Fouillée, Alfred

[186] Fouillée, Alfred, geb. 1838, war Prof. in Paris, lebt jetzt in Mentone.

F. ist der Hauptvertreter des französischen idealistischen Evolutionismus. Er stellt eine Synthese her zwischen dein Platonischen Ideenbegriff, dem Begriff der Kraft und der Aktivität und dem Evolutionsbegriff und vertritt so einen psychischen Monismus, eine psychistische Identitätslehre, nach welcher das Seelische das wahre Wiesen der Dinge, die Triebkraft des Geschehens, der innere, wahre Faktor der Entwicklung ist. Ausgegangen ist F. von dem Gedanken, daß die Idee der Freiheit sich selbst verwirklicht, uns durch das Streben nach ihrer Realisierung frei macht (Autodeterminismus). Er schließt, dann weiter, daß alle »Ideen« (Bewußtseinsinhalte als gefühlsbetonte, ein Streben einschließende Prozesse) dynamische Faktoren, »idées-forces«, Kraftideen (bezw. Ideenkräfte) sind. Nach dem »empirischen Monismus« (»monisme expérimental«) ist das Physische die objektive Seite dessen, was in seiner Unmittelbarkeit psychisch ist Der Gegensatz von Innen und Außen, Objekt und Subjekt fällt in das Bewußtsein selbst. »Der Unterschied zwischen unseren inneren Erfahrungen und den von uns objektivierten Erscheinungen, die wir äußere nennen, rührt von den verschiedenen Mitteln her, wodurch wir das eine Wirkliche mit seinen vielen Eigenschaften erfassen.« Je nach dem Gesichtspunkt ist alles für uns objektiv oder subjektiv. Da unsere Grundreaktionen die des Strebens und der Bewegung (d.h. des räumlich aufgefaßten Strebens) sind, so ist die Welt, auf die wir unser eigenes Sein projizieren, Streben und Bewegung, wobei das Streben das eigentlich Reale ist (Voluntarismus). Die Bewegung ist das Abstraktum und die Substitution innerer Veränderungen, die psychischer Art sind. In unserem Bewußtsein haben wir den Typus aller wahren Wirksamkeit. Jedes Streben in uns ist zugleich ein sensorisch-motorischer Prozeß, unmittelbar erlebte Kraft, Bewußtsein der Beziehung der Kraft zu anderen Kräften,[186] Kraft-Idee. Das Bewußtsein ist wahrhaft dynamisch, aktiv, kein »Epiphänomen«, kein bloßer Reflex. Die Kraft der Idee ist »das Bewußtsein der tätigen Wirklichkeit- selbst, die strebend und empfindend, also geistig ist«. Die Idee drückt eine Willensrichtung aus. Trieb, Streben, Wille sind die Motoren des Seelenlebens, auch des Denkens, dessen apriorische Formen (Kategorien) zugleich Willensformen sind. Die Seele ist die psychische Einheit des Organismus, steht also nicht mit einem von ihr verschiedenen Leibe in Wechselwirkung (Parallelismus).

Der Wille ist der Kern alles Seins und so sind die psychischen Prozesse insgesamt Strebungen (»appétitions«, »vouloir«). In jedem Bewußtseinsvorgange ist Streben, »impulsion volontaire«. Das Streben liegt allem Vorstellen, Denken und Erkennen zugrunde, es ist der Hauptfaktor aller geistigen Entwicklung, die auf einem Triebvorgang (»processus appétitif«) beruht. Das psychische Geschehen ist zielstrebig; denn der Wille ist »la tendance de l'être au plus grand bien-être, à la conservation et à l'expansion de la vie«. Der Wille ist die Einheit von Kausalität und Finalität (vgl. Lachelier u, a.). Auch die biologische Entwicklung beruht auf inneren Kräften, auf Strebungen. Ebenso wirken Ideenkräfte in der sozialen Entwicklung, wie man überhaupt das Universum als eine Gesellschaft betrachten kann. Die Gesellschaft ist ein Willensorganismus, der sich selbst verwirklicht, ein »organisme contractuel«, indem der Vertrag die »idée directrice« der höheren Gesellschaftsordnung wird. Das volle Eigenleben schließt das Leben für andere ein.

Der Kern der Sittlichkeit ist die Hingebung des Ichs an die Gesamtheit; Endzweck ist die Identifikation von Individuum und Gesamtheit. Die sittliche Idee verwirklicht sich selbst, indem sie in uns zu einem »persuasif« wird, uns so innig durchdringt, daß unser Handeln durch sie motiviert wird, ohne Zwang und ohne Eigennutz (vgl. Guyau).

SCHRIFTEN: La Philosophie de Platon, 1869; 2. éd. 1883. – La philosophie de Socrate, 1874. – Histoire de la philosophie, 1875; 6. éd. 1892. – La liberté et le déterminisme, 1872; 5. M. 1901. – Critique des systèmes de morale contemporaine, 1883; 4. ed. 1894. – L'idée moderne du droit, 1878; 2. ed. 1883. – La science sociale contemporaine, 1883; 2. ed. 1885. – L'avenir de la métaphysique, 1889; 2. ed. 1895. – La morale, l'art et la religion d'après Guyau, 1889. – L'évolutionnisme des idées-forces, 1890; deutsch 1908 (Hauptwerk). – La psychologie des idées-forces, 1893; 2. éd. 1896. – Le mouvement positive et la conception sociologique du monde, 1896; 2. éd. 1903. – Le mouvement idéaliste et la réaction contre la science positive, 1896; 2. ed. 1904. – Esquisse psychol. des peuples europ., 1902; 3. éd. 1903. – Temperaments et caractères, 1895. – Les éléments sociolog. de la morale, 1905. – Morale des idées-forces, 1908, – Le socialisme et la sociologie réformiste, 1909, u. a. – Vgl. S. PAWLICKI, F.s neue Theorie der Ideenkräfte, 1893. – D. PASMANIK, A. F.s psychischer Monismus, 1899.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 186-187.
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