Nachwort.

Karl Friedrich Wilhelm Wander, der Mann unermüdlichen Fleisses, hat dem »Deutschen Sprichwörter-Lexikon« das Wort gehalten, das er ihm in der ersten Vorrede gegeben: »Meine letzte Kraft gehört ihm«; leider war es dem Treuen nicht vergönnt, den Tag zu erleben, an welchem der Schluss seines grossen Werkes in die deutsche Welt und über ihre Grenzen hinausgeht.

Wer an dem »Deutschen Sprichwörter-Lexikon« nur irgendwie Antheil genommen, hat gewiss auch ein Interesse für seinen Verfasser; deshalb soll im Folgenden ein kleines Lebensbild Wander's nach dessen eigenen Aufzeichnungen entworfen werden.

Dass diese zu Stande kamen, haben wir Diesterweg zu danken, der Wander bereits in den dreissiger Jahren aufforderte, sein Leben für das »Pädagogische Deutschland« zu bearbeiten. Da indess diese Zeitschrift bald nach jener Aufforderung zu erscheinen aufhörte und ein unveränderter Abdruck des von Wander gelieferten Manuscripts dem Verfasser hätte nachtheilig werden können, so unterblieb die Veröffentlichung. Hatte sich Wander zur Lösung der ihm von Diesterweg gestellten Aufgabe nur mit zögerndem Herzen entschlossen, so war er doch von dem Werthe einer Autobiographie ganz überzeugt, was er mit den Worten bekundet: »Selten kann ein anderer so klare Blicke in die Seele jemandes thun, als dieser selbst. Und wenn man gegen die Selbstbiographie den Vorwurf der Charakterbeschönigung erheben mag, so ist damit noch keineswegs der Beweis für die grössere Wahrheitstreue einer von fremder Feder verfassten geführt.«

Wander, von drei Geschwistern das älteste, wurde am 27. December 1803 zu Fischbach, einem lieblich gelegenen Dorfe des hirschberger Kreises in Schlesien, geboren. Sein Vater, von Beruf ein Schneider, besass daselbst ein kleines Haus mit einem Obstgarten; die Mutter Anna Rosina, geb. Gröbel, stammte aus dem nahen Dorfe Boberstein. Beide waren unermüdet thätig. Gab es keine Bestellungen, so besuchte der Vater die Auctionen in der Umgegend, kaufte Kleider, besserte sie aus und verkaufte sie dann wieder. Obwol nicht von jedem Aberglauben frei, gehörten Wander's Aeltern doch zu den aufgeklärtesten Leuten der Gemeinde; übrigens besass der Vater vor nichts einen grössern Abscheu als vor unnützen Reden und leerem Geschwätz.

Wander's Mutter war und blieb ihr Leben lang eine gottesfürchtige Frau. Anders war der Grossvater beschaffen, der, wie der kleine Enkel bemerkte, nie zur Kirche ging; es war sein Grundsatz, nicht dahin zu gehen. An ihm hing Wander mit Liebe; ihn zog er der Grossmutter auch dann noch vor, wenn sie ihm die schönsten Märchen und unwahrscheinlichsten Geschichten erzählte.

Im Alter von 5 Jahren musste Wander das Spinnen lernen, wogegen er die grösste Abneigung empfand. Jede Stunde am Spinnrad war für ihn eine Stunde der Qual, sodass er sich glücklich pries, als er zu seinem nächsten Geburtstage von Grossvater und Mutter ein Hahn-ABC und damit die Aussicht erhielt, seine Zeit nun besser verwenden zu können, als mit dem einförmigen, gedankenlosen Spinnen. Jetzt hiess es, sich mit Beihülfe der Aeltern die Buchstaben einzuprägen, die grossen wie die kleinen, die schwarzen, wie die rothen; für diese hatte Wander, wie wir ihm glauben wollen, mehr Vorliebe als für jene –: der Grund zur »rothen Literatur« späterer Jahre war gelegt. [5] Im Frühlinge des Jahres 1810 kam Wander das erste mal in die Schule des Ortes, welcher Cantor Langner vorstand. Die Schule, in die bereits Pestalozzi'sche Reformen Eingang gefunden hatten, gehörte zu den bessern des Kreises. Hier hatte der neue Jünger der Wissenschaft bald viel durch die Neckereien seiner Mitschüler zu leiden, da er allein von allen einen Zopf trug. Die Aeltern wollten es einmal so haben. Wander wehrte sich zwar mit allen Mitteln seiner erwachenden Logik gegen den Spott der Kameraden und half sich, geistig überlegen, in einzelnen Fällen trefflich gegen die Mehrheit; allein der Zopf war ihm, wie immer im Leben, auch selbst zuwider und deshalb bestürmte er die Mutter so lange, bis sie eines Tages »die Schere der Parze nahm« und den Schulknaben den Anlass zu neuen Spöttereien abschnitt.

Der Hülfslehrer Neumann fand, dass Wander nicht vorschriftsmässig schreibe; lag darin ein Fingerzeig, dass dieser einst wegen »schlechter Schreibereien« bestraft werden würde? Wander meint so; glaubt er doch auch schon in der Jugend ein Wühler gewesen zu sein, da er im Garten das Heu, in der Scheuer das Stroh aufwühlte!

Der lernbegierige Knabe besass ein gutes Gehör, aber musikalisch war es nicht. Das war ein Umstand, den er gern verborgen hätte und den er mit allem Fleisse zu beseitigen strebte. In ihm hatte sich nämlich längst die Lust zum Lehrberuf gerührt, da an der Schule junge Leute für das Lehramt vorbereitet wurden, und wenn es geheissen hätte, ihm fehle jedwedes musikalische Gehör, so hätte er in der damaligen Zeit kein Lehrer werden können. Er benutzte daher jede Singstunde gewissenhaft und brachte es durch beständige Uebung und mit Hülfe der Violine sogar so weit, dass er mit zum Chordienste beigezogen werden konnte und bei Begräbnissen mitsingen durfte. Es gab für ihn kein grösseres Gaudium, als nach Bärndorf, namentlich nach Oberbärndorf zu Grabe zu gehen. War der Weg verweht, gut; war er es aber nur theilweise, dann suchte er die Stellen auf, wo er es war. Unzähligemal sank er bis unter die Arme in die Windwehen und hatte Mühe, sich wieder herauszuarbeiten.

