10. Innere Größe

[224] Giën Wu fragte den Sun Schu Au und sprach: »Ihr wart dreimal Kanzler und wart nicht stolz darüber; dreimal wurdet Ihr weggeschickt und zeigtet Euch nicht traurig. Früher[224] traute ich Euch nicht recht, nun aber sehe ich, wie ruhig der Atem durch Eure Nase geht. Wie macht Ihr's nur, daß Ihr also Euer Herz in der Hand habt?«

Sun Schu Au sprach: »Ich bin nicht besser als andere Menschen. Ich hielt nur dafür, daß man, was einem zufällt, nicht ablehnen, und was einen verläßt, nicht festhalten soll. Ich bin der Meinung, daß, was wir bekommen oder verlieren, nicht unser eigentliches Ich ist. Darum war ich nicht traurig. Das ist alles. Ich bin nicht besser als andere Menschen. Außerdem wußte ich nicht einmal, ob die Ehre dem Amte galt oder ob sie mir galt. Galt sie dem Amte, so ging sie mich nichts an; galt sie mir, so ging sie das Amt nichts an. Beschäftigt mit sorgfältiger Überlegung und allseitiger Umsicht hatte ich keine Muße, darauf zu achten, ob die Menschen mich ehrten oder geringschätzten.«

Kung Dsï hörte von der Sache und sprach: »Die wahren Menschen des Altertums waren also, daß auch der Weiseste ihre Art nicht beschreiben konnte, daß auch die schönste Frau sie nicht verführen konnte, daß auch der schlimmste Räuber sie nicht vergewaltigen konnte, daß auch der mächtigste Fürst nicht ihre Freundschaft erzwingen konnte. Leben und Tod sind wohl wichtige Angelegenheiten, und doch vermochten sie nicht, ihr Selbst zu beeinflussen; wieviel weniger Ehren und Gewinn! Die also waren, die vermochten im Geist den größten Berg zu durchdringen, ohne daß sie behindert wurden; sie vermochten in die tiefsten Quellen zu tauchen, ohne daß sie naß wurden; sie vermochten in Armut und Niedrigkeit zu weilen, ohne daß sie überdrüssig wurden; sie erfüllten Himmel und Erde. Darum, je mehr sie andern gaben, desto mehr besaßen sie selbst.«

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 224-225.
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