Tarde, Gabriel

[737] Tarde, Gabriel, geb. 1843 in Sarlat, Richter, seit 1899 Prof. am Collège de France, gest. 1904 in Paris.

T. ist einer der bedeutendsten französischen Soziologen. Die Soziologie[737] gründet er auf die »intermentale« (intersubjektive, interpsychische) Psychologie, das soziale Leben ist seinem Wesen nach ein geistiges Geschehen oder durch solches bedingt. Es gibt keinen Gesamtgeist, sondern nur die Wechselwirkung individueller Geister. Die Grundfaktoren des sozialen Lebens sind Erfindung (invention) und Nachahmung (imitation). Die soziale Grundtatsache (»phénomène social élémentaire«) ist die von den »Erfindern« (genialen Persönlichkeiten) ausgehende Suggestion, vermöge deren die Massen jene nachahmen, wiederholen (»Nachahmungsstrahlen«, »Interferenz« solcher u. a.). Zuerst geht die Nachahmung einseitig von oben nach unten, innen nach außen, dann wild sie wechselseitig und geht auch nach oben (wirkt etwa auf die oberen Klassen zurück). Die Gesellschaft ist eine Vereinigung einander nachahmender Menschen, deren Motive in den Anschauungen, Überzeugungen (croyances) und Begehrungen, Wünschen (désirs) bestehen. Durch das Zusammenwirken von Erfindung und Nachahmung (»la société c'est l'imitation«) entstehen die sozialen Gebilde (z.B. die Sprache) und Werte. Die soziale Logik (»logique sociale«) ist dem Gesellschaftsleben immanent, bestimmt das sozial Zweckmäßige durch »teleologische Syllogismen« (logische Willensverknüpfungen, Konsequenzen aus Überzeugungen und Begehrungen) und »logische Zweikämpfe« (»duels logiques«), die schließlich alle zur sozialen Harmonie führen, sowie auch in der Natur die Wiederholungen (répetitions), Oppositionen (oppositions) und Anpassungen (adaptations) die Harmonie, das Gleichgewicht zum Endziel haben. Als Metaphysiker ist T. Monadolog (Annahme psychischer Wirklichkeitselemente mit dynamischen Beziehungen).

Schriften; La criminalité comparée, 1886. – Les lois de l'imitation, 1890; 5. éd. 1907. (Hauptwerk). – La philos. pénale, 1890. – Les transformations du droit, 1893 , 6. éd. 1909. – Logique sociale, 1894: 3. éd. 1904. – L'opposition universelle, 1897. – Etudes de psychol, sociale, 1898. – Les lois sociales, 1898; 5. éd. 1907; deutsch 1908. – Les transformations du pouvoir, 1902. – Psychologie économique, 1902. – L'opinion et la foule, 2. éd. 1904 – Fragments d'histoire future. – Essais et mélanges sociologiques, 1898. – Sur l'idée de l'organisme social, 1896. – Sociologie élémentaire, Ann. de l'Inst. intern, de Sociol. I., 1898. – Vgl. E. WROBLESKA, Arch. f. Gesch. der Philos. XI, 1896. – B. WORMS, Philos. des sciences sociales, 1904 f. – D. GUSTI, G. T., Schmollers Jahrb. 1898, S. 91 ff. – MATAGRIN, La psychol. sociale de T., 1909.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 737-738.
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