Bei dem Absingen der Trauerlieder unterlegte der kleine Schelm bisweilen einen selbstgemachten Text; »aber dabei haben die Todten ebenso gut auf den fischbacher Friedhöfen geruht, als wäre dies nicht geschehen.«

Eine seiner liebsten Passionen war das Werfen mit Steinen, wobei es ihm einmal bald übel ergangen wäre; er traf vom Friedhofe aus an eine der Kirchthurmglocken, die »erbaulich weiterklang« und ihn dadurch zu schleunigster Flucht veranlasste.

Wander hatte von seiner Mutter die Neigung zum Lesen geerbt. Alles Gedruckte, was ihm in die Hände kam, bis auf die Kaffee- und Zuckerdüten herab, wurde durchgesehen und geprüft. Sehr gern las er den »Berliner Bürgerfreund« von Ludewig; am liebsten aber las und hörte er Anekdoten und ärgerte sich oft darüber, dass in Fischbach niemand Anekdoten erfinde. Einen ungewöhnlichen Eindruck machte auf ihn eine Erzählung unter dem Titel: »Die Insel Felsenburg.« Er hielt sie durchaus für wahr und war nahe daran, die Insel aufzusuchen; allein niemand im Orte wusste, wo sie lag.

So schwand bei Scherz und Frohsinn die Zeit, bis für Wander die Zeit der Confirmation (15. Mai 1817) herannahte. Den Confirmandenunterricht ertheilte Pastor Siegert, ein würdiger Geistlicher, an dem Wander mit einer unsteigerbaren Liebe und Verehrung hing, wie er selbst bekennt. Der Confirmationsschein enthielt den Spruch: »Die Welt vergeht mit ihrer Lust« u.s.w. und wurde zum Grundstein für das Leben des Confirmirten.

Ernstlicher als je trat nun an diesen die Frage der Berufswahl heran. Er wollte Lehrer werden; auch der Vater wollte es, ohne ihm jedoch die Mittel zu seiner Ausbildung für diesen Stand bieten zu können. Da rieth man Wander zum Tischlerhandwerk. Es war das Beste, weil das Bessere nicht zu erreichen war. Der Vater sorgte für einen Lehrmeister seines Sohnes und fand ihn in dem Tischler Berthold zu Warmbrunn, einem gebildeten Manne, dem Sohne eines Lehrers. Berthold hatte sich schon längst auf einen Lehrling Namens Fritz gefreut; nun hatte er ihn. Aber um so weniger freute sich Fritz! Das Tischlerleben kam ihm zu hölzern vor; unter Hobelspänen fühlte er sich nicht glücklich; ihm fehlte der Tischlersinn, »den selbst Gott in seinem Schädel nicht gefunden hätte«.

Friedrich oder Fritz war eigentlich in Berthold's Hause gar kein Tischlerlehrling; er war Laufbursche, Hausknecht, Köchin, Factotum; nur hier und da gab es eine Beschäftigung, die wie [6] eine Tischlerarbeit aussah. So musste er einst eine Bude gegenüber dem Schwarzen Adler anstreichen; er strich sie roth an.

Der Tischlerlehrling fühlte sich unglücklich; allein er wagte es nicht, sich zu beklagen, auch bei den Aeltern nicht. Da bekam er zum Glück eine Fusskrankheit, die ihn zwang, zu den Aeltern zurückzukehren. Das Fussleiden besserte sich und Wander musste, wenn auch mit Widerwillen, seine »Lehre« in Warmbrunn fortsetzen. Als aber das Uebel wieder hervorbrach, gelang es dem Fischbacher, auf immer von dem ihm nicht im geringsten zusagenden Handwerke loszukommen, um im älterlichen Hause über die weitere Zukunft nachzudenken. Was kein Arzt vermochte, vermochte eine »Messfrau« aus Böhmen, deren Formeln und Zeichen die Aeltern vertraut hatten: sie heilte den kranken Fuss, d.h. er heilte von selbst.

Die Mutter theilte nun endlich, was schon früher hätte geschehen können, dem Lehrer und Ortsgeistlichen den Wunsch ihres Aeltesten mit, die beide sofort bereit waren, seine Vorbildung für das Lehrerseminar zu übernehmen. Wander war 15 Jahre alt, als er sein Schulleben für den Berufszweck aufs neue begann, und nahm seinen Platz bei den andern Präparanden des Hülfslehrers. Seine pädagogische Begabung entwickelte sich hier bald so entschieden, dass sie zu seiner Aufmunterung von allen Seiten anerkannt wurde. Im allgemeinen war der neue Präparand meist sich selbst überlassen; Cantor Langner gab ihm jedoch bisweilen eine Musikstunde, Pastor Siegert unterrichtete ihn ein- oder zweimal wöchentlich in den wissenschaftlichen Gegenständen. Seine Hauptbeschäftigung in dieser Zeit war das Notenschreiben, das ihm so zur zweiten Natur wurde, dass er es von dem Begriffe einer tüchtigen Schulbildung gar nicht mehr trennen konnte.

Als in Neudorf unweit Fischbach der Lehrer erkrankt war, musste Wander, der kaum siebzehnjährige Wander, seine Stelle vertreten; er that es zur Zufriedenheit der Gemeinde, die nach neun Monaten einen andern selbständigen Lehrer erhielt. Da jedoch inzwischen auch der Lehrer in Södrich unfähig geworden war, den Unterricht zu ertheilen, musste Wander auch diese Schule in seine Thätigkeit einbeziehen, sodass er vormittags in Neudorf unterrichtete, mittags bei den Aeltern in Fischbach zu Tische ging und darauf den Weg nach Södrich machte. Später half er auch in Bärndorf und Buchwald kurze Zeit aus.

Eines Tages erhielt Wander ein Schreiben; es war die Einladung des bunzlauer Seminardirectors Hoffmann zur Prüfung am 16. und 17. April 1821. Der Geladene ging, ohne sich grosse Hoffnungen auf seine Aufnahme gemacht zu haben, nach Bunzlau. Er hatte sich nicht getäuscht: er bestand nicht. Von 98 Präparanden wurden nur 25 angenommen, unter denen der Name Wander fehlte. Manche unter ihnen waren gegen 30 Jahre alt, da hatte es mit der Aufnahme der Jüngern ohnedies keine Eile.

