Dilthey, Wilhelm

[129] Dilthey, Wilhelm, geb. 1833 in Biebrich. Prof. in Berlin.

D., dessen historische Arbeiten zugleich eine Analyse und Synthese verschiedener Seiten und Momente des philosophischen Denkens enthalten, gründet die Philosophie auf die innere Erfahrung und vertritt so eine Art idealistischen Positivismus oder positivistischen Idealismus. Die Metaphysik hat ihre Rolle ausgespielt, sie gibt nur Seiten der Wirklichkeit wieder, verabsolutiert Erfahrungsmomente, führt zu Antinomien und unlösbaren Problemen. Sie hat nur noch die Aufgabe, »die Ergebnisse der positiven Wissenschaften[129] in einer allgemeinen Weltansicht abzuschließen«. Die Philosophie ist »die Grundwissenschaft, welche Form, Regel und Zusammenhang aller Denkprozesse zu ihrem Gegenstande hat, die von dem Zweck bestimmt sind, gültiges Wissen hervorzubringen.« Sie erfaßt die Wirklichkeit der reinen Erfahrung und zergliedert sie, erfaßt sie auch in ihrem Zusammenhange. Die Funktion der Philosophie ist es, »die inneren Antriebe einer Kultur zum Bewußtsein ihrer selbst zu erheben und so dieser Kulturbewegung die Klarheit ihrer Ziele und die Energie ihres Wollens zu verstärken, ihr die letzten Generalisationen der erworbenen Begriffe auszubilden«. Ihre Methode ist die »Selbstbesinnung«, die über erkenntniskritische Analyse hinausgeht und im »Strukturzusammenhang« des Ichs ihre Quelle und ihre Bedingungen hat. Nicht das Denken allein, sondern auch der Wille, das einheitliche Seelenleben überhaupt gehört zu den Erkenntnisfaktoren (gegen den Intellektualismus); die abstrakt-analytische Betrachtungsweise wird dem stetigen Zusammenhang des Geschehens nicht gerecht (gegen das »Atomisieren« u. dgl.; vgl. Bergson). Die Kategorien (Substanz und Kausalität) stammen aus ursprünglichen, konkreten seelischen Zusammenhängen (Identität, Wesen, Wirken, Zweck u. a.) und sind auf diese nicht übertragbar. Es gibt also keine psychische Kausalität, keinen äußerlichen Nexus zwischen gesonderten, selbständigen Elementen, sondern nur einen stetigeren inneren Zusammenhang, welcher final ist, so daß im Geistesleben der Zweck herrscht.

Die Geisteswissenschaften sind von den Naturwissenschaften scharf zu sondern; sie haben es mit der unmittelbaren, vollen Wirklichkeit sowie mit Werten. Zwecken und Normen zu tun. Ihr Gegenstand ist die »geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit«, deren Manifestationen wir »nachzuerleben und denkend zu erfassen« haben; sie untersuchen die Zweckzusammenhänge (Kultursysteme) und deren objektive Gestaltungen. Eine »Kritik der historischen Vernunft« tut not. Aufgabe der Geschichte ist nicht die Erforschung von Gesetzen, sondern die künstlerische Darstellung des Einmaligen in dessen Zusammenhange. Die Grundlage der Geisteswissenschaften ist die (nicht assoziationistisch-atomistische oder physiologische, sondern teleologische, beschreibend-analytische) Psychologie, welche die Gleichförmigkeiten in der Abfolge der seelischen Struktur beschreibt. Sie ist »die Darstellung der in jedem entwickelten menschlichen Seelenleben gleichförmig auftretenden Bestandteile und Zusammenhänge, wie sie in einem einzigen Zusammenhang verbunden sind, der nicht hinzugedacht oder erschlossen, sondern erlebt ist.« In der inneren Erfahrung sind auch die Vorgänge des Erwirkens, die Verbindungen der Funktionen gegeben. Der psychische Strukturzusammenhang, dessen Realität durch das Trennen, Unterscheiden usw. nicht aufgehoben wird, ist ein teleologischer (Auswahl der Eindrücke usw.). Eine »innere erlebbare Beziehung« verbindet die psychischen Vorgänge zu einer primären Einheit, die keine Summation psychischer Elemente ist. »Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir«.

Die Außenwelt ist uns nur als sinnlich vermitteltes Phänomen gegeben. Ein solches bleibt die Außenwelt für das bloße Vorstellen. Hingegen ist uns[130] in unserem ganzen wollend-fühlend vorstellenden Wesen die äußere Wirklichkeit gegeben, als Korrelat und Gegensatz zu unserem Ich, dem sie Widerstand leistet. Der Glaube an die Außenwelt ist zu erklären »nicht aus einem Denkzusammenhang, sondern aus einem in Trieb, Wille und Gefühl gegebenen Zusammenhang des Lebens, der dann durch Prozesse, die den Denkvorgängen äquivalent sind, vermittelt ist,« Indem trotz des erlebten Widerstandes der Willensimpuls fortwährt, fühlen wir uns gehemmt und fassen die Hemmung als Betätigung eines fremden Faktors, einer willensartigen Kraft auf. Die Objekte (Empfindungsverbände als permanente Ursachen von Wirkungen) erweisen in den von unserem Willen unabhängigen Gleichförmigkeiten des Wirkens (d.h. den Gesetzen) ihre selbständige Wirklichkeit.

SCHRIFTEN: Schleiermachers Leben, 1870. – Einleitung in die Geisteswissenschaften I, 1883. – Dichterische Einbildungskraft u. Wahnsinn, 1886. – Die Einbildungskraft des Dichters, 1887, – Das Erlebnis u. d. Dichtung, 2. A. 1910. – Beiträge zur Losung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an d. Realität d. Außenwelt, Sitzungsber. d. Preuß. Akad. d. Wissensch., 1890. – Das Schaffen des Dichters, Zeller-Festschrift, 1887. – Ideen über eine beschreibende u. zergliedernde Psychologie, Sitzungsber., 1894. – Beiträge zum Studium d. Individualität, Sitzungsber., 1896. – Studien zur Grundlegung d. Geisteswissensch., Sitzungsber., 1905. – Auffass. u. Analyse d. Menschen im 15. u. 16. Jahrh., Arch. f. Gesch. d. Philos, IV – V. – Das natürl. System d. Geisteswissensch. im 17. Jahrh., Arch. f. Gesch. d. Philos. V – VI. – Die Autonomie d. Denkens der konstruktive Rationalismus u. d. pantheist. Monismus im 17. Jahrh., Arch. f, Gesch. d. Philos., VII. – Der entwicklungsgeschichtl. Pantheismus, Archiv f. Gesch. d. Philos., XIII, 1900. – Das Wesen d. Philosophie, Kultur d. Gegenwart l, 6, 1907. – Die Jugendgeschichte Hegels, 1905, u. a.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 129-131.
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