Renouvier, Charles

[591] Renouvier, Charles, geb. 1. Januar 1818 in Montpellier, studierte Mathematik, Philosophie, Nationalökonomie, vertrat in verschiedenen Schriften (Manuel républicain de l'homme et du citoyen, 1848; Le gouvernement direct, 1851) demokratische Anschauungen und war wissenschaftlich-publizistisch tätig. Er starb 1. September 1903 in Prades.

R., einer der bedeutendsten französischen Denker des 19. Jahrhunderte, ist wesentlich von Kant, aber auch von Comte, Hamilton, Leibniz u. a. beeinflußt und vertritt (zuerst wenigstens) einen phänomenalistischen Neokritizismus, welcher kein Ding an sich, kein »Noumenon«, nur Vorstellungszusammenhänge, welche die Objekte selbst sind, anerkennt. Hierin und in verschiedenen anderen Punkten weicht R von Kant ab. Unsere Erkenntnis hat es nur mit Erscheinungen, mit Bewußtseinsinhalten zu tun; Objekt und Subjekt sind nur zwei Faktoren einer einheitlichen Wirklichkeit. Ferner nur mit Relationen, da ein Absolutes undenkbar ist. Der Gedanke des Absoluten und des Unendlichen als Vollendetes ist undurchführbar. Das mathematisch Unendliche bezieht sich nur auf das Mögliche, ist nur das Indefinite, nur eine Grenze. Ein realisiertes Unendliches ist ein Widerspruch. Nach dem »Gesetz der Quantität« ist alles als unterschieden eine bestimmte, endliche Zahl. Das Unendliche liegt nicht im Wirklichen, welches endlich ist; Raum und Zeit als indefinit teilbar sind daher nichts Wirkliches, Absolutes, nur Formen des Bewußtseins. In den Antinomien Kants ist jede Thesis richtig: Die Welt ist räumlich und zeitlich endlich und ist ihrem Ursprunge[591] nach nichts Notwendiges. Die Zeit läuft zwar unbestimmt weiter, aber es hat einen Anfang der Phänomene gegeben. Ebenso eine erste Ursache, ja man nimmt (wie R. zuerst lehrt) am besten mehrere schöpferische Ursachen göttlicher Art an, die vielleicht von einer obersten Kraft beherrscht werden (eine Art Polytheismus).

Das Seiende besteht nach R. aus gesetzmäßigen Relationen von (allgemeinen, intersubjektiven) Vorstellungsinhalten. Alle Dinge (Körper und Seelen) sind gesetzmäßige Reihen von Phänomenen, nicht einfache, absolute Wesenheiten. Die feste Bestimmtheit objektiver Erfahrung beruht auf apriorischen Denkformen, den Kategorien, deren R. neun Grundformen annimmt: Relation, Zahl, Lage, Sukzession, Qualität, Werden, Kausalität, Zweck, Persönlichkeit; Raum und Zeit sind Besonderungen der Kategorien der Lage und Sukzession. Zu jeder Kategorie gehört eine These, Antithese, Synthese (z.B. zur Relation: Unterscheidung, Gleichsetzung, Bestimmung; zur Zahl: Einheit, Mehrheit, Gesamtheit). Die Kategorien sind nicht aufeinander zurückführbar. Die oberste Kategorie ist die der Relation (- die Kategorien sind »différents modes de relation« –), wobei R. noch im besonderen statische und dynamische Relationen (bzw. Kategorien) unterscheidet. Alles Erfahrbare unterliegt den Kategorien, den allgemeinen Begriffen allgemeiner Beziehungen als Grundlagen der Vorstellung und des Denkens (»notions abstraites exprimant des rélations d'ordre général«). Jede Kategorie bedeutet eine gewisse Identität und eine bestimmte Differenz, deren Synthese sie ist.

Die Kausalität als Wirken hat ihr Vorbild in dem Verhältnis von Wille und Bewegung. Dieses Verhältnis übertragen wir auf die Objekte, welche so alle zu Kräften, strebenden Bewußtseinseinheiten werden, die durch eine Art »prästabilierte Harmonie« miteinander verbunden sind. Die »Persönlichkeit« im weitem Sinn ist eine auf alle Wesen sich erstreckende Kategorie, so daß R. den Personalismus vertritt. Dieser wird bei ihm später zu einer Monadologie, nach welcher die (aus Kraftatomen diskontinuierlich zusammengesetzte) Materie für sich selbst eine Summe von einfachen Substanzen ohne Teile, ohne Ausdehnung und Gestalt ist. Die Monaden haben ein Selbstbewußtsein, sind vorstellend und innerlich tätig, Prinzipien ihres eigenen Werdens. Es gibt »dienende« (monades servantes) und zentrale, herrschende Monaden. Seele ist das Gesetz der Persönlichkeit in der Form individueller Organisation.