Es war ein trauriger, obgleich kein hoffnungsloser Heimweg, der Weg von Bunzlau nach Fischbach, denn die Aufnahme war ja doch nur vertagt worden. Vorläufig hiess es in Fischbach bleiben! Aber es währte nicht lange, so eröffnete sich eine neue Aussicht in der Aufforderung, die Wander am Himmelfahrtstage 1821 zuging: er möge sich als Hülfslehrer in Ludwigsdorf, Kreis Schönau, melden. Er willigte ein und fand bei Cantor Rössler eine Stellung mit wöchentlichen 10 Silbergroschen, die nach einigen Wochen zufriedenstellender Dienstleistung bis auf 12 Silbergroschen wuchsen.

Trotz dieser nicht allzu beneidenswerthen Stellung gedieh Wander hier geistig und körperlich; statt seine Musse dem dort gebräuchlichen Bretspiel zu opfern, das er für den Tod alles Lebens ansah, bildete er sich in der Musik weiter aus und pflegte den Sinn für Poesie. Pastor Harter, der am 27. September 1821 die geistliche Leitung der Gemeinde übernahm, machte Wander mit Seume's Werken bekannt, die ihm nun eine Lieblingslektüre wurden und ihn zu dem Urtheil kommen liessen: »In jedem Hause ein Seume und dieser Seume in Fleisch und Blut – und das deutsche Volk feiert seine Auferstehung. Wer aus Seume nichts lernt, als die Gnade verdrängen und die Gerechtigkeit fordern, der hat genug gelernt, um sich über das Gesindel der Bedientenseelen zu erheben.«

Am Christabend 1821 brachte die Post abermals ein Schreiben aus Bunzlau. Director Hoffmann forderte darin Wander auf, er möge sich tüchtig mit der Bibel und der deutschen Sprache bekannt machen. Adressat ersah daraus, er sei in Bunzlau nicht ganz vergessen worden. [7] Wohl vorbereitet fuhr Wander am 17. April 1822 von Ludwigsdorf zur Aufnahmsprüfung nach Bunzlau, von dem Wunsche begleitet, er möge nach Beendigung seines Seminar-Cursus an den Ort seiner bisherigen, so erspriesslichen Wirksamkeit zurückkehren. Wie ganz anders würde sich in diesem Falle seine Laufbahn gestaltet haben!

Diesmal bestand Wander die Prüfung mit Leichtigkeit. Darauf wurde ihm nebst einigen Collegen ein schönes Zimmer des sogenannten »Neuen Hauses« und zwar Nr. 37 im 2. Stock als Wohnung angewiesen. Das Haus befriedigte Wander in hohem Grade; er sagt hierüber: »Vielleicht gibt es kein Seminar für Volksschullehrer mit gleich angenehmer und zweckmässiger Einrichtung.« Alles in allem zahlte der Seminarist jährlich 36 Thaler. Doch nur wenige zahlten so viel; den meisten wurde die Hälfte oder ein Theil dieses Betrags erlassen.

Nicht so günstig urtheilt Wander über das, was er sonst noch hier angetroffen und erfahren hat. So kehrte ihm die Wassersuppe mit Hafergrütze zu häufig wieder; es gefiel ihm nicht, dass keine der lebenden Sprachen im Seminar gelehrt und von den deutschen Classikern auch nicht einer gelesen wurde. Eine einzige Stube beschäftigte sich privatim mit deutscher Literatur; es war die, die er selbst bewohnte und die man deshalb die deutsche Stube nannte. Am meisten widerte Wander die Einführung von Stubenandachten an, die in ihm so reagirten, dass er gesteht: »Das pietistische Bunzlau machte mich zum Rationalisten.«

An Kurzweil und Scherzen fehlte es, besonders in der Dämmerungsstunde, hier nicht. Das machte den Aufenthalt im Seminar einigermassen angenehm. Weniger Anklang fand bei den jungen Leuten dieses Instituts das gleichmässige Frühaufstehen zur Sommers-und Winterszeit. Auch Wander hätte manchmal gern noch weitergeschlafen, wenn das Zeichen schon gegeben war, und wenn er je den Wunsch nach einem Aufseheramte gehabt hätte, wäre er am liebsten Schlafsaalaufseher geworden, um – selbst recht lange schlafen zu können.

Hier im Seminar steigerte sich in Wander auch die Liebe zum Sprichwort, als er Sailer's »Weisheit auf der Gasse« las. Er nahm Klopstock zur Hand, versuchte sich selbst im Versemachen und in neuen Versformen. Als am 3. Februar 1824 der Director des Lehrerseminars sein Geburtsfest beging, wurde ihm ein Festgedicht überreicht, das Wander zum Verfasser hatte. Dafür rief ihn Director Hoffmann auf sein Zimmer und drückte ihm seine grosse Freude darüber aus.

Es war indess nicht das erste mal, dass der Director und sein Zögling einander hier begegneten. Wander hatte einmal etwas zu laut gegen »Seine Majestät den Teufel« und gegen die Wunder gesprochen, was Hoffmann auf Umwegen vernommen; er beschied den Sprecher zu sich und gab ihm ein Buch in die Hand, das zwar nicht viel half, aber ihn doch bewog, aus Liebe zum Director künftighin ruhiger zu sein.

Nach eigener Aussage hat sich Wander im Seminar nie so recht wohl befunden; er stand zwar mit allen Seminaristen auf gutem Fusse, aber Freunde im engeren Sinn besass er nur wenige, da er kein Allerweltsfreund sein konnte und ebenso wenig Allerweltsfreunde haben wollte. Der Geist pädagogischer Bildung wehte ihm hier zu schwach; er fand, dass manches Seminar, anstatt Lehrer zu bilden, Schulmeister fabricire. Man lege sie wie Essiggurken ein und in zwei Jahren seien sie fertig; an andern Orten dauere es deren drei, ohne dass jene dann wesentlich besser seien.

Nichts machte ihm also den Abschied schwer, als er das Seminar verliess, bis auf seinen Lehrer der deutschen Sprache, Dreist, dem Wander manche Anregung verdankte. Director Hoffmann theilte nach Beendigung der Studien Wander mit, er sei als Hülfslehrer nach Giesmannsdorf, Kreis Bunzlau, vorgeschlagen. »Wollen Sie hingehen?« fuhr er fort; »Sie werden allerdings eine schwierige Stellung dort haben. Die Gemeinde ist gegen den neuen Cantor höchst aufgeregt und überdies ist der Pastor Puschmann ein entschiedener Gegner unserer Anstalt. Aber wir haben aus guten Gründen gerade Sie dahin bestimmt und können füglich nicht einen andern Seminaristen an diesen Ort schicken.«

In dieser Eröffnung lag so viel ehrenvolles Vertrauen, dass Wander ganz überrascht war, eine solche Würdigung zu erfahren.

