnung bekennt und nichts von Verwirrung weiß, der hat noch nicht die Gesetze des Himmels und der Erde und die Verhältnisse der Welt durchschaut. Das ist, wie wenn man sich an den Himmel halten und nichts von der Erde wissen wollte, oder wie wenn man sich an die trübe Urkraft wenden und nichts von der lichten wissen wollte. Es ist klar, daß das nicht geht. Und nun doch ohne Aufhören so weiter zu reden, das ist entweder ein Zeichen von Torheit oder von Betrug. Die Herrscher der alten Zeit entsagten dem Thron auf verschiedene Weise; die Könige der geschichtlichen Dynastien setzten in verschiedener Weise die Thronfolge fort. Wenn einer abweicht von seiner Zeit und den allgemeinen Sitten widerstrebt, so wird er ein grausamer Tyrann genannt; wenn einer seiner Zeit entspricht und sich nach den allgemeinen Sitten richtet, so wird er ein edler Held genannt. Stille, stille, mein Flußgott! Wie willst du das Tor zu Wert und Unwert erkennen und das Haus von Größe und Kleinheit?«

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 182-184.
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