Die Wirklichkeit ist eine werdende, sich selbst erzeugende Ordnung, in welcher Zwecke als Ziele des Strebens realisiert werden, so daß die Entwicklung zielstrebig ist. In der Welt der Phänomene selbst herrscht nach R (der hierin von Lequier beeinflußt ist) bei aller Gesetzlichkeit der Reihen des Geschehens Freiheit als Fähigkeit des Beginnens neuer Reihen. Verschiedene Möglichkeiten des Geschehens bestehen, die Wirkung ist in der Ursache noch nicht enthalten, die Zukunft ist durch die Vergangenheit und Gegenwart nicht streng determiniert (vgl. James). Die Freiheit erleben wir in unserem eigenen Wollen, Denken, Glauben. Wir und alle höheren Monaden können uns frei zum Handeln bestimmen, neue Folgen einleiten (»le pouvoir de donner des[592] commencements à des séries de phénomènes relativement et partiellement indépendants de leur propres états antécédents«). Die Freiheit bewährt sich durch die freie Tat selbst und ist ein ethisches Postulat. Im Willen motiviert sich die Vorstellung selbst durch freie Wahl. Der Wille selbst enthält das Moment der Zustimmung (consentement), er ist die Funktion der Fixierung oder Hemmung der Vorstellungen im Bewußtsein (»d'appeller ou de maintenir dans la conscience, ou d'éloigner de la conscience les idées de toute nature«). Aber auch in der Natur besteht ein gewisses Maß von Freiheit (contingence). Frei ist vor allem Gott, der Urgrund der Vorstellungen und Gesetze ihrer Verbindungen, in seinem Schaffen, welches durch die Idee des Guten und der Gerechtigkeit geleitet wird. Eine Unsterblichkeit ist im Sinne einer Weiterentwicklung der psychischen Kräfte in' neuen Organisationen, also als eine Art Metempsychose, anzunehmen. Die Menschheit hat schon in gewissem Sinne vor ihrer irdischen Daseinsform existiert. Die Welt wurde als vollkommener Organismus geschaffen, dessen Elemente freie Wesen waren. Durch ihren egoistischen Kampf miteinander erfolgte der Abfall von Gott und entstand das Übel, das Böse, gegen das nun die Freiheit des sittlichen Menschen sich wendet, um zur einstigen Solidarität und Einheit zu kommen und (vielleicht nicht mehr auf Erden) eine neue, vollkommene Menschheit zu erzeugen.

Die Ethik R.s ist idealistisch. Den kategorischen Imperativ biegt R. ins Soziale um, da er nach ihm nur in der Gemeinschaft zur Geltung kommt. Die Pflicht überhaupt ist etwas absolut Gültiges, ihr besonderer Inhalt aber sozial und historisch bedingt. Die sittlichen Begriffe sind rationale Formen, feste Normen des Handelns. Die Solidarität der Menschen ist eine Bedingung ihrer Personalität. In bezug auf den geschichtlichen Fortschritt denkt R. pessimistisch; jener findet nur partiell und nicht notwendig statt.

SCHRIFTEN: Manuel de philosophie moderne, 1842. – Manuel de philos. ancienne, 1844. – Essias de critique générale (Hauptwerk), 1854-1864; 2. éd. 1875-1896 (Bd. IV: Introduction à la philos. de l'histoire; die übrigen Bände enthalten die Logik und Erkenntnislehre, die Psychologie, die Naturphilosophie). – La science de la morale, 1869; 2. éd. 1908. – Uchronie, l'utopie dans l'histoire, 1896; 2. éd. 1901. – Esquisse d'une classification systématique des doctrines philosophiques, 1885-86. – La philos. analytique de l'histoire, 1896-97. – La nouvelle Monadologie (mit L. Prat), 1899. – Les dilemmes de la Métaphys. pure, 1900. – V. Hugo, le philosophe, 1900. – Histoire et solution des problèmes métaphys., 1901. – Le personnalisme, 1902. – Derniers entretiens, 1905. – Abhandlungen in der »Année philos.«: 1868 (L'infini), 1890, 1891, 1895 (Doute ou croyance), 1896, 1897 (De l'idée de Dieu), 1898 (Principe de relativité), 1899 (La personnalité). – Abhandlungen in der von R. (1872-89) herausgegebenen »Critique philosophique« unter dem Titel: Les labyrinthes de la métaphysique (1874-84). – Vgl. M. ASCHER, R., 1900 (Berner Stud. XXII). – JANSSENS, Le Néocriticisme de Ch. R., 1904. – SÉAILLES, La philos. de Ch. R., 1905.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 591-593.
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