Wie hatte sich der Cantor von Giesmannsdorf das Mistrauen der Gemeinde zugezogen? Wider Willen. Er war einfach seinem Mitbewerber um die Cantorstelle, dem Sohne des letzten [8] Cantors, vorgezogen worden; darum wollte man ihn um jeden Preis wieder aus dem Dorfe haben. Wander sollte dem Cantor Kusche eine moralische Stütze sein.

Obzwar Kusche das Unglück hatte, nur auf einem Auge zu sehen, sah er doch mehr, als andere Lehrer mit zweien. Der Cantor und sein neuer Hülfslehrer, dessen materielle Stellung keineswegs zu den guten zählte, gewannen einander bald sehr lieb; jener besass viel guten Willen, ein gesundes, durch Erfahrungen gereiftes Urtheil und ermuthigte diesen mit den Worten: »Wir wollen uns schon durchkämpfen!« Und Eintracht war hier nothwendig. Wander sah bald ein, dass es das Beste sei, seinem Berufe und seinen Bestrebungen zu leben. Dafür nannte man ihn einen »frommen Pinsel«, einen »Lämmelbruder« und, weil er auf dem Chore nicht als Solosänger auftrat, einen untauglichen Lehrer. Diese Untauglichkeit in den Augen der Gemeinde und des – Pastors trat noch mehr hervor, als Wander seine Klasse durch eine neue Lesemethode reformirte, die nur deshalb so viele Gegner fand, weil sie vom Althergebrachten ganz und gar abwich. »Gerade wenn ich höre, es sei immer so gewesen, liebe ich es, es einmal anders zu versuchen«, sagte Wander und blieb bei seiner Ansicht. Faule Nachgiebigkeit war ihm fremd; er hatte sich dem Wahlspruche geweiht: »Wer auf dem Sinne beharrt, der bildet die Welt sich.«

Der Pastor, der zugleich Revisor der Schule war, that alles Mögliche, um Wander in Miscredit bei der Gemeinde zu bringen, besonders, seitdem dieser sich geweigert hatte, die Kinder in der Kirche zu beaufsichtigen. Diese feindselige Stellung des Revisors hatte endlich zur Folge, dass sich eine Partei gegen Wander bildete, die ihn schlechtweg davonjagen wollte. Es kam nicht dazu. Wander zog sich aber jetzt desto mehr zurück und las und schrieb fleissig. Schiller, Jean Paul, Goethe, Gellert, Langbein und Ludwig Wekherlin, dessen »Graues Ungeheuer« ihm bei einem bunzlauer Buchbinder in die Hände gekommen war, bildeten zu dieser Zeit seine Hauptlektüre. Dadurch bildete er sich in der Literatur immer besser aus, sodass ihn Puschmann oft nur den Professor der Poetik nannte, der für Giesmannsdorf zu gelehrt sei und nach Heidelberg versetzt werden müsse.

Aus Heidelberg wurde Hirschberg. Als Wander am letzten Tage des Jahres 1826 Giesmannsdorf verliess, um eine Lehrerstelle an der neuorganisirten Stadtschule zu Hirschberg zu übernehmen, gab es des Weinens der Kinder und des Klagens der Aeltern kein Ende über den Verlust des wohlmeinenden, tüchtigen Lehrers. Was Wander in Giesmannsdorf erlebt und erlitten, hat er in der Schrift: »Aus meinem Hülfslehrerleben« (Leipzig 1869), niedergelegt.

Die erste Function Wander's in Hirschberg war das Begräbniss eines – Lehrers. Wäre Wander abergläubig gewesen, so konnte ihm dieser Umstand als ein Zeichen schlimmer Vorbedeutung gelten. Er achtete nicht darauf. Am 20. März 1827 übertrug ihm der Revisor der Schule die zweite Lehrerstelle mit freier Wohnung im Schulhause, das am 1. Mai eingeweiht wurde und die vier Bezirksschulen zu einer Stadtschule zusammenfasste. Die Schulen standen durchaus nicht in jener Blüte, wie sie Wander von den hirschberger Lehrern erwartet hatte; ja, er musste bald einsehen, dass es auch nicht so bald besser werden sollte. Es fehlte der Schule an einer ernstlichen Leitung.

Das Hauswesen liess sich Wander von seiner Schwester besorgen; auch nahm er seinen jüngern Bruder zu sich, der in Hirschberg das Gymnasium absolvirte. Am letzten Tage desselben Jahres (1827) starb sein Vater in Fischbach, wo Wander dann am 24. Februar 1828 seine Verlobung mit Fräulein Charlotte Wilhelmine Fritsch feierte; die Vermählung folgte schon am 6. Mai in der Gnadenkirche zu Hirschberg durch den Superintendenten und Schulrevisor Nagel.

Wander hatte in Hirschberg bald Gründe, unzufrieden zu sein. Die Fenster seiner Wohnung gestatteten der Kälte und dem Wetter ungehinderten Eingang. Die Antwort auf die Bitte nach Abhülfe, die durch Vorfenster leicht zu leisten war, lautete: Wenn es die andern Lehrer aushielten, könne es auch Wander aushalten; die Fenster seien im ganzen Hause gleich. Er hielt es in der That aus bis in den Juli 1830; dann bezog ein anderer Lehrer seine Amtswohnung, während Wander mit Genehmigung der königl. Regierung zu Liegnitz ein Quartier ausserhalb der Schule nahm und bis zum Jahre 1835 bei seiner Schwiegermutter wohnte.

Einen andern Streitpunkt bildete der Umstand, dass nach Abgang eines Lehrers Wander wöchentlich 12 Stunden länger unterrichten musste, als die Vorschrift gebot. Er that es in der Hoffnung, man werde sich für diese Mehrleistung zu einer entsprechenden Remuneration verstehen. [9] Da war er jedoch sehr im Irrthum! Wie viel er auch reden und schreiben mochte, es blieb bei solchen Versprechungen, die schon durch ihre Fassung zeigten, dass sie leer seien. Wander erreichte nichts, als dass er sich Feinde schuf. Doch, was kümmerte das ihn! Er sagt: »Es liegt in meiner Natur ein so entschiedenes Rechtsgefühl, dass mich jede Verletzung desselben zu entschiedenem und beharrlichem Widerstande antreibt. Selbst meine Freunde haben sich zuweilen befremdend darüber ausgesprochen, wie ich mir in der einen oder andern Sache Verdruss mache und sie nicht gehen lasse, wie sie geht, ich könne es ja doch allein nicht ändern. Ich verabscheue diese faule Ansicht. Lediglich darum macht sich das Unrecht in der Welt so breit, weil nicht jeder sein Recht wahrt.«

Ein kleines Intermezzo mit Director Hoffmann aus Bunzlau, dem Wander's »Weihnachtsnüsse«, eine Sprichwörtersammlung für Kinder, nicht gefielen, endete nach vielem Hin- und Herschreiben damit, dass sich Wander von Bunzlau gänzlich lossagte.

