6. Die unglückliche Götterschildkröte

[279] Der Fürst Yüan von Sung hatte um Mitternacht einen Traum. Er sah einen Mann mit zerzaustem Haar unter der Tür stehen, der zu ihm sprach: »Ich komme aus der großen Tiefe. Ich bin ein Abgesandter Klarstroms an den Flußgrafen. Der Fischer Yü Tsië hat mich gefangen.«

Als der Fürst erwachte, ließ er das Orakel befragen und bekam die Antwort, daß jene Traumgestalt eine Götterschildkröte sei.

Der Fürst sprach: »Gibt es einen Fischer namens Yü Tsië?«

Die Leute aus seiner Umgebung bejahten es. Da ließ er den Fischer an seinen Hof berufen. Tags darauf erschien der Fischer bei Hofe.

Der Fürst sprach: »Was hast du gefangen?«

Der Fischer erwiderte: »Es ist mir eine weiße Schildkröte ins Netz gegangen, die einen Umfang von fünf Fuß hat.«

Der Fürst sprach: »Schenk mir deine Schildkröte!«

Als die Schildkröte kam, da wußte der Fürst nicht recht, was er tun sollte. Er hätte sie gern getötet und hätte sie doch auch gern am Leben gelassen.

In seinen Zweifeln befragte er das Orakel und bekam die Antwort: »Töte die Schildkröte und befrage durch ihre Schale das Orakel, so wirst du Glück haben!«

So wurde die Schildkröte abgetan. Zweiundsiebzigmal wurde sie angebohrt zu Orakelzwecken, und kein einziges Orakel schlug fehl.

Kung Dsï sprach: »Diese Götterschildkröte vermochte dem Fürsten Yüan im Traum zu erscheinen, und doch vermochte sie nicht, dem Netz des Yü Tsië zu entgehen. Ihre Weisheit war so groß, daß sie zweiundsiebzig Orakel geben konnte, und keines schlug fehl, und doch vermochte sie nicht dem Schicksal zu entgehen, ausgeschabt zu werden. Daraus sieht man, daß auch die größte Weisheit ihre Grenzen hat und daß der Geist seine unübersteiglichen Schranken hat. Wenn einer auch die höchste Weisheit besitzt: es drohen ihm die Ränke von tausend Menschen. Die Fische gehen ohne Furcht ins Netz, während sie doch dem Pelikan ausweichen. Darum[280] laßt ab von eurer kleinen Weisheit, und die große Weisheit wird euch erleuchten! Laßt ab von euerem Streben nach Geschicklichkeit, und ihr werdet von selbst geschickt! Ein kleines Kind, das geboren wird, braucht keinen berühmten Lehrer, um sprechen zu lernen. Es lernt das Sprechen von selber, wenn es mit Leuten zusammen ist, die sprechen können.«

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 279-281.
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