3. Vergängliches und Dauerndes im Einzel-Ich

[220] Yen Hui wandte sich an Kung Dsï und sprach: »Laßt Ihr Euer Pferd im Schritt gehen, so reite ich neben Euch; nehmt Ihr Trab, so trabe ich mit; galoppiert Ihr, so galoppiere ich mit; aber wenn Ihr dahinfliegt und den Staub der Erde hinter Euch laßt, da muß ich zurückbleiben und kann Euch nur staunend nachsehen, Meister.«

Der Meister sprach: »Was meinst du damit?«

Yen Hui sprach: »Mit dem Schreiten meine ich das Reden; in Euren Reden kann ich Euch folgen. Mit dem Trab meine ich das Beweisen; wenn Ihr beweist, kann ich Euch folgen. Mit dem Galoppieren meine ich das Reden über den SINN; wenn Ihr über den SINN redet, kann ich Euch folgen. Was das betrifft, daß Ihr dahinfliegt und den Staub der Erde hinter Euch laßt und ich Euch nur bewundernd nachsehen kann, damit meine ich, daß Ihr nicht zu reden braucht, um Glauben zu finden, daß Ihr Euch nicht anzuschließen braucht, um allgemeine Liebe zu finden, daß Ihr keiner bestimmten Mittel bedürft, um die Leute zum Fortschritt zu bringen. Und das alles bringt Ihr zuwege, ohne daß ich erkenne, wie es zugeht.«

Kung Dsï sprach: »Warum solltest du das nicht herausbringen können? Es gibt kein größeres Leid als den Tod der Seele. Der leibliche Tod kommt erst in zweiter Linie. Die[220] Sonne geht auf im Morgen und geht unter im Abend, und alle Geschöpfe richten sich nach ihr. Alles, was Augen hat und Füße, wartet auf sie, um sein Werk zu vollbringen. Sie kommt hervor, und des Tages Leben beginnt; sie steigt hinunter, und das Leben erlischt. So haben alle Geschöpfe auch eine Kraft in sich, die bewirkt, daß sie sterben, und bewirkt, daß sie zum Leben kommen. Sobald nun aber das Einzel-Ich eine feste körperliche Form angenommen hat, so wird in ihm diese Kraft starr während der ganzen Dauer seiner Existenz. Ihre Regungen sind bedingt durch die Wechselwirkungen mit der Außenwelt. Tag und Nacht geht es so fort in ununterbrochenem Wechsel, und niemand kann wissen, wann es zu Ende kommt. Der Mensch ist umnebelt durch diese feste körperliche Form. Er kann wohl ihre Gesetze erkennen, aber er kann nicht vorausbestimmen, was für Ereignisse in der Zukunft eintreten werden, und auf diese Weise fließt die Zeit dahin. Wenn ich nun so mein ganzes Leben lang mit dir Arm in Arm gehe, und wir sollten uns schließlich verlieren, wäre das nicht traurig? Du stehst in Gefahr, das Äußerliche zu wichtig zu nehmen; aber was an mir äußerlich hervortritt, das ist im selben Augenblick schon vergangen, und wenn du darnach suchst und meinst, du könntest es besitzen, so ist das ebenso, als wolltest du ein Pferd suchen auf dem Marktplatz (wo es einst zum Verkauf stand). Was ich an dir bewundere, fällt der Vergessenheit anheim; was du an mir bewunderst, fällt gleichfalls der Vergessenheit anheim. Dennoch, warum willst du dich darüber kümmern? Obwohl das sterbliche Ich der Vergessenheit anheimfällt, ist in meinem Ich doch etwas, das nicht der Vergessenheit anheimfällt, sondern dauert.«

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Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 220-221.
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