Im Jahre 1832 erliess Wander einen Aufruf zur Gründung eines pädagogischen Lesevereins, an welchem sich anfänglich nur 12 Mitglieder betheiligten, deren Zahl jedoch bisweilen bis auf 50 stieg. Der Verein hatte den Zweck, einen frischen Geist unter die Lehrer zu bringen, und hat während seines achtzehnjährigen Bestandes sicher das Seine gethan. Zwei Jahre später übernahm Wander die Redaction des »Volksfreundes aus den Sudeten«, den er dazu benutzte, »manchmal einen guten Gedanken unter das Volk zu bringen«.

So war Wander beständig bemüht, Volk und Lehrer zu wecken; allein, obgleich er darüber seine Schule nicht vernachlässigte, sah man doch an höherer Stelle seine publicistische Thätigkeit ungern, sodass er später sogar einmal das Wort hören musste, es sei eine blosse Vergünstigung, dass Lehrer schreiben dürften, und die Zeit sei zweckmässiger zu verwenden.

Im Jahre 1834 übernahm an Nagel's Stelle, den Wander als freisinnigen Geistlichen, humanen Schulinspector und tüchtigen Pädagogen achtete, Pastor Henckel das Revisorat der Schule.

Der neue Revisor war wirklich ein Mann der Controle, und worin Nagel zu wenig gethan, darin that Henckel zu viel. Bald wurde ihm offenbar, dass sich Wander einer Orthographie bediente, die von jener seiner Collegen in einigen Punkten abwich. Der Revisor suchte Wander zu einheitlicher Schreibung der Wörter zu bewegen, was dieser ablehnte, da durch kein Gesetz bestimmt sei, welche Schreibung man als die beste allgemein anerkennen müsse. Nun drohte Henckel, Anzeige bei der königl. Regierung zu machen. Es geschah. Unter dem 14. Juli 1834 erhielt Wander von Liegnitz aus die Weisung, sich beim Unterrichte lediglich der allgemein geltenden Rechtschreibung zu bedienen, wie sie von Adelung und den deutschen Classikern gebraucht werde; privatim möge er schreiben, wie er wolle. Wander war froh, dass ihm gestattet war, in seiner Stube ein kk statt ck, ein x für ein u zu machen, und bedauerte im übrigen die wegen einiger Buchstaben auf ihn unternommene Hetzjagd. Wander bat um eine Frist, die Abweichungen seiner Orthographie zu begründen, worauf ein neues, strengeres Decret folgte. Dieser Verkehr mit den Behörden äusserte auf Wander seine Rückwirkung; er ging mit Unlust in die Klasse und strafte manchmal strenger, als er sonst gewohnt war. Nach einer nochmaligen Vermahnung gab er den Unterricht in der deutschen Sprache freiwillig ab und übernahm dafür den Rechenunterricht, da das Einmaleins von seiner Seite keine Neuerungen zu befürchten hatte. Er glaubte, nun wäre alles gut. Doch es kam anders.

Am 6. April 1835 erhielt er eine amtliche Einladung zu seinem Pastor Henckel, wo er seinen ehemaligen Revisor, den nunmehrigen Consistorial- und Schulrath Havenstein, als Regierungscommissär anwesend fand. Drei Crimina wurden ihm hier zur Last gelegt: er habe als Redacteur des »Volksfreundes« Adel und Geistlichkeit angegriffen; er sei Stifter eines »Vereins für Aufklärung« und habe bisjetzt im Ungehorsam gegen die Verordnung der Regierung hinsichtlich der Rechtschreibung verharrt.

Wander blieb die Antworten nicht schuldig: er habe im »Volksfreund« nur Ungehörigkeiten gerügt; die Statuten des genannten Vereins, der auch Geistliche unter seinen Mitgliedern zähle, seien vom Oberpräsidium bestätigt und der Versuchung, gegen die Orthographie zu sündigen, sei er nun durch Uebernahme eines andern Lehrgegenstandes entzogen.

[10] Havenstein hatte noch etwas auf dem Herzen. Wander war, mit Uebergehung der Regierung zu Liegnitz, bei dem Minister von Altenstein um eine Stellung an einem Lehrerseminar bittlich geworden und hatte die Aussicht auf Gewährung seines Gesuches erlangt, sobald sich irgendwo eine passende Stellung finden würde. Das hielt nun der Schulrath dem Lehrer vor. »Sie sind ein Oppositionsmann«, sagte er, »und haben, wie ich vernommen, eine Stellung an einem Lehrerseminar nachgesucht; aber Sie werden keine erhalten, Sie würden uns schöne Schullehrer ziehen. Das Ministerium wird schon vorher die Departementsregierung befragen, wir haben auch ein Wort dabei zu sprechen und dann werden wir dem Ministerium sagen, in welcher Weise Sie opponirt haben.« Schliesslich drang Havenstein in Wander, den deutschen Sprachunterricht wieder zu übernehmen, was dieser ablehnte. »Ja, ja, Sie wären ein Prachtexemplar unsers Bezirks, wenn Sie nur Ihren verdammten Eigensinn nicht besässen!« Mit diesen Worten konnte Wander gehen.

