4. Das große Erreichen

[228] Kung Dsï befragte den Lau Dan und sprach: »Da Ihr heute Muße habt, möchte ich Euch nach dem höchsten SINN fragen.«

Lau Dan sprach: »Reinige dein Herz durch Fasten und Kasteien! Wasche weiß wie Schnee deinen Geist! Entschlage dich deines Wissens! Denn der SINN ist tief und schwer mit Worten zu erreichen. Ich will dir seine Umrisse andeuten. Das Licht entsteht aus dem Dunkel; das Gesetzmäßige entsteht aus dem Unkörperlichen. Der Geist entsteht aus dem SINN;[228] die Wurzel des Leibes entsteht aus dem Samen. Darum pflanzen sich alle Einzelwesen leiblich fort. So werden die Wesen mit neun Körperöffnungen vom Mutterleib geboren, und die mit acht Körperöffnungen kommen aus dem Ei. Sie kommen, und man weiß nicht woher; sie gehen, und man weiß nicht wohin. Da ist kein Tor und ist kein Haus; nach allen Richtungen breiten sie sich aus im Grenzenlosen. Die (den Sinn dieses Werdens) verstehen, deren Glieder werden stark, deren Gedanken werden durchdringend, deren Ohren und Augen werden aufgetan und klar, deren Herzensregungen schaffen keine Ermüdung, und ihre Beziehungen zur Außenwelt sind ohne Schranken. Ohne diesen SINN wäre der Himmel nicht hoch; ohne ihn wäre die Erde nicht weit; ohne ihn könnten Sonne und Mond nicht ihre Bahn ziehen; ohne ihn könnten alle Dinge nicht gedeihen. All das sind Wirkungen des SINNS.

Ausgebreitetes Wissen führt aber nicht notwendig zu dieser Erkenntnis; durch Beweise wird man nicht notwendig weise. Darum entsagt ihnen der berufene Heilige. Dasjenige, was durch Vermehrung nicht vermehrt werden kann und durch Verminderung nicht vermindert werden kann, ist es, was der Heilige festhält. Tief wie das Meer, unendlich, so daß jeder Schluß zugleich ein Anfang ist; allen Wesen ihr Maß zuwendend, ohne sich zu erschöpfen; der Herrscher Pfade bestimmend und doch jenseits von ihnen; allen Geschöpfen, die sich nahen, spendend, was sie brauchen, ohne sich zu erschöpfen: das ist der SINN.

Im Reich der Mitte leben Menschen, die fragen nicht nach Mann und Weib. Sie leben zwischen Himmel und Erde in Menschengestalt, aber sind im Begriff, zurückzukehren zum Ahn aller Dinge. Von dieser Wurzel aus betrachtet ist das Leben nur wie der Hauch eines Seufzers, und alle Wesen, ob sie alt werden oder in der Jugend sterben, unterscheiden sich in ihrer Lebensdauer doch nur um eine kurze Spanne Zeit, die kaum ausreicht, um Recht und Unrecht zu verteilen.

Bäume und Sträucher haben ihre festen Ordnungen.

Die menschlichen Ordnungen sind wohl schwieriger, darum[229] sind Regeln und Gesetze eingeführt. Wenn der berufene Heilige mit diesen Ordnungen zusammentrifft, so fügt er sich ihnen; gehen sie vorüber, so sucht er sie nicht festzuhalten. Absichtlich ihnen entsprechen heißt Tugend; ganz von selber ihnen entsprechen heißt der SINN. Er ist's, der die Herrscher groß macht und die Könige erhebt.

Das Leben des Menschen auf Erden ist schnell vorüber wie der Schein eines weißen Rosses, der durch eine Spalte fällt; im Augenblick ist es vergangen. Schäumend und wild treten sie alle ins Leben ein; sachte und glatt gehen sie alle wieder hinaus. Sie machen einen Wandel durch und werden geboren; ein weiterer Wandel, und sie sterben. Die lebenden Geschöpfe trauern darob, der Menschen Geschlechter klagen darum, und doch lösen sich nur die Schranken der Natur und fallen ab die Hüllen der Natur. Verwirrt und geblendet fährt die Seele dahin, und der Leib folgt ihr nach. Das ist die große Heimkehr. Daß das Sichtbare aus dem Unsichtbaren kommt und wieder zurückkehrt zum Unsichtbaren, ist etwas, das alle Menschen wissen. Aber es macht dem, der im Begriff ist, ans Ziel zu kommen, keine Sorgen. Es ist etwas, worüber alle Menschen reden, aber wer das Ziel erreicht hat, redet nicht darüber. Wer darüber redet, der ist noch nicht am Ziel. Es hat keinen Wert, deutlich sehen zu wollen; darum ist besser als Beweisen das Schweigen. Den SINN kann man nicht vernehmen; darum ist besser als Horchen die Ohren zu schließen. Das ist das große Erreichen.«

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 228-230.
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