Anfang October erhielt er von gut unterrichteter Seite ein Schreiben aus Bunzlau, worin ihm mitgetheilt wurde, der dortige Seminardirector Kamerau sei veranlasst worden, bei dem Generalsuperintendenten Ribbeck in Breslau darauf hinzuwirken, ihn wegen seiner freisinnigen religiösen Theorien aus dem Lehramte zu entfernen. Ribbeck kam auf einer Visitationsreise nach Hirschberg, untersuchte die Angelegenheit und fand, dass der wahre Thatbestand durch allerlei Zuthaten entstellt und übertrieben worden sei. Wander hat sein Glaubensbekenntniss in seiner Biographie ausdrücklich niedergelegt: »Ich glaube an Gott, Tugend, Unsterblichkeit; im übrigen ist mein religiöser Standpunkt der rationelle. Ich sagte oft zu mir: Sei vernünftig! Darum habe ich alles, was mit der Vernunft im Widerspruche stand, entfernt, wo ich es gefunden.«

Das Jahr 1837 brachte Wander in neue Conflicte. Bald war es eine ungerechte Strafe, die er einem Schüler auferlegt haben sollte, bald war der Revisor, bald der Magistrat mit ihm unzufrieden. Jener konnte es nicht verwinden, dass Wander bei der Unterschrift eines Conferenzprotokolls erklärt hatte, er sei mit mehrern Punkten desselben nicht einverstanden; dieser beschuldigte ihn, Schulkinder zum Abschreiben von Manuscripten benutzt zu haben, was allerdings, jedoch ausserhalb der Schulstunden, geschehen war. Wander wandte sich in diesen Fällen, meist ohne Erfolg, an die Regierung, bei der sich die Wander-Acten häuften. Unter den hirschberger Lehrern stand er ziemlich isolirt da; er geisselt sie aber auch dafür durch das schärfste Urtheil und meint, man könne zehnmal das chinesische Reich umwälzen, ehe man das verphilisterte Schulmeisterthum aufrege.

Das Revisorat der Stadtschule ging mit dem Jahre 1840 auf Pastor Jaekel über. Der war ein vortrefflicher Mensch, dem es nicht darum zu thun war, die Kinder mit einem Wuste von Kenntnissen vollzustopfen, sondern sie, wie er sagte, »anzurühren«, d.i. lebendig zu machen und zu begeistern. Wander hat ihm in seinem »Pädagogischen Wächter« (1849, S. 67) unter der Ueberschrift: »Das pädagogische Anrühren«, ein Denkmal gesetzt.

Unter Jaekel's Revisorat führte Wander im Jahre 1840 Lehrerversammlungen zu Hirschberg ein, denen er den Namen »Schlesische Lehrerfeste« gab. Es kamen nur drei zu Stande; ihre Fortsetzung wurde von der Regierung verboten. Zwei Jahre später musste nach Abgang eines Lehrers Wander abermals ausserordentliche Unterrichtsstunden übernehmen; er weigerte sich zwar, allein der Magistrat machte ihm die Uebernahme zur Pflicht und bedeutete ihn, er möge weniger Privatstunden geben. Durch die allzu grosse Anstrengung wurde Wander's Gesundheit bald derart erschüttert, dass er mit Erlaubniss der Behörde eine Brunnencur in Cudowa durchmachen musste.

Mehr als je machte Wander in diesen Jahren das Bestreben geltend, die Schule von der Kirche zu befreien. Das war es, »was den Staat gegen ihn in Harnisch brachte«. Durch die Schrift: »Die Volksschule als Staatsanstalt« (Leipzig 1842), zog er sich eine Vorladung vor die königl. Regierung nach Liegnitz und eine ernste Verwarnung zu; dennoch wagte er sich bald wieder mit einer Schrift: »Der geschmähte Diesterweg« (Leipzig 1843), hervor, die eine zweijährige Disciplinaruntersuchung zur Folge hatte. Anfänglich wurde eine Strafversetzung und die Abnahme des Religionsunterrichts gegen ihn ausgesprochen, nach dem Recurse Wander's jedoch die Strafversetzung in eine Ordnungsstrafe verwandelt, die nie eingezogen wurde, und auch der Religionsunterricht ihm wiedergegeben. Was Wander in den ersten Vierzigerjahren, namentlich von [11] 1842 bis 1845 erlebt und erlitten hat, beschreibt actenmässig seine 1848 zu Grimma erschienene Schrift: »Fünf Jahre aus dem Leben eines deutschen Volksschullehrers.«

Die Untersuchung war kaum zu Ende, als man im hirschberger Thale einer communistischen Verschwörung auf der Spur sein wollte, für die dem Polizeiagenten Stieber aus Berlin, der als »Maler Schmidt« in der Gegend »Vergnügungsreisen« machte, nur noch die intelligenten Kräfte fehlten. Ein Fabrikbesitzer aus Eichberg, Schlöffel, wurde »wegen communistischer Umtriebe« verhaftet. Da Wander mit ihm befreundet war, musste er als Vice-Caput der Umsturzgesellschaft gelten und am 14. März 1845 wurde eine Hausdurchsuchung bei ihm gehalten, wobei man ausser einigen Sätzen von minderer Erheblichkeit besonders die Bemerkungen beanstandete, die er zu einer Gewerbe-Preis-Medaille mit dem Bilde der »Germania« gemacht hatte. Es war Wander aufgefallen, dass sich die Germania nicht in einer fortschreitenden, sondern sitzenden Stellung befinde, dass ihr Mund so fest geschlossen sei, dass man keinen ihrer Zähne sehen könne, und dass sie ein sehr trübes Gesicht zu machen scheine. Dieses Symbolisiren trug Wander eine Verhaftung von einigen Tagen und die Suspension vom Lehramte ein, die vom 15. März 1845 bis 13. Januar 1847 währte.

An diesem Tage erfolgte die feierliche, von der Regierung zu Liegnitz verfügte Wiedereinführung Wander's in sein Lehramt zu Hirschberg. Der Magistrat und die Schuldeputation nahmen durch Abgeordnete theil. Der Bürgermeister, der zu jener Zeit von der freireligiösen Bewegung ergriffen war, zeigte sich jetzt in demselben Grade wohlwollend, wie er ihm früher durch seine Massregeln feindselig gegenübergestanden hatte. Pastor Henckel, nach Jäkel's Tode wieder Revisor der Schule, liess nie etwas von den frühern Differenzen merken und blieb fortan zu Wander im freundlichsten Verhältnisse, mochte dieser in der Schule schreiben, wie er wollte.

Von dem nächsten Jahre 1848 sagt Wander: »Wenn ich jetzt darauf zurückblicke, so begreife ich nicht, wie ich im Stande gewesen bin, das, was ich gethan, zu vollbringen. Es war, als wenn die Kräfte gar nicht zu ermüden gewesen wären. Die Kinder waren, weil das ganze Volk lebte, erregt. Das Unterrichten schien ein Spiel. Ich ging aus dem Lehrzimmer an den Schreibtisch, schrieb eine Correspondenz, verfasste ein Plakat, wehrte einen Angriff auf die Partei ab, besuchte den Club oder die Volksversammlung, nahm in den völlig ungewohnten Tabackwolken an den politischen Erörterungen theil, hielt einen Vortrag, wohnte einer Vorstands-Conferenz bei, besorgte meine Correcturen und Vorarbeiten für die Schule und war den folgenden Tag so frisch unter meinen Knaben, als wäre ich eben von einer stärkenden Brunnencur zurückgekehrt.« Eine der ungedruckten Schriften Wander's aus dieser Zeit trägt den Titel: »An das Volk! Bürger! Bauern! Menschen!«

Und doch hatte sich Wander eben in diesem Jahre, stets auf legalem Boden stehend, jede Verhaftung ferne zu halten gewusst, die rechts und links einem Gesinnungsgenossen begegnete!

Am 25. April begab sich Wander nach Breslau, wo eine grosse Volksschullehrer-Conferenz stattfand. »Es war keine Schulmeister-Versammlung; es waren Lehrer, die niemand berufen, die vom Geiste getrieben zusammengetreten waren.« Was hier berathen und verhandelt wurde, sollte auch den übrigen Lehrern bekannt gemacht werden. Am 23. Juni tagte zu Hirschberg eine Kreis-Lehrerversammlung; hier erkannte Wander an der matten Stimmung der Collegen, dass alles vergeblich gewesen, was er in fast zwei Jahrzehnten für die Lehrer gesprochen und gethan; er verliess den Saal mit einem Herzen, das mit den Lehrern des Kreises vollständig gebrochen hatte.

Obwol er in Volksversammlungen, die der »Demokratische Verein« veranstaltete, häufig als Redner auftrat, war ihm doch nicht beizukommen. Aber an seiner Entfernung wurde unablässig gearbeitet. Den Anlass dazu nahm man endlich im September 1849. Für den 3. dieses Monats war wieder ein »Kinderfest« beschlossen, an dem Wander die Einleitung eines »Hoch« auf das deutsche Vaterland zugetheilt worden war. Er zögerte, die Aufgabe auszuführen, überwand jedoch allmählich seine Bedenken und hielt die Rede, die im »Pädagogischen Wächter« (1849, Nr. 38) getreu zu lesen ist. Auf Grund derselben wurde Wander am 21. September vor eine Sitzung aufs Rathhaus zu Hirschberg beschieden, wo der Superintendent Roth aus Erdmannsdorf im Auftrage der liegnitzer Regierung seine Suspension vom Lehramte aussprach. Wander konnte nicht einmal von den Schülern seiner Klasse Abschied nehmen. In der Privatanstalt des[12] Fräulein Schöndörffer unterrichtete er indess noch bis zum 23. März 1850 weiter; er hatte seit 1827 ununterbrochen an dieser Schule gewirkt. Es wurde dafür gesorgt, dass Wander nicht ein zweites mal in sein Lehramt eingeführt wurde; war es doch erwiesen, dass er sich gegen die bestehende Staatsregierung und gegen die Autorität der christlichen Kirche aufgelehnt hatte.

Auf den Rath seines Arztes ging Wander im August 1850 für eine Zeit nach Amerika. Er nahm den Weg über Dresden, Leipzig und Hamburg; in Bremen, wo er mehrere Freunde aus Schlesien traf, die aus politischen Gründen einen Ausflug nach Texas machten, schiffte er sich auf der »Adolphine« nach Baltimore ein. Hier brachte er in der Familie eines aus Wien ausgewanderten Offiziers, dessen ältesten Knaben er unterrichtete, den Winter zu. Dadurch wurde er vielfach in höhere Gesellschaftskreise eingeführt und mit dem amerikanischen Leben bekannt. Im Frühjahr ging er nach Washington und Virginien; von Richmond nach Pittsburg, Cincinnati, Columbus, Cleveland, Buffalo. Vom Niagara ging er nach Neuyork, Philadelphia, um sich hierauf von Baltimore aus wieder nach Deutschland einzuschiffen. Der »Orion« trug ihn über das Meer zurück und am 23. August 1851 traf er wieder in Hirschberg ein.

Seine Ankunft war augenblicklich allgemein bekannt. Kaum hatte er seine Frau begrüsst, trat auch schon ein Executor ein, der ihm laut Urtheils vom 7. Mai 1850 funfzig Thaler Strafe wegen Abhaltung einer Volksversammlung abverlangte. Ein gleiches Urtheil traf ihn de dato 28. April 1851. Am 8. September wurde er sogar von einem Gerichtsdiener zu vierwöchentlicher Haft abgeholt, da er in einem Zeitungsartikel den hirschberger Landrath beleidigt hatte.

Da Wander jeder Erwerb vorläufig abgeschnitten war, entschloss er sich, die auferlegten Geldstrafen durch die Haft abzubüssen. In dieser Lage lernte er einen Freund kennen, der ihm von freien Stücken schrieb: »Ich wollte nach London zur Weltausstellung reisen und hatte 150 Thaler dafür bestimmt. Ich bin nicht gereist. Nehmen Sie hiermit 50 Thaler und seien Sie die 8 Wochen frei. Ich gewinne dabei noch 100 Thaler!«

In Hirschberg wurde es für Wander immer unerträglicher. Er entschloss sich deshalb, anderwärts mit seiner Familie ein bürgerliches Geschäft zu betreiben. Er miethete am 3. April 1852 ein Local in Löwenberg und traf Vorbereitungen zur Errichtung einer Materialhandlung. Da wurde ihm eröffnet, dass ihm eine Niederlassung in Löwenberg nicht gestattet werden könne; nur seine Familie durfte bleiben. Nachdem ihn auch Bunzlau und Lauban auf die Dauer nicht aufgenommen, brachte er die letzten Monate des Jahres in Hirschberg zu und erlangte endlich von der Ortspolizeibehörde des nahen Hermsdorf unter dem Kynast die schriftliche Erlaubniss, sich dort niederlassen zu dürfen. Nun kaufte Wander ein kleines Haus, in dem ein Spezereigeschäft betrieben wurde. Seine Frau und sein zweiter Sohn sollten es fortführen. Statt des lange erwarteten Steuerscheins erschien aber am 6. Juni der Ortsrichter mit dem Gerichtsschreiber und publicirte ein Decret des Landraths, nach welchem der Frau Wander's der Gewerbebetrieb nicht zu gestatten und der Laden zu schliessen sei – ganz gegen eine frühere Erklärung des Landrathamtes. Trotzdem wurde das Geschäft doch betrieben und zwar, da kein Gewerbeschein ertheilt ward, bis Ende April 1854 steuerfrei. Auch in Hermsdorf musste sich Wander am 17. Mai 1853 noch eine Haussuchung empfindlichster Art gefallen lassen, für die er erst im Jahre 1859 Genugthuung erhielt.

Eine grosse Veränderung ging im Jahre 1853 in Wander's Familie vor sich. Sein ältester Sohn Oskar starb in Löwenberg; die beiden andern, Hugo und Kuno gingen mit dem Onke (s. Vorrede zu Band 1, S. XXIII) nach den Vereinigten Staaten.

Wander nahm nun eine einstweilen beiseite gelegte Sache wieder zur Hand, die ihm viel Freude und Trost brachte für alles, was er gelitten: er vergrub sich in das Sprichwort. Nach sechs Jahren rastlosen Fleisses konnte er der Verlagshandlung F.A. Brockhaus in Leipzig das riesige Manuscript des »Deutschen Sprichwörter-Lexikon« vorlegen, das indess während des Drucks noch viel umfangreicher geworden ist. Wer zählt die Stunden, die Wander dem Sprichwort geopfert! Ausserdem schrieb er von Hermsdorf aus die meisten Leitartikel für die »Hirschberger Zeitung«. Am 25. Januar 1871 starb ihm seine Frau. Noch drei Jahre blieb er in Hermsdorf, dann vertauschte er seinen Wohnsitz mit Quirl, einem Dorfe zwischen Hirschberg und Schmiedeberg und diesem näher. Es wurde immer friedlicher, immer schöner um ihn her. Der »Schmiedeberger Sprecher« war das Sprachrohr, durch das er seine frischen Anschauungen in die Welt [13] rief, die sich nach und nach eine ganz andere Meinung von ihm bildete, als er über sich zu hören gewohnt war. Als er am 21. September 1874 das fünfundzwanzigjährige Jubiläum seiner Lehramtsenthebung feierte, gingen dem Jubilanten hunderte von Beglückwünschungen aus allen deutschen Gauen zu und das »Wanderalbum« füllte sich mit den Bildnissen der Freunde. Die Zeit hatte manchen mit Wander ausgesöhnt, der früher nicht mit ihm gegangen war.

Am 4. Juni 1879 überraschte Wander ein Schlagfluss, dem er augenblicklich erlag.46 Kurz vorher hatte er noch einen Rundgang durch seinen Hausgarten gemacht. Seinem Wunsche gemäss wurde er auf dem hirschberger Kirchhofe am Cavalierberge begraben; dies geschah am 8. Juni. In seinen testamentarischen Festsetzungen bezüglich des Begräbnisses sagt er noch: »Ich wünsche, dass zum Grabe ein Platz von einer halben Quadratruthe erworben werde, gross genug, dass zwei Bäume darauf gepflanzt werden können und zwar eine Eiche und eine Linde, die beiden deutschen Nationalbäume. Auf das Grab mag eine Steinplatte kommen, aber mit der Inschrift: Hier ruht Herr Karl Friedrich Wilhelm Wander, Verfasser des Deutschen Sprichwörter-Lexikons, geboren am 27. December 1803 zu Fischbach, gestorben am – (4. Juni 1879 in Quirl), von 1827 bis 1849 Lehrer an der evangelischen Stadtschule zu Hirschberg.« Statt der Steinplatte wurde ein Obelisk errichtet und von Freunden und Verehrern ein geschmackvolles Gitter um das Grab gezogen.

Ohne Zweifel deckt dieses einen Mann, der es ehrlich gemeint hat mit der Welt, mit jedem; sein Fehler war vielleicht, dass er ein zu scharfes Auge für das kleinste Unrecht und die geringste Unordnung besass und dass er »auch das kleinste seiner Rechte mit den Zähnen festhielt«; allein dessen unbeschadet hat sein Geist nicht schlecht gewirkt. Wander hat sich der Freiheit und Arbeit geopfert. Der zahllosen Beiträge an Zeitungen und Zeitschriften, der Flugblätter und Broschüren, der Lehr- und Lesebücher hier im besondern zu gedenken, ist unmöglich. Wander's aus Amerika zurückgekehrter Sohn Hugo bewahrt mit Sorgfalt den ausgiebigen Stoff zu einem biographischen Denkmal grösserer Art, das ihm vielleicht ein Berufener einst setzen wird. Hätten wir dem Manne sonst nichts als das »Deutsche Sprichwörter-Lexikon« zu danken, wir müssten seinen Fleiss bewundern und als Deutsche stolz auf ihn sein!

Ganz besondern Dank verdient aber auch die Verlagshandlung des Werks; sie verdient ihn von der ganzen deutschen Nation, da sie es unternahm, das Resultat des Wander'schen Sammelfleisses dem Volke zugänglich zu machen. Ohne Aufschub hat sie nach Wander's Tode das Werk zu Ende geführt, dessen Druck vor 18 Jahren begonnen hatte. Von der Verlagshandlung wurde dem Unterzeichneten die ehrenvolle Aufforderung zutheil, das »Deutsche Sprichwörter-Lexikon« mit diesen Gedenkblättern an den Verfasser abzuschliessen. Er folgte derselben gern; erhielt er doch dadurch Gelegenheit, einen dauernden Kranz auf das Grab eines Mannes zu legen, zu dem und zu dessen Werke er länger als ein Decennium in inniger Beziehung stand.

Dem Schlussbande ist ein Namenregister der Quellenverzeichnisse zu allen fünf Bänden des »Deutschen Sprichwörter-Lexikon« beigegeben worden, um das Auffinden der Quellenwerke mit vollständigem Titel zu fördern. Ein Blick auf den Band, von welchem ab ein Werk für das »Deutsche Sprichwörter-Lexikon« benutzt worden ist, wird auch genügen, dieses zu entschuldigen, wenn es nicht alle Sprichwörter und Redensarten enthalten sollte, die in der Quelle zu finden waren.


Karlsbad, im August 1880.


Joseph Bergmann,

Kaplan des ritterl. Ordens der Kreuzherren mit dem rothen Stern.


Quelle:
Karl Friedrich Wilhelm Wander (Hrsg.): Deutsches Sprichwörter-Lexikon, Band 1. Leipzig 1867.
Lizenz:

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